Luckassen

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Alessa

Mitglied
Luckassen


Ich stelle das Telefonbuch senkrecht auf den Schreibtisch, nehme den Brieföffner, halte ihn wie einen Dolch über die Seiten und steche zu. An der getroffenen Stelle öffne ich das Buch: Lore bis Lotu und auf der rechten Seite steht Lotz bis Ludw.
Der Würfel wird über links oder rechts entscheiden. Eine gerade Zahl steht für links, eine ungerade für rechts. Ich würfle eine Drei. Nun stelle ich den Küchenwecker auf dreißig Sekunden, drehe meinen Kopf zur Seite, damit mein Finger unbeeinflusst über die rechte Seite fahren kann. Ich habe mir angewöhnt, mit dem Finger eine Spirale zu zeichnen, von außen nach innen, vom Großen zum Kleinen.
Rrrrrrrrr. Stopp. Mein Finger bleibt bei Joachim Luckassen stehen. Was für ein Glück, was für ein gutes Zeichen, auf Anhieb einen Mann erwischt zu haben.

Eine stämmige Rothaarige öffnet die Wohnungstür. "Ja?"
"Hi", sage ich und lege eine große Portion Begeisterung in meine Stimme. "Jutta? Du musst Jutta sein. Ich bin's, Melanie."
"Hä? Welche Jutta? Hier wohnt keine Jutta."
"Ach? Dann wohnt die hier nicht mehr? Die war aber doch mit Joachim befreundet."
Sie öffnet ihren Mund, ich sehe den Kaugummi auf ihrer Zunge liegen und wette mit mir selbst, dass sie ihn innerhalb der nächsten Minute verschlucken wird.
"Du, ich wollte dich nicht stören oder belästigen. Ich finde schon noch heraus, wo Jutta jetzt wohnt. Schönen Tag noch." Ich lächle sie an und tue so, als wollte ich gehen.
"He, wart mal, nicht so schnell. Also diese Jutta …"
"Ja?"
"Die war mit dem Joachim zusammen? So richtig?" Mit der Frage geht sie einen Schritt auf mich zu.
"Hm." Ich gehe aufs Ganze und nicke. "Sie war auch rothaarig und war seine … seine große Liebe."
Die Rothaarige verschluckt sich am Kaugummi. Ein Hustenanfall will das Ding wieder in ihren Mund befördern. Ich gebe ihr einen vorsichtigen Klaps auf den Rücken. Als der nicht hilft, schlage ich kräftig zu. Das Geräusch verliert sich als Echo im Treppenhaus. Ich mag dieses Geräusch. Und ich liebe es, wenn ich gewinne.
"Tut mir Leid", sage ich, "geht es jetzt besser?"
Sie legt ihren Kopf schief, ihre blauen Augen auf die Wand gerichtet, als stünde dort die Antwort.
"Also ich muss jetzt gehen, entschuldige noch mal die Störung."
"Nein, nein … warte, wenn du vielleicht etwas Zeit hättest, vielleicht auf einen Kaffee?"
"Also ich will dich wirklich nicht aufhalten, oder Joachim. Ist er eigentlich zu Hause?"
"Joachim? Nein, nein, der ist auf Montage, der kommt erst Freitag wieder. Komm doch rein."
"Mir ist das aber unangenehm, so einfach bei dir reinzuplatzen."
"Nun komm schon", sagt sie und zieht mich in die Wohnung.

Die Küche gleicht einem Sammellager für Essensreste aller Art. Wir sitzen an einem kleinen, runden Tisch ohne Tischdecke. Wie unter Zwang starre ich die Krümel und Essensbrocken an, die die Rothaarige nicht zu stören scheinen.
Auf einer Arbeitsplatte spuckt die Kaffeemaschine röchelnd Wasserdampf aus.
Die Rothaarige stellt zwei Becher auf den Tisch: "Ich heiße übrigens Dagmar. Milch? Zucker?"
"Danke, ich trinke ihn schwarz."
"Sag mal, blöde Frage ich weiß, aber warum ziehst du die Handschuhe nicht aus?"
Mir war klar, dass die Frage kommen musste. "Psoriasis."
"Was für ein Ding?"
"Schuppenflechte. Im Winter ist das besonders schlimm. Keine Angst, das ist nicht ansteckend, nur, nun ja, mir ist das peinlich, wenn man auf meine fleckige Haut schaut."
"Ach so. Also mich stört das nicht."
"Lieb von dir, aber ich fühle mich wohler, wenn ich die Handschuhe anbehalten kann."
"Kein Problem. Melanie? War doch richtig, dein Name?"
Ich nicke.
"Also wegen Joachim und Jutta …" Nervös nippt Dagmar an ihrem Kaffee. "Wie lange ist das her, dass du beide zusammen gesehen hast?"
"Schon eine Weile, ich schätze mal drei, vier Jahre."
"Was?" Sie stellt ihren Becher brutal ab und schon war der Tischdreck in flüssiger Gesellschaft. "Ich bin seit vier Jahren mit ihm zusammen!"
"Vielleicht habe ich mich auch verschätzt und es ist fünf Jahre her."
"Nein!", ruft Dagmar und steht auf. "Nein! Ich wusste es, dieser Scheißkerl betrügt mich."
"O Gott, was habe ich getan? Beruhige dich, Dagmar. Vielleicht ist das alles nur ein Missverständnis." Ich unterdrücke ein Grinsen. Ach, ich liebe es, wenn ich gewinne.
"Niemals! Meinst du mir wäre nicht aufgefallen, dass Joachim in letzter Zeit sehr oft auf Montage ist? Und immer zu müde ist für Sex?"
Ich unterbreche Dagmar nicht, lasse sie hin und her laufen.
"Und weißt du, was mir noch auffiel?"
Ich schüttle meinen Kopf.
"Er bringt immer weniger Geld nach Hause. Sagte, dass die Firma nicht mehr so viel zahlt. Ja, ja, von wegen. Wahrscheinlich macht er seiner Jutta teure Geschenke und ich darf hier seinen Dreck wegmachen." Ihr Gesicht ist rot vor Zorn.
"Vielleicht sind sie ja nicht mehr zusammen."
Dagmar hält inne, kaut an ihren Fingernägeln und sieht mich an. "Meinst du? Also gestern, als er mich anrief, sagte er noch wie sehr er mich liebt." Hoffnung macht ihre Augen glänzend.
"Wenn er das gesagt hat …"
"Aber das könnte auch gelogen sein. Schließlich hat er mir auch nie von einer Jutta erzählt."
"So sind die Männer. Niemals erzählen sie einem von ihrer großen Liebe."
Das saß. Dagmar ist sprachlos, aber hinter ihrer Stirn arbeitet es. Sie geht zum Kühlschrank und angelt zwei Bierdosen heraus, eine stellt sie neben meinem Kaffeebecher ab. "Ist ja schon kalter Kaffee, magst'n Bier?"
Ich sehe zum Fenster, höre wie Dagmar ihre Dose öffnet und mit lauten Schlucken trinkt. Vor meinem geistigen Auge stelle ich mir vor, wie das Bier ihre Speiseröhre hinunter rinnt.
"Scheißkerlscheißkerlscheißkerl!"
Ich schiebe ihr meine Dose hin. "Ich darf nicht, du weißt schon, wegen der Schuppenflechte."
"Was soll ich tun? Was würdest du an meiner Stelle tun?"
"Frag ihn! Frag Joachim, ob er Jutta kennt. Wenn er das abstreitet, weißt du Bescheid."
Ihr Gesicht verzieht sich, ihre Unterlippe zittert. Plötzlich fängt sie an zu heulen. "Als ob er das zugeben würde. Jetzt ist alles aus. Vorbei."
"Sieh nicht alles so Schwarz, noch ist nicht alles verloren." Ich tätschle ihren Arm, peinlich darauf bedacht, den Tischdreck nicht zu berühren.
"Weißt du was, Melanie? Ich bin so froh, dass du da bist. Ich würde es nicht aushalten, jetzt allein zu sein." Dankbar sieht sie mich aus verquollenen Augen an.
"Mir tut es so Leid, ehrlich. Wenn ich gewusst hätte … Ich meine, ich hätte niemals nach Jutta gefragt."
"Es ist gut so. Endlich weiß ich Bescheid. Ich sollte dir dankbar sein."
"Schon gut, Dagmar."
Sie wischt mit ihrem Arm über die Nase, den Tränen lässt sie aber freien Lauf. "Ich werde seine Sachen packen und ihm die Tasche vor die Tür stellen."
Und ich schärfe mir ein, ihren linken Arm nicht mehr anzufassen. "Dagmar, vielleicht solltest du ihm noch eine Chance geben. Er muss sich doch verteidigen dürfen."
"Damit er mich weiterhin anlügt?", schreit sie und spuckt mir dabei Bierspeichel ins Gesicht. "Schluss! Mit der Lügerei ist nun Schluss! Ich lasse mir das nicht mehr gefallen. Ich bin doch nicht die Blöde vom Dienst!"
"Gut so. Lass dir nichts gefallen", gebe ich ihr Recht, "aber, du solltest ihm noch eine Nachricht schreiben."
Wieder arbeitet es hinter Dagmars Stirn, die Gedanken scheinen sie anzutreiben, sie weiß nicht mehr wohin mit ihren Händen. Ich drücke ihr meine volle Bierdose hinein.

