London und Paris

None Back

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Im Haus war es totenstill, er hörte nur seinen eigenen Atem, der ihm stoßweise entkam. Seine Sneakers glitten lautlos über den Flur, während er die Treppe anvisierte.
Schon die erste Stufe war eine Katastrophe, denn die Tasche mit seinen wenigen Sachen und den 15 € knallte gegen das Geländer der Treppen - unbeabsichtigt. Er zuckte zusammen, blieb auf der Stelle stehen und lauschte in die Dunkelheit hinein.
Doch das Haus blieb weiterhin still; das knarrende Geräusch hatte niemanden geweckt.

So vorsichtig wie möglich folgte er darauf hin der Treppe, durchquerte die Küche, um durch die Hintertür hinaus zu schlüpfen.
Die Nacht war dunkel, die Luft kalt; er zog die Jacke enger um sich, schlug den Kragen hoch.
Mittlerweile waren die Straßen verlassen, nur vereinzelt schlenderten noch einige Personen daher, die er nicht richtig identifizieren konnte.
Die Tasche ruhte schwer auf seiner Schulter, als er sich endlich wieder in Bewegung setzte - auf dem Weg in fremde Städte.
Er steckte sich einen Hörer des Discmans ins Ohr, der andere baumelte locker herunter - Rock drang lautstark aus den kleinen Geräten.
Seine Augen suchten die Umgebung ab, immer und immer wieder, ab und zu zurückblickend. Vielleicht hatten seine Eltern ihn doch gehört, vielleicht folgten sie ihm.
Angst? Aufregung. Vorfreude auf das, was ihn in London erwarten würde.
Er legte seine Hand auf der dunklen Tasche ab und trommelte mit den Fingern dagegen, zusammen mit dem Takt der Musik.

Schon bald verließ ihn das Gefühl, verfolgt zu werden, verfolgt von seinen Eltern.
Die Tasche wurde von Minute zu Minute schwerer, so dass er sich eine kurze Pause gönnte und sich dem Gewicht entledigte, indem er seine Sachen auf dem kalten, nassen Boden abstellte.
Ein Zigarettenautomat fiel ihm ins Auge; er verschmachtete.
Er spürte regelrecht, wie seine Lungen sich in Sehnsucht an Tabak zusammenzogen. Seine Hand fuhr in die Jackentasche und suchte das Geld heraus - 3 €.
Es gab ein leises Klingen, als er das Geld in das vorgesehene Fach steckte und sich dann ein Päckchen West zog.
Hastig glitten seine Finger über das Plastik, das die Schachtel umgab, rissen es auf, um sich schließlich eine Kippe zwischen die Lippen zu stecken.
Seine Hand fuhr blitzartig an den Jackentaschen hinab, tastete, dann über die Hosentaschen. Nichts. Kein Feuerzeug.
Er fluchte innerlich.
Sein Blick glitt die Straße hinunter; in der Nähe gab es einen Kiosk, 24 Stunden am Tag geöffnet.
Wieder hievte er sich die schwere Tasche auf die Schulter, um sich voran zu schleppen, dem kleinen Laden an der Ecke entgegen.
Er trat in den Laden, forderte ein Feuerzeug und streckte dem Verkäufer sein Geld entgegen -1/3 davon war für Zigaretten verbraucht worden; doch er konnte nicht anders.
Wieder landete eine Kippe in seinem Mundwinkel, sein Finger fuhr über den Auslöser des Feuerzeugs und endlich glimmte der Stengel auf. Er nahm einen tiefen Zug.
Zufriedenheit und Erleichterung durchfluteten ihn, als der Rauch in seine Lungen gelangte.

Unschlüssigkeit und Überlegungen ? wohin?
Zum Bahnhof? Einen Bus nehmen? Trampen?
Irgendwas hinter ihm gab ein klapperndes Geräusch von sich; blitzartig wandte er sich um, ließ den Blick über die Umgebung schweifen.
Eine gewisse Beunruhigung beschlich ihn, die selbst nicht einmal die Droge in seiner Hand auslöschen konnte.
Die Kippe in seiner Hand glomm ihrem Ende entgegen; er warf sie darauf hin auf den Boden und trat sie aus.
Schatten wanderten über den Weg hinweg, hin und her tänzelnd, von den Laternen verursacht, die schwaches Licht spendeten.

Es ist niemand. Damit versuchte er sich selbst zu beruhigen.
Es gelang nur mäßig. Er öffnete seine Tasche und holte ein Brötchen raus, in das er genüsslich biss.
Erst als er es verzehrt hatte, nahm er seine Sachen wieder auf und folgte den Straßen, raus aus der Stadt.
Dann würde man weitersehen, irgendwie.
Eine genaue Vorstellung, wie er nach London kommen sollte hatte er nicht. Noch nicht.

Er schlenderte voran, als leichter Regen einsetzte.
Seine Stimmung sank in den Keller, völlig. Die Jacke ließ das Regenwasser durch, benässte seinen Pulli, seine Hose ? auch Gesicht und Haare wurden nicht verschont. Das letztere hing ihm strähnig und schwer durch die Nässe ins Gesicht.
Scheisse. Doch er wollte nicht umkehren.
Erst die nach langer Zeit erreichte Grenze der Stadt hob seine Stimmung minimal an.
Wieder legte er eine Pause ein, suchte sich wieder seine Kippen heraus um sich eine anzustecken.
Bald schon war der Boden voll von Filtern; und er stand grinsend da.
Er amüsierte sich über sich selbst, seinen Plan, nach London zu gelangen.
Wie, sollte er das schaffen?
Irgendwie.

Ein dunkles Auto hielt an der anderen Straßenseite, als die Sonne schon langsam aufging.
Es fiel ihm nicht ein.
Es fiel ihm erst ein, als ER ausstieg, gefolgt von IHR.
Sie hatten ihn ? und er wollte rennen.
Sein Alter war schneller, er hatte ihn in wenigen Momenten am Kragen gepackt, ihn geschüttelt und einfach nur geflucht.
Das war`s mit London, das war`s mit Paris.
Vorerst.
 
M

Miriam

Gast
Hallo None Back,

sehr gut und fluessig erzaehlt. Es ist mir allerdings nicht ganz klar, wieso der "Ausreisser" so frueh von seinen Eltern aufgegriffen wurde?
 

None Back

Mitglied
Durch das Krachen aufgeweckt, haben sie sein Verschwinden schnell bemerkt und sich darauf sofort auf den Weg gemacht.
Mag sein, dass es zu schnell ging, aber da er fast die ganze Nacht "verplempert" hat, um sich Zigaretten zu kaufen und Pausen zu machen, haben sie mit ihrem Auto schon die halbe Stadt abgefahren.
In der Nacht ausgerissen, haben sie ihn am nächsten Morgen immer noch in der Stadt vorgefunden.
Riesiges Glück für die Eltern, Unglück für den Jungen, dass er so schnell gefunden wurde.
Wäre er aber schon aus der Stadt raus gewesen in diesen Momenten, wäre es ihnen wahrscheinlich unmöglich gewesen, ihn je wieder zu finden, wenn er nicht von sich aus wieder zurückkommen würde.

MfG
 



 
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