Lucifer

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Nyxon

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LUCIFER

Seine Präsenz war unwiderruflich in ihren Sinnen festgeschrieben. Er war da und auch wieder nicht. Sein geistiger Schatten hing über ihr wie ein seidenes Bettlaken, das die Konturen unter sich in ihrer vollsten Form erahnen lässt. Ein Hauch von Nichts, was in seiner Intensität so durchdringend wirkt, wie ein schwerer Amboss in einer Schmiede.
Sie konnte ihn fühlen. Sein Atem kroch ihr in den Nacken, sie hörte, wie er leise zu ihr sprach, wie die Worte sie in eine Art Trance fallen ließen, die sie schwer und unbeweglich machte. Sie wollte verstehen, was er sagte, doch die Wellen der Trance waren zu fein, die Töne des Flüsterns zu leise, als dass sie eine klare Botschaft vernahm. Frust machte sich in ihr breit. Der Frust, ihn nicht verstehen zu können, ließ etwas in ihr wachsen. Der Wille zur Gegenwehr. Sie wollte ihm entkommen, seinen Pranken entwischen, ihm ins Gesicht lachen und sagen können, er solle sich zum Teufel scheren. Er sollte sie ansehen und erkennen, dass sie wohlmöglich die Einzige war, die er nicht einlullen konnte, die nicht nach- und sich ihm hingab. Sie wollte triumphieren und ihn vor den Kopf stoßen, ihm zeigen, dass seine Macht nicht unendlich war, dass selbst er in Grenzen lebte, die man nicht durch Manipulation durchbrechen konnte. Doch so sehr sie es sich wünschte, sich von ihm losreißen zu können, desto mehr nahm er von ihr Besitz, manipulierte sie so geschickt, dass sie es kaum zu merken vermochte.
Sie spürte einen kalten Schauer über ihren Rücken gleiten. Ein Impuls strömte durch ihre Nerven und bildete an den Endporen eine Gänsehaut aus. Und kaum hatte sich das Kribbeln durch den Körper geschüttelt, wechselte der kalte Schauer auf dem Rücken seine Polarität, verschwand kurz, und kehrte dann als brennende Absorption der Gefühle wieder. Ein kleines Flammenmeer tänzelte auf ihrer Haut, mal brennend heiß, mal angenehm warm, mal so kalt, dass sie zitterte. Wieder konnte sie seine Stimme als leises Flüstern des Windes vernehmen. Ihre Gegenwehr schwand den Bruchteil einer Sekunde und ohne diesen Panzer aus Unnahbarkeit konnte sie seine Worte hören: „Das Leben – ein Spiel ohne Verlierer. Lass dich drauf ein.“
Ihr fröstelte. Nicht aus Angst, nicht aus Panik, sondern aus Unbehagen. Normal war er nicht, doch sie fand keine passenden Worte, um ihn zu beschreiben. Er war einfach anders – unheimlich.
Eine plötzliche Berührung ließ sie aufschrecken. Sie blickte sich um, ihr Blick wanderte umher, versuchte eine feste Kontur auszumachen. Und noch während ihre Augen das Gesehene – die Leere – in Nervenimpulsen an das Gehirn leitete, wusste sie, dass er bei ihr war. Seine Präsenz schwebte im Raum wie ein leichter Nebel, der sich über ein Feld legte. Er umschmeichelte ihren Körper, ließ wieder den Schauer über ihren Rücken fahren.
Sie spürte seine Hände um ihren Hals. Sie schlossen sich um ihre Kehle, doch statt ängstlich zu werden, wusste sie genau, dass er ihr nichts antun würde. Er wollte sie nicht erdrosseln, nicht ihren Körper malträtieren und ihn besitzen. Er war an etwas Besserem interessiert. Er wollte ihre Seele erkunden, sie kennen lernen und sich der Ekstase des Wissens hingeben. Als hätte er ihre Gedanken – ihre Sicherheit – gespürt, ließ er von ihrer Kehle ab, strich mit den Fingerkuppen über ihren Hals, wanderte an den Schultern, dem kalt-warm-heißen Schauer folgend, den Rücken hinab. Sie zitterte leicht und wand sich unter seinen Berührungen, spürte seine Macht in einer Aura um sich herumflattern. Ein Duft, süßlich angenehm, schwappte in den Raum, betäubte ihre Sinne und ließ ihren Panzer schmelzen. Mit jedem Atemzug, mit dem sie mehr vom Duft aufnahm, ließ sie von ihrer Gegenwehr ab.