Auf dem Tisch stehen zehn leere Dosen und eine halb geleerte Flasche Martini. Die Dosen türme ich zu einer Pyramide. Vier Dosen bilden die Basis, drei bilden das erste Stockwerk, zwei das zweite und die letzte ist die Spitze.
Dagmar findet das lustig, ihr Lachen hört sich wie Schulmädchengackern an. "Du bist echt in Ordnung. Weißt du was, warum schläfst du heute Nacht nicht hier?"
"Ja, warum nicht." Ohne hinzusehen, stoße ich die Pyramidenspitze mit dem Zeigefinger an, sie fällt auf den Boden und rollt weiter. Ich wette mit mir, dass die Barcode-Striche zu sehen sind, dann zähle ich bis zehn und sehe hin: Barcode.
"Du solltest jetzt den Brief schreiben", sage ich.
"Hihi." Torkelnd steht Dagmar auf, hält sich am Tischrand fest, und ich ärgere mich darüber, dass die Pyramide wackelt. Eine Dose kippt um und rollt bis zum Tischrand.
"Hier irgendwo - muss doch Papier sein", lallt Dagmar.
"Ich hole mir auch ein Glas", sage ich.
Zwei Martinis später schiebt mir Dagmar den Zettel hin:
Schwein!
Ich weiß alles von dir und Jutta. Scheißkerl! Wie konntest du mich nur so hintergehen?
Es ist aus! Ende. Für immer!


"Sehr gut", sage ich, "du solltest unten noch unterschreiben, das sieht besser aus. Und vergiss das Datum nicht."
Während Dagmar alle Konzentration auf ihre Schreibfinger legt, gehe ich in ihr Badezimmer und durchsuche es nach Schlaftabletten. Auch hier gewinne ich. Den Preis kippe ich in mein unberührtes Martini-Glas. Das Gemisch rühre ich mit einer Zahnbürste um. Dann lasse ich zum Schein das Wasser laufen und sehe in den Spiegel. Eine blonde Strähne lugt unter der braunen Haarpracht hervor, ich verstecke sie wieder.
"Ich muss mal."
"Ich bin fertig", rufe ich und mache Platz für Dagmar.
Ich warte bis sie die Tür hinter mir schließt, gehe in die Küche und tausche die Gläser aus. Ein Blick auf meine Armbanduhr. Nicht schlecht, es ist kurz vor 21:00 Uhr. Eine ungerade Zahl.
"Mann bin ich blau", kichert Dagmar beim Hereinkommen.
"Setz dich", sage ich und lächle sie an.
"Du bist meine beste Freundin. Meine allerallerbeste", nuschelt sie und ihre Finger umklammern das Martini-Glas.
"Ja, du auch."
Glücklich stürzt sie den Martini hinunter. Ich muss nur noch warten, und während ich warte, nehme ich das Geschirrhandtuch, das über der Heizung liegt. Mit dem Tuch ergreife ich die Dose vom Tischrand und drücke sie in der Mitte zusammen, knicke sie, bis sich an den Seiten scharfe Kanten bilden.
Als Dagmars "Hihi" in ein Schnarchen übergeht, stupse ich sie an. Keine Reaktion.
Ich schiebe den Ärmel ihres rechten Arms hoch und setze die Dose auf die Innenseite ihres Handgelenks. Ich achte darauf, dass das Tuch ihren Arm bedeckt.
Mit der scharfen Kante schneide ich ihre Pulsadern auf, dann drücke ich die Dose in ihre andere Hand.

Im Treppenhaus zähle ich die Stufen auf dem Weg nach unten, als bei vierundzwanzig plötzlich eine Tür aufgeht. Gerade. Das war nicht so gut.
"Hallo? Frollein!"
"Ja, bitte?"
"Was war denn da oben los, bei Luckassens?" Die alte Frau sieht mich neugierig an.
Ich lese ihren Namen von der Klingel ab. Elisabeth Schröder.
"Sind Sie Frau Schröder? Frau Elisabeth Schröder?"
Irritiert sieht sie mich an. "Ja, die bin ich."
"Na welch ein Glück, zu Ihnen wollte ich gerade."
"Ja aber warum denn?"
"Ich bin Privatermittlerin, ich muss Sie dringend wegen Herrn Joachim Luckassen vernehmen."
 

Hagen

Mitglied
Luckarssen

Hallo Alessandra,

Deine Geschichte habe ich gerne gelesen. Endlich mal eine Story aus der Sicht eines ‚Bösen‘ geschrieben. Das ist ja wie im richtigen Leben.
Allerdinge – dass die Protagonistin aus purer Freude am Moden handelte, oder irre ich mich da?, kommt m.E. nicht genügend raus.
Ebenso, dass die Protagonistin bei ihrer Aktion einen derartigen Radau gemacht hat, dass die Nachbarn hellhörig wurden.
Trotzdem, eine runde Story, die hoffen lässt, dass Weiteres dieses Genres von der Autorin demnächst auf der LL zu lesen sein wird.

Viele liebe Grüße
yours Hagen


________________
Wenn einem das Wasser bis zum Halse steht, dann soll man den Kopf nicht hängen lassen.
 

Alessa

Mitglied
Hallo Hagen,

danke fürs Lesen und Kommentieren (und Bewerten), hat mich gefreut.

Ich möchte gern auf die beiden Punkte eingehen, aber ohne deswegen den Eindruck zu machen, als wolle ich mich gegen Textarbeit wehren. Ich arbeite sehr gerne an meinen Texten, kommt aber individuell darauf an ...

Allerdinge – dass die Protagonistin aus purer Freude am Moden handelte, oder irre ich mich da?, kommt m.E. nicht genügend raus.
Schon zu Anfang der Geschichte "würfelt" sie mit dem Zufall. Sie sticht zufällig auf irgendeinen Namen im Telefonbuch. Sie wettet mit sich selbst, das wird auch öfter erwähnt. Nirgendwo kommt eine Textstelle vor, dass sie aus purer Freude handelt.
Sie zählt die Stufen. Und ihr anderes komisches Verhalten deuten wohl eher auf einer psychische Störung hin.
Von daher würde ich sagen: Du irrst leider. :)

Ebenso, dass die Protagonistin bei ihrer Aktion einen derartigen Radau gemacht hat, dass die Nachbarn hellhörig wurden.
Muss sie doch gar nicht. Es muss gar kein großer Radau passieren. Da ist einfach dieses Klischee einer typischen alten Dame, die genug hinter ihrer Wohnungstür mitbekommt. Die lauert, wer da ein- und ausgeht. Die einfach mitbekommt, dass da eine fremde Frau bei Luckassen reinging. Siehe am Anfang des Textes, die Unterhaltung im Treppenflur. Das bekommst Du als Rentnerin/alte Dame/"wie auch immer" mit, wenn Du das mitbekommen WILLST. Und wenn Du dann die ganze Zeit hinter Deiner Tür lauerst und darauf wartest, dass die fremde Frau wieder hinunter geht und dann passt Du diese Frau unter einem Vorwand einfach ab.
Außerdem ist zuvor eine Dose der Dosenpyramide umgefallen, auf den Boden gelandet, das hört man sicherlich auch eine Etage tiefer, wenn man sowieso die ganze Zeit die Ohren wie ein Luchs spitzt.
Dass die Dame neugierig ist, steht da ja auch und wenn sie die Fremde einfach anquatscht, kann man schon davon ausgehen, dass sie zu der Sorte "hellhörigen, sich einmischenden, neugierigen Nachbarn" gehört.

Trotzdem, eine runde Story, die hoffen lässt, dass Weiteres dieses Genres von der Autorin demnächst auf der LL zu lesen sein wird.
Ja gerne, ganz bestimmt. :)


Liebe Grüße
Alessa
 

Alessa

Mitglied
Haha

:) Ich vergesse immer die Hälfte, wenn ich eilig bin.

Nachtrag:
Was ich gerade geschrieben habe, bedeutet nicht, dass ich Recht haben muss. Ich kann auch falsch liegen, als Autor hat man ja "seinen eigenen" Blick auf die Geschichte.

Wenn mehrere Leser mir das gleiche rückmelden würden wie Hagen, dann ist Textarbeit ein Muss (denke ich).

Schönen Tag allen.

LG
Alessa
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Ich finde die Erklärungen glaubhaft. Außer: Leere Aludosen fallen (! – beim Werfen ist das was anderes) wohl eher leise, die hört man kaum durch Wände durch; vielleicht wirft Dagmar ja vor Wut Joachims Zeug durch die Gegend.

Ist Aludosenblech so stabil, dass man damit Pulsadern aufschneiden kann?

Die Leerzeile nach dem Brief ergibt mich für mich keinen Sinn.

Das Beste zum Schluss: Klasse erzählt!
 

Alessa

Mitglied
Hallo jon,

danke für die Bewertung und Kommentare und das dicke Lob am Ende.

Leerzeile - stimmt, die kann weg.

Dagmar wirft vor Wut Joachims Zeug durch die Gegend = find ich gut, hab ich jetzt mal - auf die Schnelle - so eingebaut:
"Ich muss mal."
"Ich bin fertig", rufe ich und mache Platz für Dagmar.
Ich warte bis sie die Tür hinter mir schließt, gehe in die Küche und tausche die Gläser aus.
[blue]Rumms. Polter. Schepper. Aha, Dagmar hat ihre Wut im Badezimmer rausgelassen. Dann höre ich Dagmar fluchen und muss darüber laut lachen.[/blue]
Ein Blick auf meine Armbanduhr. Nicht schlecht, es ist kurz vor 21:00 Uhr. Eine ungerade Zahl.
"Mann bin ich blau", kichert Dagmar beim Hereinkommen.
Wenn mir etwas Besseres einfällt, dann ändere ich das nochmal.

