Löwenzahn

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christianf

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Löwenzahn
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Der Nachtigallenweg ist eine wahre Zierde unseres Stadtteils - der Ansicht sind sicherlich auch meine Frau und meine beiden Töchter. Ein schmuckes Reihenhäuschen neben dem anderen, ein jedes mit einem gepflegten Vorgarten mit sorgfältig zweimal wöchentlich geschnittenen grünen Rasenteppichen, akkurat gestutzten Ziersträuchern und niedrigen Buchsbaumhecken zur Straße hin. Jedes Haus hat eine Pflanzschale rechts neben der Haustür, mal mit gelben, mal mit blauen und mal mit roten Stiefmütterchen. Sie sehen also, dass die Individualität in unserer Straße durchaus zu ihrem Recht kommt.

Leider muss ich eingestehen, dass sich seit einiger Zeit das Haus Numero 17 zu einem rechten Schandfleck in unserer Straße entwickelt hat. Seit der frühere Besitzer, der alte Herr Weber, mit seiner Frau ins Seniorenheim gezogen ist, blieb der Rasen ungemäht und verloren die früher sauber beschnittenen Sträucher und Hecken des Grundstücks nach und nach die ihnen einst zugewiesene Form.

Zunächst dachten wir, das Haus warte noch auf einen Käufer und forderten auch im Auftrag der Nachbarschaft Herrn Weber fernschriftlich dringend auf, in der Zwischenzeit einen Gärtner mit der Pflege seines Vorgartens zu betrauen. Nachdem Herr Weber nicht antwortete, richteten wir ein ähnlich lautendes Schreiben an seine Tochter, deren Briefanschrift meine Frau mithilfe des Telefonbuches nachgeschlagen hatte. Diese teilte uns daraufhin in einem Schreiben, das übrigens in einem recht ungezogenen Ton gehalten war, mit, dass ihre Eltern bereits kurz nach dem Umzug ins Seniorenheim verstorben seien und dass das Grundstück längst verkauft sei.

Wenn das Grundstück Numero 17 also einen neuen Besitzer hatte, wieso hatte er sich nicht in der Nachbarschaft vorgestellt, wie es sich gehört, und wieso ließ dieser dieses Grundstück dann in einem so empörenden Maße verkommen? Ich begann das Grundstück in jeder freien Minute zu beobachten, irgendwann musste sich der unbekannte Besitzer ja einmal zeigen. Bei genauerem Hinsehen wirkte das Haus nicht mehr völlig unbewohnt, tatsächlich sah man abends nun oft flackernde Lichter in den Räumen. Die Rollläden zu Straße hin waren dagegen fast immer geschlossen - wenn ich morgens das Haus auf dem Weg zur Arbeit verließ, waren sie jedenfalls noch unten.

Die Situation wurde immer unhaltbarer. Unkräuter begannen im Vorgarten des Nebenhauses zu sprießen und, schlimmer noch, sich auszusäen. Besonders verhasst waren mir dabei die flachen Blattrosetten des Löwenzahns, den Kinder in ihrer Arglosigkeit oft gerne \"Pusteblume\" nennen. Tatsächlicher drohte dieses Unkraut auf dem Wege des Samenfluges die ganze Nachbarschaft zu verseuchen. Schließlich beschloss ich, unseren unheimlichen Nachbarn zur Rede zu stellen.

Ich überprüfte also den Sitz des Jacketts, rückte meine Krawatte zurecht und verließ mein Haus entschlossenen Schrittes durch die Haustür. Am Türchen des Vorgartens des Hauses Numero 17 zögerte ich kurz, schließlich wollte ich gewissermaßen auf fremdes Territorium vordringen. Dann aber gab ich mir einen Ruck und öffnete entschlossen das Gartentörchen und trat mit wenigen raschen Schritten zu Haustür hin. Das Schild am Klingelknopf trug nicht mehr den Namen \"Weber\", vielmehr schien hier nun ein gewisser Herr Linus Wildkraut zu wohnen. Wildkraut..., woran erinnerte mich das nur? Entschlossen betätigte ich den Klingelknopf.