Sein Geist durchwanderte ihren Körper. Eindringend in jede Pore ihres Leibes, brachte er ihr Blut in Wallung, füllte es mit Atomen heißer, flüssiger Lava an, bis es in ihr brodelte und sie anfing zu schwitzen. Ihre Kleider wurden schwer von Feuchtigkeit, der Stoff transparent, bis man ihre glühende und bebende Haut sehen konnte. Geschüttelt von ihren Gefühlen, presste sie sich an eine Wand, um dem Feuer zu entgehen, das in ihr loderte und sie von innen heraus zu verbrennen drohte, passte sie – oder vielmehr er – nicht auf. Sein Geist wanderte umher. Er füllte sie aus, ließ in regelmäßigen Schüben seine Macht spüren, tauchte ihre Seele in ein Meer aus Rausch und trug sie auf Flügeln dem Himmel entgegen. Der kühle Wind streifte um ihre Rundungen, die Rundungen ihrer Seele, rein und vollkommen und noch so jung und unschuldig. Sie hatten die Welt noch nicht gesehen, noch nichts Wahres erlebt, womit sie sich brüsten konnten. Sie waren unerfahren, kannten nichts außer der Reinheit ihrer Behausung, den Schutz der Unschuld.
Er stieg mit dieser Behausung, mit dieser Unschuld von Seele immer höher; sie ließen die Wolken hinter sich, überquerten den Horizont und drangen in Tiefen des Kosmos ein, von denen sie zuvor nicht zu träumen gewagt hatte. Bunte Schlieren der Existenz hüllten sie in einen Schleicher, wabernd im Wind des Lebens, der kühl und unnachgiebig ihre Glieder umschmeichelte. Er war nicht unangenehm kalt, doch er erinnerte sie an etwas. Der angenehm kühle Wind des Lebens erinnerte sie an Ihn. Eine unheimliche Kühle, die sich um einen schloss, einen im Strudel tanzen ließ und sich in allen Ecken der Existenz einnistete. Wie ein Blitz schoss sein Geist aus ihrem Körper, aus ihrer Seele. Für einen kurzen Moment schien sie zu fallen, schwer geworden, jetzt wo sein beflügeltes Sein sie nicht mehr anhob. Doch noch bevor sie zu fallen drohte, war er um sie herum. Seine Macht umfasste ihre Hüften mit einer Kraft, die sie erschreckte. Mit ihr in den Armen flog er wieder höher, immer weiter hinaus in den Kosmos. Der Wind des Lebens nahm an Intensität ab, verließ sie so schleichend wie er gekommen war. Einzig die Schlieren der Existenz hüllten sie weiter ein, wie eine warme Decke.
So umhüllt und sicher von ihm gehalten, erreichte sie den höchsten Punkt des Kosmos, die Spitze des Seins. Wie kleine Diener, die keinen weiteren Schritt mehr in die heiligen Hallen der Macht machen durften, um nicht zu missfallen, zogen sich die Schlieren zurück. Statt ihrer rollte eine Welle von Licht auf sie zu, blendete sie. Sie schloss ihre Augen, um dem grellen Schein zu entgehen, doch kaum ließ sie ihre Lider hinabsinken, hörte sie sein Flüstern in ihren Ohren. Den ganzen Weg über hatte er nicht zu ihr gesprochen, sie nur getragen, ihre Seele beflügelt, dass sie sich vom Körper loslösen konnte, um diesen Ort hier zu erreichen. Er schien jetzt, nachdem sie die Grenzen der Menschlichkeit überschritten hatten und in die Gefilde des wahren Seins eingedrungen waren, lauter, seiner Macht noch sicherer als zuvor, sein Geist überragte ihren um Längen.
„Verschließe nicht deinen Blick vor dem Glanz! Wer das Leben sehen will, muss auch die mögliche Blendung der Macht ertragen!“
Und weil sie das Leben und alles damit Verbundene sehen wollte, machte sie ihre Augen wieder auf und blickte in das gleißend helle Licht vor ihr. Es setzte in einer letzten Wellenbewegung auf und verharrte einen Augenblick in völliger Ruhe. Sie starrte, das Licht starrte und plötzlich schossen Strahlen aus dem Lichtgebilde heraus, einen goldenen Schweif sich nachziehend. Die Strahlen tanzten um sie herum, berührten sie an Stellen ihres Körpers, die sie schon lange nicht mehr spürte. Die Schweife bildeten einen Mantel um sie herum, der glitzerte und in allen erdenklichen und unerdenklichen Farben auf sie niederprasselte. Ein Lichtstrahl sonderte sich von den anderen ab, bezog direkt vor ihren Augen Stellung und verfestigte sich zu einer menschenähnlichen Gestalt. Gesicht, Körper, Glieder – dies alles war von zauberhaft schöner Kontinuität. Je mehr sich die Konturen abzeichneten, desto verzückter war sie von dessen Anblick. Goldenes Haar fiel über die Schultern, die von einem Gewand aus Seide bedeckt waren. Das Gesicht, fein und lächelnd, blau-graue Augen bildeten das Zentrum dieses wundersamen Bildes. Zarte Glieder wölbten sich unter dem Gewand, das golden strahlte. Die Gestalt lächelte sanft und plötzlich spieen Flammen aus ihrem Haupt.