Ist Aludosenblech so stabil, dass man damit Pulsadern aufschneiden kann?
Jooooa. :) Ich habe gerade eine Dose verbogen und fotografiert. Kann man die scharfe Kante gut erkennen? Die ist total total scharf, also ich habe da Respekt vor. Foto auf meine Webseite hochgeladen: http://alessandra-mancinelli.de/img/luckassen.gif

Danke nochmal und
liebe Grüße
Alessa
 

Alessa

Mitglied
Luckassen


Ich stelle das Telefonbuch senkrecht auf den Schreibtisch, nehme den Brieföffner, halte ihn wie einen Dolch über die Seiten und steche zu. An der getroffenen Stelle öffne ich das Buch: Lore bis Lotu und auf der rechten Seite steht Lotz bis Ludw.
Der Würfel wird über links oder rechts entscheiden. Eine gerade Zahl steht für links, eine ungerade für rechts. Ich würfle eine Drei. Nun stelle ich den Küchenwecker auf dreißig Sekunden, drehe meinen Kopf zur Seite, damit mein Finger unbeeinflusst über die rechte Seite fahren kann. Ich habe mir angewöhnt, mit dem Finger eine Spirale zu zeichnen, von außen nach innen, vom Großen zum Kleinen.
Rrrrrrrrr. Stopp. Mein Finger bleibt bei Joachim Luckassen stehen. Was für ein Glück, was für ein gutes Zeichen, auf Anhieb einen Mann erwischt zu haben.

Eine stämmige Rothaarige öffnet die Wohnungstür. "Ja?"
"Hi", sage ich und lege eine große Portion Begeisterung in meine Stimme. "Jutta? Du musst Jutta sein. Ich bin's, Melanie."
"Hä? Welche Jutta? Hier wohnt keine Jutta."
"Ach? Dann wohnt die hier nicht mehr? Die war aber doch mit Joachim befreundet."
Sie öffnet ihren Mund, ich sehe den Kaugummi auf ihrer Zunge liegen und wette mit mir selbst, dass sie ihn innerhalb der nächsten Minute verschlucken wird.
"Du, ich wollte dich nicht stören oder belästigen. Ich finde schon noch heraus, wo Jutta jetzt wohnt. Schönen Tag noch." Ich lächle sie an und tue so, als wollte ich gehen.
"He, wart mal, nicht so schnell. Also diese Jutta …"
"Ja?"
"Die war mit dem Joachim zusammen? So richtig?" Mit der Frage geht sie einen Schritt auf mich zu.
"Hm." Ich gehe aufs Ganze und nicke. "Sie war auch rothaarig und war seine … seine große Liebe."
Die Rothaarige verschluckt sich am Kaugummi. Ein Hustenanfall will das Ding wieder in ihren Mund befördern. Ich gebe ihr einen vorsichtigen Klaps auf den Rücken. Als der nicht hilft, schlage ich kräftig zu. Das Geräusch verliert sich als Echo im Treppenhaus. Ich mag dieses Geräusch. Und ich liebe es, wenn ich gewinne.
"Tut mir Leid", sage ich, "geht es jetzt besser?"
Sie legt ihren Kopf schief, ihre blauen Augen auf die Wand gerichtet, als stünde dort die Antwort.
"Also ich muss jetzt gehen, entschuldige noch mal die Störung."
"Nein, nein … warte, wenn du vielleicht etwas Zeit hättest, vielleicht auf einen Kaffee?"
"Also ich will dich wirklich nicht aufhalten, oder Joachim. Ist er eigentlich zu Hause?"
"Joachim? Nein, nein, der ist auf Montage, der kommt erst Freitag wieder. Komm doch rein."
"Mir ist das aber unangenehm, so einfach bei dir reinzuplatzen."
"Nun komm schon", sagt sie und zieht mich in die Wohnung.

Die Küche gleicht einem Sammellager für Essensreste aller Art. Wir sitzen an einem kleinen, runden Tisch ohne Tischdecke. Wie unter Zwang starre ich die Krümel und Essensbrocken an, die die Rothaarige nicht zu stören scheinen.
Auf einer Arbeitsplatte spuckt die Kaffeemaschine röchelnd Wasserdampf aus.
Die Rothaarige stellt zwei Becher auf den Tisch: "Ich heiße übrigens Dagmar. Milch? Zucker?"
"Danke, ich trinke ihn schwarz."
"Sag mal, blöde Frage ich weiß, aber warum ziehst du die Handschuhe nicht aus?"
Mir war klar, dass die Frage kommen musste. "Psoriasis."
"Was für ein Ding?"
"Schuppenflechte. Im Winter ist das besonders schlimm. Keine Angst, das ist nicht ansteckend, nur, nun ja, mir ist das peinlich, wenn man auf meine fleckige Haut schaut."
"Ach so. Also mich stört das nicht."
"Lieb von dir, aber ich fühle mich wohler, wenn ich die Handschuhe anbehalten kann."
"Kein Problem. Melanie? War doch richtig, dein Name?"
Ich nicke.
"Also wegen Joachim und Jutta …" Nervös nippt Dagmar an ihrem Kaffee. "Wie lange ist das her, dass du beide zusammen gesehen hast?"
"Schon eine Weile, ich schätze mal drei, vier Jahre."
"Was?" Sie stellt ihren Becher brutal ab und schon war der Tischdreck in flüssiger Gesellschaft. "Ich bin seit vier Jahren mit ihm zusammen!"
"Vielleicht habe ich mich auch verschätzt und es ist fünf Jahre her."
"Nein!", ruft Dagmar und steht auf. "Nein! Ich wusste es, dieser Scheißkerl betrügt mich."
"O Gott, was habe ich getan? Beruhige dich, Dagmar. Vielleicht ist das alles nur ein Missverständnis." Ich unterdrücke ein Grinsen. Ach, ich liebe es, wenn ich gewinne.
"Niemals! Meinst du mir wäre nicht aufgefallen, dass Joachim in letzter Zeit sehr oft auf Montage ist? Und immer zu müde ist für Sex?"
Ich unterbreche Dagmar nicht, lasse sie hin und her laufen.
"Und weißt du, was mir noch auffiel?"
Ich schüttle meinen Kopf.
"Er bringt immer weniger Geld nach Hause. Sagte, dass die Firma nicht mehr so viel zahlt. Ja, ja, von wegen. Wahrscheinlich macht er seiner Jutta teure Geschenke und ich darf hier seinen Dreck wegmachen." Ihr Gesicht ist rot vor Zorn.
"Vielleicht sind sie ja nicht mehr zusammen."
Dagmar hält inne, kaut an ihren Fingernägeln und sieht mich an. "Meinst du? Also gestern, als er mich anrief, sagte er noch wie sehr er mich liebt." Hoffnung macht ihre Augen glänzend.
"Wenn er das gesagt hat …"
"Aber das könnte auch gelogen sein. Schließlich hat er mir auch nie von einer Jutta erzählt."
"So sind die Männer. Niemals erzählen sie einem von ihrer großen Liebe."
Das saß. Dagmar ist sprachlos, aber hinter ihrer Stirn arbeitet es. Sie geht zum Kühlschrank und angelt zwei Bierdosen heraus, eine stellt sie neben meinem Kaffeebecher ab. "Ist ja schon kalter Kaffee, magst'n Bier?"
Ich sehe zum Fenster, höre wie Dagmar ihre Dose öffnet und mit lauten Schlucken trinkt. Vor meinem geistigen Auge stelle ich mir vor, wie das Bier ihre Speiseröhre hinunter rinnt.
"Scheißkerlscheißkerlscheißkerl!"
Ich schiebe ihr meine Dose hin. "Ich darf nicht, du weißt schon, wegen der Schuppenflechte."
"Was soll ich tun? Was würdest du an meiner Stelle tun?"
"Frag ihn! Frag Joachim, ob er Jutta kennt. Wenn er das abstreitet, weißt du Bescheid."
Ihr Gesicht verzieht sich, ihre Unterlippe zittert. Plötzlich fängt sie an zu heulen. "Als ob er das zugeben würde. Jetzt ist alles aus. Vorbei."
"Sieh nicht alles so Schwarz, noch ist nicht alles verloren." Ich tätschle ihren Arm, peinlich darauf bedacht, den Tischdreck nicht zu berühren.
"Weißt du was, Melanie? Ich bin so froh, dass du da bist. Ich würde es nicht aushalten, jetzt allein zu sein." Dankbar sieht sie mich aus verquollenen Augen an.
"Mir tut es so Leid, ehrlich. Wenn ich gewusst hätte … Ich meine, ich hätte niemals nach Jutta gefragt."
"Es ist gut so. Endlich weiß ich Bescheid. Ich sollte dir dankbar sein."
"Schon gut, Dagmar."
Sie wischt mit ihrem Arm über die Nase, den Tränen lässt sie aber freien Lauf. "Ich werde seine Sachen packen und ihm die Tasche vor die Tür stellen."
Und ich schärfe mir ein, ihren linken Arm nicht mehr anzufassen. "Dagmar, vielleicht solltest du ihm noch eine Chance geben. Er muss sich doch verteidigen dürfen."
"Damit er mich weiterhin anlügt?", schreit sie und spuckt mir dabei Bierspeichel ins Gesicht. "Schluss! Mit der Lügerei ist nun Schluss! Ich lasse mir das nicht mehr gefallen. Ich bin doch nicht die Blöde vom Dienst!"
"Gut so. Lass dir nichts gefallen", gebe ich ihr Recht, "aber, du solltest ihm noch eine Nachricht schreiben."
Wieder arbeitet es hinter Dagmars Stirn, die Gedanken scheinen sie anzutreiben, sie weiß nicht mehr wohin mit ihren Händen. Ich drücke ihr meine volle Bierdose hinein.