Ich wartetet 28 Sekunden, wie ich anhand meines Taschenchronometers überprüfte und wollte mich schon nach der vollendeten dreißigsten Sekunde zum Gehen wenden, als ich hinter der Tür Schritte hörte. Ich sammelte mich und ging noch einmal die Worte durch, die ich mir für diese Gelegenheit zurechtgelegt hatte.

Der Anblick des Mannes, der öffnete, ließ mich meine Worte aber zunächst vergessen. Ich hoffe, dass mein Erschrecken meinem Gesichtsausdruck nicht anzumerken war, aber niemals hätte ich einen derartigen Menschen in unserer Straße zu finden erwartet. Er war groß und breit, sehr groß und sehr breit. Er trug eine dieser Hosen - Jeanshosen heißen sie wohl - die einmal blau gewesen sein mochte. Darüber ein grünes Bekleidungsstück, das man eventuell als Kittel bezeichnen mochte. Haar und Bart waren lang, dunkel und mit einzelnen weißen Strähnen durchsetzt. Keine Krawatte! Aber einen Anstecker mit einem merkwürdigen stilisierten Pinguin.

\"Mein Name ist Genzlich, Gustav Genzlich mit \'e\'!\", sagte ich entschlossen. \"Ich bewohne mit meiner Familie das Haus nebenan!\"

\"Das ist aber nett, dass Sie mal vorbeischauen!\" sagte der Riese mit einem Schmunzeln. Ich wollte mich schon immer mal bei ihnen vorstellen, bin aber bisher nicht dazu gekommen. Die Arbeit – wissen sie!\"

Er wies mit dem Arm auf einen gewaltigen Schreibtisch im Nebenzimmer, auf dem das Flackern mehrerer Bildschirme zu erkennen war. Auf einem fiel mir wieder dieser eigenartige Pinguin auf!

\"Wollen sie eine Tasse Kräutertee?\", fragte er mich. \"Vielleicht kann ich auch noch ein Stück kalte Pizza auftreiben!\"

Allein die Vorstellung trieb mir bereits die Schweißperlen auf die Stirn!

\"Nein, danke!\" erwiderte ich. \"Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, dass sich Ihr Löwenzahn bereits in den anderen Vorgärten aussäht und Sie bitten ...\"

\"Aber das ist doch wunderbar!\", lachte er. Seine Stimme klang wie ein verhaltenes Donnergrollen, leise, dann immer lauter. Sein Schmunzeln wurde zu einem breiten Lachen.

\"Ich liebe Löwenzahn. Haben sie schon einmal Feld gesehen, auf dem der Löwenzahn blüht? Alles ist gelb. Alles ist gelb! Es ist wunderschön!\"

Der ganze Riese wackelte und bebte wie ein Baum im Sturm, als ihn eine ungeheure, geradezu olympische Heiterkeit schüttelte. Er lachte immer noch, als ich mich zur Flucht wandte.
 

shiva

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Kishon

Hallo Christian,

gefällt mir sehr gut (erinnert mich ein wenig an die Art, wie Kishon schreibt - war das beabsichtigt?).

Das "Glühwürmchen" schau ich mir jetzt auch mal genauer an, wie besprochen.

Beste Grüße
shiva
 

christianf

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Re: Kishon

Ursprünglich veröffentlicht von shiva
Hallo Christian,

gefällt mir sehr gut (erinnert mich ein wenig an die Art, wie Kishon schreibt - war das beabsichtigt?).

Nein - zumindest nicht bewusst. Ich habe zwar schon mal in einer Schreibübung einen Textanfang von Kishon im gleichen Stil weitergesponnen, aber hier ist die Ähnlichkeit wohl eher zufällig. Obwohl ..

.. zeitlich ist dieser Text einige Wochen nach der Kishon-Übung entstanden. Kann also durchaus sein, dass ich unbewusst beeinflusst war.

Grüße
Christian
 



 
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