Literarischer Frühling

Ein literarischer Frühling, von Lukas Holliger
Ich sitze am Rhein und betrachte in der Strömung eine hin und her strudelnde Boje, die aussieht, wie der Kopf eines Menschen, der nie zu Wort kommt. Und plötzlich weht, versteckt im Frühlingswind, eine Bise Mundgeruch vorbei. Ich sehe mich um und korrigiere mich. Der Mundgeruch ist kein Mundgeruch, sondern strömt hartnäckig aus breiten Füssen in käsigfeuchten Socken direkt neben mir. Der Frühlingswind, der bis eben noch so wunderbar haltlos über den Strom uns allen gratis entgegenfiel, wie ein Schwarm ausgeruhter Seelen, ist gegen diese Käseflossen machtlos. Der Schweissgeruch erweist sich als widerstandsfähig und bringt es fertig, sich helikoptergleich im Gegenwind zu halten, ausgerechnet unter meinen gewaltigen Nüstern. Ein Sinneseindruck, der wie saurer Orangensaft Blähungen verursacht, im Kopf, sogar in den Augen, die man verdreht! Und während ich hier dieses grosse Leiden schildere, schwatzt der Besitzer der Pestflossen in monotonem Tonfall weiter von irgendwelchen Mietverträgen, die man ihm, angesichts seiner Füsse, allesamt kündigen sollte. Dem Gesichtsausdruck einer Taube, die an den Socken vorbeimarschiert, vermag ich nichts mehr hinzuzufügen. Demütig schliesse ich über der Spitze meines Filzstiftes den Deckel und sperre ein, was nach aussen drängt, während die Geruchsplage auf freien Füssen und in meinen Nasenhöhlen spazierengeht.
PS. Ist es Zufall, dass der Besitzer der Füsse eine geradezu stummelhafte Nase im Gesicht trägt, als habe der Körper jene Zone verkürzt, die mit den Füssen in ärgster Feindschaft liegen muss?

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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