Auf dem Tisch stehen zehn leere Dosen und eine halb geleerte Flasche Martini. Die Dosen türme ich zu einer Pyramide. Vier Dosen bilden die Basis, drei bilden das erste Stockwerk, zwei das zweite und die letzte ist die Spitze.
Dagmar findet das lustig, ihr Lachen hört sich wie Schulmädchengackern an. "Du bist echt in Ordnung. Weißt du was, warum schläfst du heute Nacht nicht hier?"
"Ja, warum nicht." Ohne hinzusehen, stoße ich die Pyramidenspitze mit dem Zeigefinger an, sie fällt auf den Boden und rollt weiter. Ich wette mit mir, dass die Barcode-Striche zu sehen sind, dann zähle ich bis zehn und sehe hin: Barcode.
"Du solltest jetzt den Brief schreiben", sage ich.
"Hihi." Torkelnd steht Dagmar auf, hält sich am Tischrand fest, und ich ärgere mich darüber, dass die Pyramide wackelt. Eine Dose kippt um und rollt bis zum Tischrand.
"Hier irgendwo - muss doch Papier sein", lallt Dagmar.
"Ich hole mir auch ein Glas", sage ich.
Zwei Martinis später schiebt mir Dagmar den Zettel hin:
Schwein!
Ich weiß alles von dir und Jutta. Scheißkerl! Wie konntest du mich nur so hintergehen?
Es ist aus! Ende. Für immer!


"Sehr gut", sage ich, "du solltest unten noch unterschreiben, das sieht besser aus. Und vergiss das Datum nicht."
Während Dagmar alle Konzentration auf ihre Schreibfinger legt, gehe ich in ihr Badezimmer und durchsuche es nach Schlaftabletten. Auch hier gewinne ich. Den Preis kippe ich in mein unberührtes Martini-Glas. Das Gemisch rühre ich mit einer Zahnbürste um. Dann lasse ich zum Schein das Wasser laufen und sehe in den Spiegel. Eine blonde Strähne lugt unter der braunen Haarpracht hervor, ich verstecke sie wieder.
"Ich muss mal."
"Ich bin fertig", rufe ich und mache Platz für Dagmar.
Ich warte bis sie die Tür hinter mir schließt, gehe in die Küche und tausche die Gläser aus.
Rumms. Polter. Schepper. Aha, Dagmar hat ihre Wut im Badezimmer rausgelassen. Dann höre ich Dagmar fluchen und muss darüber laut lachen.
Ein Blick auf meine Armbanduhr. Nicht schlecht, es ist kurz vor 21:00 Uhr. Eine ungerade Zahl.
"Mann bin ich blau", kichert Dagmar beim Hereinkommen.
"Setz dich", sage ich und lächle sie an.
"Du bist meine beste Freundin. Meine allerallerbeste", nuschelt sie und ihre Finger umklammern das Martini-Glas.
"Ja, du auch."
Glücklich stürzt sie den Martini hinunter. Ich muss nur noch warten, und während ich warte, nehme ich das Geschirrhandtuch, das über der Heizung liegt. Mit dem Tuch ergreife ich die Dose vom Tischrand und drücke sie in der Mitte zusammen, knicke sie, bis sich an den Seiten scharfe Kanten bilden.
Als Dagmars "Hihi" in ein Schnarchen übergeht, stupse ich sie an. Keine Reaktion.
Ich schiebe den Ärmel ihres rechten Arms hoch und setze die Dose auf die Innenseite ihres Handgelenks. Ich achte darauf, dass das Tuch ihren Arm bedeckt.
Mit der scharfen Kante schneide ich ihre Pulsadern auf, dann drücke ich die Dose in ihre andere Hand.

Im Treppenhaus zähle ich die Stufen auf dem Weg nach unten, als bei vierundzwanzig plötzlich eine Tür aufgeht. Gerade. Das war nicht so gut.
"Hallo? Frollein!"
"Ja, bitte?"
"Was war denn da oben los, bei Luckassens?" Die alte Frau sieht mich neugierig an.
Ich lese ihren Namen von der Klingel ab. Elisabeth Schröder.
"Sind Sie Frau Schröder? Frau Elisabeth Schröder?"
Irritiert sieht sie mich an. "Ja, die bin ich."
"Na welch ein Glück, zu Ihnen wollte ich gerade."
"Ja aber warum denn?"
"Ich bin Privatermittlerin, ich muss Sie dringend wegen Herrn Joachim Luckassen vernehmen."
 

Alessa

Mitglied
Luckassen


Ich stelle das Telefonbuch senkrecht auf den Schreibtisch, nehme den Brieföffner, halte ihn wie einen Dolch über die Seiten und steche zu. An der getroffenen Stelle öffne ich das Buch: Lore bis Lotu und auf der rechten Seite steht Lotz bis Ludw.
Der Würfel wird über links oder rechts entscheiden. Eine gerade Zahl steht für links, eine ungerade für rechts. Ich würfle eine Drei. Nun stelle ich den Küchenwecker auf dreißig Sekunden, drehe meinen Kopf zur Seite, damit mein Finger unbeeinflusst über die rechte Seite fahren kann. Ich habe mir angewöhnt, mit dem Finger eine Spirale zu zeichnen, von außen nach innen, vom Großen zum Kleinen.
Rrrrrrrrr. Stopp. Mein Finger bleibt bei Joachim Luckassen stehen. Was für ein Glück, was für ein gutes Zeichen, auf Anhieb einen Mann erwischt zu haben.

Eine stämmige Rothaarige öffnet die Wohnungstür. "Ja?"
"Hi", sage ich und lege eine große Portion Begeisterung in meine Stimme. "Jutta? Du musst Jutta sein. Ich bin's, Melanie."
"Hä? Welche Jutta? Hier wohnt keine Jutta."
"Ach? Dann wohnt die hier nicht mehr? Die war aber doch mit Joachim befreundet."
Sie öffnet ihren Mund, ich sehe den Kaugummi auf ihrer Zunge liegen und wette mit mir selbst, dass sie ihn innerhalb der nächsten Minute verschlucken wird.
"Du, ich wollte dich nicht stören oder belästigen. Ich finde schon noch heraus, wo Jutta jetzt wohnt. Schönen Tag noch." Ich lächle sie an und tue so, als wollte ich gehen.
"He, wart mal, nicht so schnell. Also diese Jutta …"
"Ja?"
"Die war mit dem Joachim zusammen? So richtig?" Mit der Frage geht sie einen Schritt auf mich zu.
"Hm." Ich gehe aufs Ganze und nicke. "Sie war auch rothaarig und war seine … seine große Liebe."
Die Rothaarige verschluckt sich am Kaugummi. Ein Hustenanfall will das Ding wieder in ihren Mund befördern. Ich gebe ihr einen vorsichtigen Klaps auf den Rücken. Als der nicht hilft, schlage ich kräftig zu. Das Geräusch verliert sich als Echo im Treppenhaus. Ich mag dieses Geräusch. Und ich liebe es, wenn ich gewinne.
"Tut mir Leid", sage ich, "geht es jetzt besser?"
Sie legt ihren Kopf schief, ihre blauen Augen auf die Wand gerichtet, als stünde dort die Antwort.
"Also ich muss jetzt gehen, entschuldige noch mal die Störung."
"Nein, nein … warte, wenn du vielleicht etwas Zeit hättest, vielleicht auf einen Kaffee?"
"Also ich will dich wirklich nicht aufhalten, oder Joachim. Ist er eigentlich zu Hause?"
"Joachim? Nein, nein, der ist auf Montage, der kommt erst Freitag wieder. Komm doch rein."
"Mir ist das aber unangenehm, so einfach bei dir reinzuplatzen."
"Nun komm schon", sagt sie und zieht mich in die Wohnung.