In wenigen Augenblicken verwandelte sich das engelsgleiche Abbild in eine Chimäre aus Flammen und Nebel. Die Haare loderten rot auf, das Seidengewand brannte sich in die Haut ein und war verschwunden, bevor sie sich in Entsetzen äußern konnte. Übrig blieb eine nackte Flammengestalt, schweißnass und triefend. Sie bewegte sich auf ihre Beobachterin zu, ließ ihre Hände über ihre körperlose Seele gleiten und ohne, dass sie sich dagegen wehren konnte, tauchte die Gestalt in sie ein, brannte sie aus.
Es tat nicht weh, sie spürte nur ein leichtes Kribbeln in ihrem Inneren, das von den Flammen ausgefüllt wurde. So stand sie da, unbewegt und von den Flammen umhüllt, die immer wieder in sie drangen und dort kribbelten. Und als sie sich schon fast in der Tiefe der eigenen Seele verlor, sich der Ekstase der Erkenntnis hingab, annähernd in der Kraft des ultimativen Seins unterzugehen drohte, erst da hörte sie wieder seine Stimme. Er sagte etwas, was sie nicht verstand, zu laut war der Sog, in den sie sich begab. Doch er musste eine Wirkung freigesetzt haben, die sich nun auch in ihr und an ihrer Umgebung zeigte. Die Flammen ließen von ihr, traten aus ihr heraus, tanzten ein letztes Mal um sie herum, bevor sie sich im eigenen Nebel auflösten. Sie sah noch, wie das Licht in sich zusammenfiel und verschwand – dann fiel sie.
Diesmal war er nicht da, um sie zu halten, ihr Mut und Kraft zu geben, sie aufzufangen. Diesmal war sie allein. Sie fiel und fiel, der Kosmos sauste an ihr vorbei wie ein Schwarm Vögel. Die Schlieren der Existenz waren hart und verletzend als sie durch ihren Mantel fiel, Wunden wurden in die feine Haut ihrer Seele geschlagen, Blut strömte heraus. Der Wind des Lebens stürzte auf sie zu, wie ein Schwarm hungriger Moskitos, labte sich an ihrem Blut und ließ sie dann ungehindert weiterfallen. Als sie auf der Erde auftraf, malträtiert und von den Mächten geschunden, blind vom hellen Glanz des Lebens und gebrochen von der Wucht der sinnigen Kraft, in ihren Körper zurückkehrend, fühlte sie sich wie gefangen. Sie begann zu weinen und warf sich auf den Boden hin und her, betete zu ihrem Gott und bat um Vergebung, doch die Fesseln wurden nicht gelockert.
Besudelt mit ihren eigenen Flüssigkeiten, schwach von ihrem Fall und besiegt von ihrer eigenen Gegenwehr, spürte sie wieder seine Gegenwart. Er war um sie herum, hüllte sie in einen Schleier warmer Zufriedenheit. Und während sie weinend dalag, konnte sie seine Stimme hören. Klar und rein schwebte sie im Raum:
„Siehst du jetzt, wie trügerisch das Leben ist? Wie gefährlich die Erkenntnis und wie begrenzt das menschliche Sein? Verstehst du jetzt, wie befreiend ein Flug in höhere Sphären ist? Die Grenzen hinter sich lassen, die einem den Blick auf die Wahrheit versperren, das Leben so zu sehen, wie es tatsächlich ist. Das sollte unsere Bestimmung sein! Nicht zu leben, sondern sich vom Leben zu befreien, um das Sein in seiner wahren Pracht zu entdecken, sich darin zu suhlen und sich der reinigenden Ekstase hinzugeben, die unsere Seele von den Lügen befreit. Es geht um Erkennen und nicht um Leben! Denkst du, ein wahrer Gott wäre gegen diese Symbiose zweier kraftvoller Mächte? Gegen die Symbiose von Sein und Erkennen? Fühlst du nicht den gemeinsamen Willen, dessen Aura uns umgibt? Nein? Dann bist du mir unheimlicher, als ich dir...“
 



 
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