Die Küche gleicht einem Sammellager für Essensreste aller Art. Wir sitzen an einem kleinen, runden Tisch ohne Tischdecke. Wie unter Zwang starre ich die Krümel und Essensbrocken an, die die Rothaarige nicht zu stören scheinen.
Auf einer Arbeitsplatte spuckt die Kaffeemaschine röchelnd Wasserdampf aus.
Die Rothaarige stellt zwei Becher auf den Tisch: "Ich heiße übrigens Dagmar. Milch? Zucker?"
"Danke, ich trinke ihn schwarz."
"Sag mal, blöde Frage ich weiß, aber warum ziehst du die Handschuhe nicht aus?"
Mir war klar, dass die Frage kommen musste. "Psoriasis."
"Was für ein Ding?"
"Schuppenflechte. Im Winter ist das besonders schlimm. Keine Angst, das ist nicht ansteckend, nur, nun ja, mir ist das peinlich, wenn man auf meine fleckige Haut schaut."
"Ach so. Also mich stört das nicht."
"Lieb von dir, aber ich fühle mich wohler, wenn ich die Handschuhe anbehalten kann."
"Kein Problem. Melanie? War doch richtig, dein Name?"
Ich nicke.
"Also wegen Joachim und Jutta …" Nervös nippt Dagmar an ihrem Kaffee. "Wie lange ist das her, dass du beide zusammen gesehen hast?"
"Schon eine Weile, ich schätze mal drei, vier Jahre."
"Was?" Sie stellt ihren Becher brutal ab und schon war der Tischdreck in flüssiger Gesellschaft. "Ich bin seit vier Jahren mit ihm zusammen!"
"Vielleicht habe ich mich auch verschätzt und es ist fünf Jahre her."
"Nein!", ruft Dagmar und steht auf. "Nein! Ich wusste es, dieser Scheißkerl betrügt mich."
"O Gott, was habe ich getan? Beruhige dich, Dagmar. Vielleicht ist das alles nur ein Missverständnis." Ich unterdrücke ein Grinsen. Ach, ich liebe es, wenn ich gewinne.
"Niemals! Meinst du mir wäre nicht aufgefallen, dass Joachim in letzter Zeit sehr oft auf Montage ist? Und immer zu müde ist für Sex?"
Ich unterbreche Dagmar nicht, lasse sie hin und her laufen.
"Und weißt du, was mir noch auffiel?"
Ich schüttle meinen Kopf.
"Er bringt immer weniger Geld nach Hause. Sagte, dass die Firma nicht mehr so viel zahlt. Ja, ja, von wegen. Wahrscheinlich macht er seiner Jutta teure Geschenke und ich darf hier seinen Dreck wegmachen." Ihr Gesicht ist rot vor Zorn.
"Vielleicht sind sie ja nicht mehr zusammen."
Dagmar hält inne, kaut an ihren Fingernägeln und sieht mich an. "Meinst du? Also gestern, als er mich anrief, sagte er noch wie sehr er mich liebt." Hoffnung macht ihre Augen glänzend.
"Wenn er das gesagt hat …"
"Aber das könnte auch gelogen sein. Schließlich hat er mir auch nie von einer Jutta erzählt."
"So sind die Männer. Niemals erzählen sie einem von ihrer großen Liebe."
Das saß. Dagmar ist sprachlos, aber hinter ihrer Stirn arbeitet es. Sie geht zum Kühlschrank und angelt zwei Bierdosen heraus, eine stellt sie neben meinem Kaffeebecher ab. "Ist ja schon kalter Kaffee, magst'n Bier?"
Ich sehe zum Fenster, höre wie Dagmar ihre Dose öffnet und mit lauten Schlucken trinkt. Vor meinem geistigen Auge stelle ich mir vor, wie das Bier ihre Speiseröhre hinunter rinnt.
"Scheißkerlscheißkerlscheißkerl!"
Ich schiebe ihr meine Dose hin. "Ich darf nicht, du weißt schon, wegen der Schuppenflechte."
"Was soll ich tun? Was würdest du an meiner Stelle tun?"
"Frag ihn! Frag Joachim, ob er Jutta kennt. Wenn er das abstreitet, weißt du Bescheid."
Ihr Gesicht verzieht sich, ihre Unterlippe zittert. Plötzlich fängt sie an zu heulen. "Als ob er das zugeben würde. Jetzt ist alles aus. Vorbei."
"Sieh nicht alles so Schwarz, noch ist nicht alles verloren." Ich tätschle ihren Arm, peinlich darauf bedacht, den Tischdreck nicht zu berühren.
"Weißt du was, Melanie? Ich bin so froh, dass du da bist. Ich würde es nicht aushalten, jetzt allein zu sein." Dankbar sieht sie mich aus verquollenen Augen an.
"Mir tut es so Leid, ehrlich. Wenn ich gewusst hätte … Ich meine, ich hätte niemals nach Jutta gefragt."
"Es ist gut so. Endlich weiß ich Bescheid. Ich sollte dir dankbar sein."
"Schon gut, Dagmar."
Sie wischt mit ihrem Arm über die Nase, den Tränen lässt sie aber freien Lauf. "Ich werde seine Sachen packen und ihm die Tasche vor die Tür stellen."
Und ich schärfe mir ein, ihren linken Arm nicht mehr anzufassen. "Dagmar, vielleicht solltest du ihm noch eine Chance geben. Er muss sich doch verteidigen dürfen."
"Damit er mich weiterhin anlügt?", schreit sie und spuckt mir dabei Bierspeichel ins Gesicht. "Schluss! Mit der Lügerei ist nun Schluss! Ich lasse mir das nicht mehr gefallen. Ich bin doch nicht die Blöde vom Dienst!"
"Gut so. Lass dir nichts gefallen", gebe ich ihr Recht, "aber, du solltest ihm noch eine Nachricht schreiben."
Wieder arbeitet es hinter Dagmars Stirn, die Gedanken scheinen sie anzutreiben, sie weiß nicht mehr wohin mit ihren Händen. Ich drücke ihr meine volle Bierdose hinein.

Auf dem Tisch stehen zehn leere Dosen und eine halb geleerte Flasche Martini. Die Dosen türme ich zu einer Pyramide. Vier Dosen bilden die Basis, drei bilden das erste Stockwerk, zwei das zweite und die letzte ist die Spitze.
Dagmar findet das lustig, ihr Lachen hört sich wie Schulmädchengackern an. "Du bist echt in Ordnung. Weißt du was, warum schläfst du heute Nacht nicht hier?"
"Ja, warum nicht." Ohne hinzusehen, stoße ich die Pyramidenspitze mit dem Zeigefinger an, sie fällt auf den Boden und rollt weiter. Ich wette mit mir, dass die Barcode-Striche zu sehen sind, dann zähle ich bis zehn und sehe hin: Barcode.
"Du solltest jetzt den Brief schreiben", sage ich.
"Hihi." Torkelnd steht Dagmar auf, hält sich am Tischrand fest, und ich ärgere mich darüber, dass die Pyramide wackelt. Eine Dose kippt um und rollt bis zum Tischrand.
"Hier irgendwo - muss doch Papier sein", lallt Dagmar.
"Ich hole mir auch ein Glas", sage ich.
Zwei Martinis später schiebt mir Dagmar den Zettel hin:
Schwein!
Ich weiß alles von dir und Jutta. Scheißkerl! Wie konntest du mich nur so hintergehen?
Es ist aus! Ende. Für immer!

"Sehr gut", sage ich, "du solltest unten noch unterschreiben, das sieht besser aus. Und vergiss das Datum nicht."
Während Dagmar alle Konzentration auf ihre Schreibfinger legt, gehe ich in ihr Badezimmer und durchsuche es nach Schlaftabletten. Auch hier gewinne ich. Den Preis kippe ich in mein unberührtes Martini-Glas. Das Gemisch rühre ich mit einer Zahnbürste um. Dann lasse ich zum Schein das Wasser laufen und sehe in den Spiegel. Eine blonde Strähne lugt unter der braunen Haarpracht hervor, ich verstecke sie wieder.
"Ich muss mal."
"Ich bin fertig", rufe ich und mache Platz für Dagmar.
Ich warte bis sie die Tür hinter mir schließt, gehe in die Küche und tausche die Gläser aus.
Rumms. Polter. Schepper. Aha, Dagmar hat ihre Wut im Badezimmer rausgelassen. Dann höre ich Dagmar fluchen und muss darüber laut lachen.
Ein Blick auf meine Armbanduhr. Nicht schlecht, es ist kurz vor 21:00 Uhr. Eine ungerade Zahl.
"Mann bin ich blau", kichert Dagmar beim Hereinkommen.
"Setz dich", sage ich und lächle sie an.
"Du bist meine beste Freundin. Meine allerallerbeste", nuschelt sie und ihre Finger umklammern das Martini-Glas.
"Ja, du auch."
Glücklich stürzt sie den Martini hinunter. Ich muss nur noch warten, und während ich warte, nehme ich das Geschirrhandtuch, das über der Heizung liegt. Mit dem Tuch ergreife ich die Dose vom Tischrand und drücke sie in der Mitte zusammen, knicke sie, bis sich an den Seiten scharfe Kanten bilden.
Als Dagmars "Hihi" in ein Schnarchen übergeht, stupse ich sie an. Keine Reaktion.
Ich schiebe den Ärmel ihres rechten Arms hoch und setze die Dose auf die Innenseite ihres Handgelenks. Ich achte darauf, dass das Tuch ihren Arm bedeckt.
Mit der scharfen Kante schneide ich ihre Pulsadern auf, dann drücke ich die Dose in ihre andere Hand.

Im Treppenhaus zähle ich die Stufen auf dem Weg nach unten, als bei vierundzwanzig plötzlich eine Tür aufgeht. Gerade. Das war nicht so gut.
"Hallo? Frollein!"
"Ja, bitte?"
"Was war denn da oben los, bei Luckassens?" Die alte Frau sieht mich neugierig an.
Ich lese ihren Namen von der Klingel ab. Elisabeth Schröder.
"Sind Sie Frau Schröder? Frau Elisabeth Schröder?"
Irritiert sieht sie mich an. "Ja, die bin ich."
"Na welch ein Glück, zu Ihnen wollte ich gerade."
"Ja aber warum denn?"
"Ich bin Privatermittlerin, ich muss Sie dringend wegen Herrn Joachim Luckassen vernehmen."
 

Alessa

Mitglied
Luckassen


Ich stelle das Telefonbuch senkrecht auf den Schreibtisch, nehme den Brieföffner, halte ihn wie einen Dolch über die Seiten und steche zu. An der getroffenen Stelle öffne ich das Buch: Lore bis Lotu und auf der rechten Seite steht Lotz bis Ludw.
Der Würfel wird über links oder rechts entscheiden. Eine gerade Zahl steht für links, eine ungerade für rechts. Ich würfle eine Drei. Nun stelle ich den Küchenwecker auf dreißig Sekunden, drehe meinen Kopf zur Seite, damit mein Finger unbeeinflusst über die rechte Seite fahren kann. Ich habe mir angewöhnt, mit dem Finger eine Spirale zu zeichnen, von außen nach innen, vom Großen zum Kleinen.
Rrrrrrrrr. Stopp. Mein Finger bleibt bei Joachim Luckassen stehen. Was für ein Glück, was für ein gutes Zeichen, auf Anhieb einen Mann erwischt zu haben.

Eine stämmige Rothaarige öffnet die Wohnungstür. "Ja?"
"Hi", sage ich und lege eine große Portion Begeisterung in meine Stimme. "Jutta? Du musst Jutta sein. Ich bin's, Melanie."
"Hä? Welche Jutta? Hier wohnt keine Jutta."
"Ach? Dann wohnt die hier nicht mehr? Die war aber doch mit Joachim befreundet."
Sie öffnet ihren Mund, ich sehe den Kaugummi auf ihrer Zunge liegen und wette mit mir selbst, dass sie ihn innerhalb der nächsten Minute verschlucken wird.
"Du, ich wollte dich nicht stören oder belästigen. Ich finde schon noch heraus, wo Jutta jetzt wohnt. Schönen Tag noch." Ich lächle sie an und tue so, als wollte ich gehen.
"He, wart mal, nicht so schnell. Also diese Jutta …"
"Ja?"
"Die war mit dem Joachim zusammen? So richtig?" Mit der Frage geht sie einen Schritt auf mich zu.
"Hm." Ich gehe aufs Ganze und nicke. "Sie war auch rothaarig und war seine … seine große Liebe."
Die Rothaarige verschluckt sich am Kaugummi. Ein Hustenanfall will das Ding wieder in ihren Mund befördern. Ich gebe ihr einen vorsichtigen Klaps auf den Rücken. Als der nicht hilft, schlage ich kräftig zu. Das Geräusch verliert sich als Echo im Treppenhaus. Ich mag dieses Geräusch. Und ich liebe es, wenn ich gewinne.
"Tut mir Leid", sage ich, "geht es jetzt besser?"
Sie legt ihren Kopf schief, ihre blauen Augen auf die Wand gerichtet, als stünde dort die Antwort.
"Also ich muss jetzt gehen, entschuldige noch mal die Störung."
"Nein, nein … warte, wenn du vielleicht etwas Zeit hättest, vielleicht auf einen Kaffee?"
"Also ich will dich wirklich nicht aufhalten, oder Joachim. Ist er eigentlich zu Hause?"
"Joachim? Nein, nein, der ist auf Montage, der kommt erst Freitag wieder. Komm doch rein."
"Mir ist das aber unangenehm, so einfach bei dir reinzuplatzen."
"Nun komm schon", sagt sie und zieht mich in die Wohnung.

Die Küche gleicht einem Sammellager für Essensreste aller Art. Wir sitzen an einem kleinen, runden Tisch ohne Tischdecke. Wie unter Zwang starre ich die Krümel und Essensbrocken an, die die Rothaarige nicht zu stören scheinen.
Auf einer Arbeitsplatte spuckt die Kaffeemaschine röchelnd Wasserdampf aus.
Die Rothaarige stellt zwei Becher auf den Tisch: "Ich heiße übrigens Dagmar. Milch? Zucker?"
"Danke, ich trinke ihn schwarz."
"Sag mal, blöde Frage ich weiß, aber warum ziehst du die Handschuhe nicht aus?"
Mir war klar, dass die Frage kommen musste. "Psoriasis."
"Was für ein Ding?"
"Schuppenflechte. Im Winter ist das besonders schlimm. Keine Angst, das ist nicht ansteckend, nur, nun ja, mir ist das peinlich, wenn man auf meine fleckige Haut schaut."
"Ach so. Also mich stört das nicht."
"Lieb von dir, aber ich fühle mich wohler, wenn ich die Handschuhe anbehalten kann."
"Kein Problem. Melanie? War doch richtig, dein Name?"
Ich nicke.
"Also wegen Joachim und Jutta …" Nervös nippt Dagmar an ihrem Kaffee. "Wie lange ist das her, dass du beide zusammen gesehen hast?"
"Schon eine Weile, ich schätze mal drei, vier Jahre."
"Was?" Sie stellt ihren Becher brutal ab und schon war der Tischdreck in flüssiger Gesellschaft. "Ich bin seit vier Jahren mit ihm zusammen!"
"Vielleicht habe ich mich auch verschätzt und es ist fünf Jahre her."
"Nein!", ruft Dagmar und steht auf. "Nein! Ich wusste es, dieser Scheißkerl betrügt mich."
"O Gott, was habe ich getan? Beruhige dich, Dagmar. Vielleicht ist das alles nur ein Missverständnis." Ich unterdrücke ein Grinsen. Ach, ich liebe es, wenn ich gewinne.
"Niemals! Meinst du mir wäre nicht aufgefallen, dass Joachim in letzter Zeit sehr oft auf Montage ist? Und immer zu müde ist für Sex?"
Ich unterbreche Dagmar nicht, lasse sie hin und her laufen.
"Und weißt du, was mir noch auffiel?"
Ich schüttle meinen Kopf.
"Er bringt immer weniger Geld nach Hause. Sagte, dass die Firma nicht mehr so viel zahlt. Ja, ja, von wegen. Wahrscheinlich macht er seiner Jutta teure Geschenke und ich darf hier seinen Dreck wegmachen." Ihr Gesicht ist rot vor Zorn.
"Vielleicht sind sie ja nicht mehr zusammen."
Dagmar hält inne, kaut an ihren Fingernägeln und sieht mich an. "Meinst du? Also gestern, als er mich anrief, sagte er noch wie sehr er mich liebt." Hoffnung macht ihre Augen glänzend.
"Wenn er das gesagt hat …"
"Aber das könnte auch gelogen sein. Schließlich hat er mir auch nie von einer Jutta erzählt."
"So sind die Männer. Niemals erzählen sie einem von ihrer großen Liebe."
Das saß. Dagmar ist sprachlos, aber hinter ihrer Stirn arbeitet es. Sie geht zum Kühlschrank und angelt zwei Bierdosen heraus, eine stellt sie neben meinem Kaffeebecher ab. "Ist ja schon kalter Kaffee, magst'n Bier?"
Ich sehe zum Fenster, höre wie Dagmar ihre Dose öffnet und mit lauten Schlucken trinkt. Vor meinem geistigen Auge stelle ich mir vor, wie das Bier ihre Speiseröhre hinunter rinnt.
"Scheißkerlscheißkerlscheißkerl!"
Ich schiebe ihr meine Dose hin. "Ich darf nicht, du weißt schon, wegen der Schuppenflechte."
"Was soll ich tun? Was würdest du an meiner Stelle tun?"
"Frag ihn! Frag Joachim, ob er Jutta kennt. Wenn er das abstreitet, weißt du Bescheid."
Ihr Gesicht verzieht sich, ihre Unterlippe zittert. Plötzlich fängt sie an zu heulen. "Als ob er das zugeben würde. Jetzt ist alles aus. Vorbei."
"Sieh nicht alles so Schwarz, noch ist nicht alles verloren." Ich tätschle ihren Arm, peinlich darauf bedacht, den Tischdreck nicht zu berühren.
"Weißt du was, Melanie? Ich bin so froh, dass du da bist. Ich würde es nicht aushalten, jetzt allein zu sein." Dankbar sieht sie mich aus verquollenen Augen an.
"Mir tut es so Leid, ehrlich. Wenn ich gewusst hätte … Ich meine, ich hätte niemals nach Jutta gefragt."
"Es ist gut so. Endlich weiß ich Bescheid. Ich sollte dir dankbar sein."
"Schon gut, Dagmar."
Sie wischt mit ihrem Arm über die Nase, den Tränen lässt sie aber freien Lauf. "Ich werde seine Sachen packen und ihm die Tasche vor die Tür stellen."
Und ich schärfe mir ein, ihren linken Arm nicht mehr anzufassen. "Dagmar, vielleicht solltest du ihm noch eine Chance geben. Er muss sich doch verteidigen dürfen."
"Damit er mich weiterhin anlügt?", schreit sie und spuckt mir dabei Bierspeichel ins Gesicht. "Schluss! Mit der Lügerei ist nun Schluss! Ich lasse mir das nicht mehr gefallen. Ich bin doch nicht die Blöde vom Dienst!"
"Gut so. Lass dir nichts gefallen", gebe ich ihr Recht, "aber, du solltest ihm noch eine Nachricht schreiben."
Wieder arbeitet es hinter Dagmars Stirn, die Gedanken scheinen sie anzutreiben, sie weiß nicht mehr wohin mit ihren Händen. Ich drücke ihr meine volle Bierdose hinein.

Auf dem Tisch stehen zehn leere Dosen und eine halb geleerte Flasche Martini. Die Dosen türme ich zu einer Pyramide. Vier Dosen bilden die Basis, drei bilden das erste Stockwerk, zwei das zweite und die letzte ist die Spitze.
Dagmar findet das lustig, ihr Lachen hört sich wie Schulmädchengackern an. "Du bist echt in Ordnung. Weißt du was, warum schläfst du heute Nacht nicht hier?"
"Ja, warum nicht." Ohne hinzusehen, stoße ich die Pyramidenspitze mit dem Zeigefinger an, sie fällt auf den Boden und rollt weiter. Ich wette mit mir, dass die Barcode-Striche zu sehen sind, dann zähle ich bis zehn und sehe hin: Barcode.
"Du solltest jetzt den Brief schreiben", sage ich.
"Hihi." Torkelnd steht Dagmar auf, hält sich am Tischrand fest, und ich ärgere mich darüber, dass die Pyramide wackelt. Eine Dose kippt um und rollt bis zum Tischrand.
"Hier irgendwo - muss doch Papier sein", lallt Dagmar.
"Ich hole mir auch ein Glas", sage ich.
Zwei Martinis später schiebt mir Dagmar den Zettel hin:
Schwein!
Ich weiß alles von dir und Jutta. Scheißkerl! Wie konntest du mich nur so hintergehen?
Es ist aus! Ende. Für immer!

"Sehr gut", sage ich, "du solltest unten noch unterschreiben, das sieht besser aus. Und vergiss das Datum nicht."
Während Dagmar alle Konzentration auf ihre Schreibfinger legt, gehe ich in ihr Badezimmer und durchsuche es nach Schlaftabletten. Auch hier gewinne ich. Den Preis kippe ich in mein unberührtes Martini-Glas. Das Gemisch rühre ich mit einer Zahnbürste um. Dann lasse ich zum Schein das Wasser laufen und sehe in den Spiegel. Eine blonde Strähne lugt unter der braunen Haarpracht hervor, ich verstecke sie wieder.
"Ich muss mal."
"Ich bin fertig", rufe ich und mache Platz für Dagmar.
Ich warte bis sie die Tür hinter mir schließt, gehe in die Küche und tausche die Gläser aus.
Rumms. Polter. Schepper. Aha, Dagmar hat ihre Wut im Badezimmer rausgelassen. Dann höre ich Dagmar fluchen und muss darüber laut lachen.
Ein Blick auf meine Armbanduhr. Nicht schlecht, es ist kurz vor 21:00 Uhr. Eine ungerade Zahl.
"Mann bin ich blau", kichert Dagmar beim Hereinkommen.
"Setz dich", sage ich und lächle sie an.
"Du bist meine beste Freundin. Meine allerallerbeste", nuschelt sie und ihre Finger umklammern das Martini-Glas.
"Ja, du auch."
Glücklich stürzt sie den Martini hinunter. Ich muss nur noch warten, und während ich warte, nehme ich das Geschirrhandtuch, das über der Heizung liegt. Mit dem Tuch ergreife ich die Dose vom Tischrand und drücke sie in der Mitte zusammen, knicke sie, bis sich an den Seiten scharfe Kanten bilden.
Als Dagmars "Hihi" in ein Schnarchen übergeht, stupse ich sie an. Keine Reaktion.
Ich schiebe den Ärmel ihres rechten Arms hoch und setze die Dose auf die Innenseite ihres Handgelenks. Ich achte darauf, dass das Tuch ihren Arm bedeckt.
Mit der scharfen Kante schneide ich ihre Pulsadern auf, dann drücke ich die Dose in ihre andere Hand.

Im Treppenhaus zähle ich die Stufen auf dem Weg nach unten, als bei vierundzwanzig plötzlich eine Tür aufgeht. Gerade. Das war nicht so gut.
"Hallo? Frollein!"
"Ja, bitte?"
"Was war denn da oben los, bei Luckassens?" Die alte Frau sieht mich neugierig an.
Ich lese ihren Namen von der Klingel ab. Elisabeth Schröder.
"Sind Sie Frau Schröder? Frau Elisabeth Schröder?"
Irritiert sieht sie mich an. "Ja, die bin ich."
"Na welch ein Glück, zu Ihnen wollte ich gerade."
"Ja aber warum denn?"
"Ich bin Privatermittlerin, ich muss Sie dringend wegen Herrn Joachim Luckassen vernehmen."
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Alessa,

selten so einen blitzsauberen Text gelesen. Selbst ein Krümelkacker - keine Chance.
Aber übrigens bin ich in die gleiche Ecke getappt wie Hagen. Das Gespräch an der Wohnungstür und die daraus erwachsende Spannung, wie es wohl weiter gehen mag, hat mich glatt das Spielen mit dem Zufallsgenerator Marke Eigenbau vergessen lassen. Und so kam es, dass ich verzweifelt nach einem Motiv für die zu erwartende Tat suchte. Und noch was: Ich war der Meinung (siehe vergessener Anfang), dass deine Dagmar auf den armen Joachim fixiert ist und die Rothaarige nur Werkzeug sein soll. Hm. Wäre das nicht auch eine Idee für eine neue Geschichte?


Gruß Ralph
 

Alessa

Mitglied
Hallo Ralph,

dankeschön, hab mich über Dein Lob gefreut.

Hm, ist das jetzt gut oder schlecht, dass der Leser den Anfang nicht mehr im Kopf hatte? :) Auch eine Idee über eine andere Geschichte von Dagmar und der Rothaarigen lasse ich mir durch den Kopf gehen. Hätte schon mal wieder Lust auf Steak bleu.
:eek:



Danke für alle Bewertungen und Anregungen. Ich weiß das zu schätzen.

Liebe Grüße
Alessa
 

Alessa

Mitglied
Luckassen


Ich stelle das Telefonbuch senkrecht auf den Schreibtisch, nehme den Brieföffner, halte ihn wie einen Dolch über die Seiten und steche zu. An der getroffenen Stelle öffne ich das Buch: Lore bis Lotu und auf der rechten Seite steht Lotz bis Ludw.
Der Würfel wird über links oder rechts entscheiden. Eine gerade Zahl steht für links, eine ungerade für rechts. Ich würfle eine Drei. Nun stelle ich den Küchenwecker auf dreißig Sekunden, drehe meinen Kopf zur Seite, damit mein Finger unbeeinflusst über die rechte Seite fahren kann. Ich habe mir angewöhnt, mit dem Finger eine Spirale zu zeichnen, von außen nach innen, vom Großen zum Kleinen.
Rrrrrrrrr. Stopp. Mein Finger bleibt bei Joachim Luckassen stehen. Was für ein Glück, was für ein gutes Zeichen, auf Anhieb einen Mann erwischt zu haben.

Eine stämmige Rothaarige öffnet die Wohnungstür. "Ja?"
"Hi", sage ich und lege eine große Portion Begeisterung in meine Stimme. "Jutta? Du musst Jutta sein. Ich bin's, Melanie."
"Hä? Welche Jutta? Hier wohnt keine Jutta."
"Ach? Dann wohnt die hier nicht mehr? Die war aber doch mit Joachim befreundet."
Sie öffnet ihren Mund, ich sehe den Kaugummi auf ihrer Zunge liegen und wette mit mir selbst, dass sie ihn innerhalb der nächsten Minute verschlucken wird.
"Du, ich wollte dich nicht stören oder belästigen. Ich finde schon noch heraus, wo Jutta jetzt wohnt. Schönen Tag noch." Ich lächle sie an und tue so, als wollte ich gehen.
"He, wart mal, nicht so schnell. Also diese Jutta …"
"Ja?"
"Die war mit dem Joachim zusammen? So richtig?" Mit der Frage geht sie einen Schritt auf mich zu.
"Hm." Ich gehe aufs Ganze und nicke. "Sie war auch rothaarig und war seine … seine große Liebe."
Die Rothaarige verschluckt sich am Kaugummi. Ein Hustenanfall will das Ding wieder in ihren Mund befördern. Ich gebe ihr einen vorsichtigen Klaps auf den Rücken. Als der nicht hilft, schlage ich kräftig zu. Das Geräusch verliert sich als Echo im Treppenhaus. Ich mag dieses Geräusch. Und ich liebe es, wenn ich gewinne.
"Tut mir Leid", sage ich, "geht es jetzt besser?"
Sie legt ihren Kopf schief, ihre blauen Augen auf die Wand gerichtet, als stünde dort die Antwort.
"Also ich muss jetzt gehen, entschuldige noch mal die Störung."
"Nein, nein … warte, wenn du vielleicht etwas Zeit hättest, vielleicht auf einen Kaffee?"
"Also ich will dich wirklich nicht aufhalten, oder Joachim. Ist er eigentlich zu Hause?"
"Joachim? Nein, nein, der ist auf Montage, der kommt erst Freitag wieder. Komm doch rein."
"Mir ist das aber unangenehm, so einfach bei dir reinzuplatzen."
"Nun komm schon", sagt sie und zieht mich in die Wohnung.

Die Küche gleicht einem Sammellager für Essensreste aller Art. Wir sitzen an einem kleinen, runden Tisch ohne Tischdecke. Wie unter Zwang starre ich die Krümel und Essensbrocken an, die die Rothaarige nicht zu stören scheinen.
Auf einer Arbeitsplatte spuckt die Kaffeemaschine röchelnd Wasserdampf aus.
Die Rothaarige stellt zwei Becher auf den Tisch: "Ich heiße übrigens Dagmar. Milch? Zucker?"
"Danke, ich trinke ihn schwarz."
"Sag mal, blöde Frage ich weiß, aber warum ziehst du die Handschuhe nicht aus?"
Mir war klar, dass die Frage kommen musste. "Psoriasis."
"Was für ein Ding?"
"Schuppenflechte. Im Winter ist das besonders schlimm. Keine Angst, das ist nicht ansteckend, nur, nun ja, mir ist das peinlich, wenn man auf meine fleckige Haut schaut."
"Ach so. Also mich stört das nicht."
"Lieb von dir, aber ich fühle mich wohler, wenn ich die Handschuhe anbehalten kann."
"Kein Problem. Melanie? War doch richtig, dein Name?"
Ich nicke.
"Also wegen Joachim und Jutta …" Nervös nippt Dagmar an ihrem Kaffee. "Wie lange ist das her, dass du beide zusammen gesehen hast?"
"Schon eine Weile, ich schätze mal drei, vier Jahre."
"Was?" Sie stellt ihren Becher brutal ab und schon war der Tischdreck in flüssiger Gesellschaft. "Ich bin seit vier Jahren mit ihm zusammen!"
"Vielleicht habe ich mich auch verschätzt und es ist fünf Jahre her."
"Nein!", ruft Dagmar und steht auf. "Nein! Ich wusste es, dieser Scheißkerl betrügt mich."
"O Gott, was habe ich getan? Beruhige dich, Dagmar. Vielleicht ist das alles nur ein Missverständnis." Ich unterdrücke ein Grinsen. Ach, ich liebe es, wenn ich gewinne.
"Niemals! Meinst du mir wäre nicht aufgefallen, dass Joachim in letzter Zeit sehr oft auf Montage ist? Und immer zu müde ist für Sex?"
Ich unterbreche Dagmar nicht, lasse sie hin und her laufen.
"Und weißt du, was mir noch auffiel?"
Ich schüttle meinen Kopf.
"Er bringt immer weniger Geld nach Hause. Sagte, dass die Firma nicht mehr so viel zahlt. Ja, ja, von wegen. Wahrscheinlich macht er seiner Jutta teure Geschenke und ich darf hier seinen Dreck wegmachen." Ihr Gesicht ist rot vor Zorn.
"Vielleicht sind sie ja nicht mehr zusammen."
Dagmar hält inne, kaut an ihren Fingernägeln und sieht mich an. "Meinst du? Also gestern, als er mich anrief, sagte er noch wie sehr er mich liebt." Hoffnung macht ihre Augen glänzend.
"Wenn er das gesagt hat …"
"Aber das könnte auch gelogen sein. Schließlich hat er mir auch nie von einer Jutta erzählt."
"So sind die Männer. Niemals erzählen sie einem von ihrer großen Liebe."
Das saß. Dagmar ist sprachlos, aber hinter ihrer Stirn arbeitet es. Sie geht zum Kühlschrank und angelt zwei Bierdosen heraus, eine stellt sie neben meinem Kaffeebecher ab. "Ist ja schon kalter Kaffee, magst'n Bier?"
Ich sehe zum Fenster, höre wie Dagmar ihre Dose öffnet und mit lauten Schlucken trinkt. Vor meinem geistigen Auge stelle ich mir vor, wie das Bier ihre Speiseröhre hinunter rinnt.
"Scheißkerlscheißkerlscheißkerl!"
Ich schiebe ihr meine Dose hin. "Ich darf nicht, du weißt schon, wegen der Schuppenflechte."
"Was soll ich tun? Was würdest du an meiner Stelle tun?"
"Frag ihn! Frag Joachim, ob er Jutta kennt. Wenn er das abstreitet, weißt du Bescheid."
Ihr Gesicht verzieht sich, ihre Unterlippe zittert. Plötzlich fängt sie an zu heulen. "Als ob er das zugeben würde. Jetzt ist alles aus. Vorbei."
"Sieh nicht alles so Schwarz, noch ist nicht alles verloren." Ich tätschle ihren Arm, peinlich darauf bedacht, den Tischdreck nicht zu berühren.
"Weißt du was, Melanie? Ich bin so froh, dass du da bist. Ich würde es nicht aushalten, jetzt allein zu sein." Dankbar sieht sie mich aus verquollenen Augen an.
"Mir tut es so Leid, ehrlich. Wenn ich gewusst hätte … Ich meine, ich hätte niemals nach Jutta gefragt."
"Es ist gut so. Endlich weiß ich Bescheid. Ich sollte dir dankbar sein."
"Schon gut, Dagmar."
Sie wischt mit ihrem Arm über die Nase, den Tränen lässt sie aber freien Lauf. "Ich werde seine Sachen packen und ihm die Tasche vor die Tür stellen."
Und ich schärfe mir ein, ihren linken Arm nicht mehr anzufassen. "Dagmar, vielleicht solltest du ihm noch eine Chance geben. Er muss sich doch verteidigen dürfen."
"Damit er mich weiterhin anlügt?", schreit sie und spuckt mir dabei Bierspeichel ins Gesicht. "Schluss! Mit der Lügerei ist nun Schluss! Ich lasse mir das nicht mehr gefallen. Ich bin doch nicht die Blöde vom Dienst!"
"Gut so. Lass dir nichts gefallen", gebe ich ihr Recht, "aber, du solltest ihm noch eine Nachricht schreiben."
Wieder arbeitet es hinter Dagmars Stirn, die Gedanken scheinen sie anzutreiben, sie weiß nicht mehr wohin mit ihren Händen. Ich drücke ihr meine volle Bierdose hinein.

Auf dem Tisch stehen zehn leere Dosen und eine halb geleerte Flasche Martini. Die Dosen türme ich zu einer Pyramide. Vier Dosen bilden die Basis, drei bilden das erste Stockwerk, zwei das zweite und die letzte ist die Spitze.
Dagmar findet das lustig, ihr Lachen hört sich wie Schulmädchengackern an. "Du bist echt in Ordnung. Weißt du was, warum schläfst du heute Nacht nicht hier?"
"Ja, warum nicht." Ohne hinzusehen, stoße ich die Pyramidenspitze mit dem Zeigefinger an, sie fällt auf den Boden und rollt weiter. Ich wette mit mir, dass die Barcode-Striche zu sehen sind, dann zähle ich bis zehn und sehe hin: Barcode.
"Du solltest jetzt den Brief schreiben", sage ich.
"Hihi." Torkelnd steht Dagmar auf, hält sich am Tischrand fest, und ich ärgere mich darüber, dass die Pyramide wackelt. Eine Dose kippt um und rollt bis zum Tischrand.
"Hier irgendwo - muss doch Papier sein", lallt Dagmar.
"Ich hole mir auch ein Glas", sage ich.
Zwei Martinis später schiebt mir Dagmar den Zettel hin:
Schwein!
Ich weiß alles von dir und Jutta. Scheißkerl! Wie konntest du mich nur so hintergehen?
Es ist aus! Ende. Für immer!

"Sehr gut", sage ich, "du solltest unten noch unterschreiben, das sieht besser aus. Und vergiss das Datum nicht."
Während Dagmar alle Konzentration auf ihre Schreibfinger legt, gehe ich in ihr Badezimmer und durchsuche es nach Schlaftabletten. Auch hier gewinne ich. Den Preis kippe ich in mein unberührtes Martini-Glas. Das Gemisch rühre ich mit einer Zahnbürste um. Dann lasse ich zum Schein das Wasser laufen und sehe in den Spiegel. Eine blonde Strähne lugt unter der braunen Haarpracht hervor, ich verstecke sie wieder.
"Ich muss mal."
"Ich bin fertig", rufe ich und mache Platz für Dagmar.
Ich warte bis sie die Tür hinter mir schließt, gehe in die Küche und tausche die Gläser aus.
Rumms. Polter. Schepper. Aha, Dagmar hat ihre Wut im Badezimmer rausgelassen. Dann höre ich Dagmar fluchen und muss darüber laut lachen.
Ein Blick auf meine Armbanduhr. Nicht schlecht, es ist kurz vor 21:00 Uhr. Eine ungerade Zahl.
"Mann bin ich blau", kichert Dagmar beim Hereinkommen.
"Setz dich", sage ich und lächle sie an.
"Du bist meine beste Freundin. Meine allerallerbeste", nuschelt sie und ihre Finger umklammern das Martini-Glas.
"Ja, du auch."
Glücklich stürzt sie den Martini hinunter. Ich muss nur noch warten, und während ich warte, nehme ich das Geschirrhandtuch, das über der Heizung liegt. Mit dem Tuch ergreife ich die Dose vom Tischrand und drücke sie in der Mitte zusammen, knicke sie, bis sich an den Seiten scharfe Kanten bilden.
Als Dagmars "Hihi" in ein Schnarchen übergeht, stupse ich sie an. Keine Reaktion.
Ich schiebe den Ärmel ihres rechten Arms hoch und setze die Dose auf die Innenseite ihres Handgelenks. Ich achte darauf, dass das Tuch ihren Arm bedeckt.
Mit der scharfen Kante schneide ich ihre Pulsadern auf, dann drücke ich die Dose in ihre andere Hand.

Im Treppenhaus zähle ich die Stufen auf dem Weg nach unten, als bei vierundzwanzig plötzlich eine Tür aufgeht. Gerade. Das war nicht so gut.
"Hallo? Frollein!"
"Ja, bitte?"
"Was war denn da oben los, bei Luckassens?" Die alte Frau sieht mich neugierig an.
Ich lese ihren Namen von der Klingel ab. Elisabeth Schröder.
"Sind Sie Frau Schröder? Frau Elisabeth Schröder?"
Irritiert sieht sie mich an. "Ja, die bin ich."
"Na welch ein Glück, zu Ihnen wollte ich gerade."
"Ja aber warum denn?"
"Ich bin Privatermittlerin, ich muss Sie dringend wegen Herrn Joachim Luckassen vernehmen."






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Alessa

Mitglied
Luckassen


Ich stelle das Telefonbuch senkrecht auf den Schreibtisch, nehme den Brieföffner, halte ihn wie einen Dolch über die Seiten und steche zu. An der getroffenen Stelle öffne ich das Buch: Lore bis Lotu und auf der rechten Seite steht Lotz bis Ludw.
Der Würfel wird über links oder rechts entscheiden. Eine gerade Zahl steht für links, eine ungerade für rechts. Ich würfle eine Drei. Nun stelle ich den Küchenwecker auf dreißig Sekunden, drehe meinen Kopf zur Seite, damit mein Finger unbeeinflusst über die rechte Seite fahren kann. Ich habe mir angewöhnt, mit dem Finger eine Spirale zu zeichnen, von außen nach innen, vom Großen zum Kleinen.
Rrrrrrrrr. Stopp. Mein Finger bleibt bei Joachim Luckassen stehen. Was für ein Glück, was für ein gutes Zeichen, auf Anhieb einen Mann erwischt zu haben.

Eine stämmige Rothaarige öffnet die Wohnungstür. "Ja?"
"Hi", sage ich und lege eine große Portion Begeisterung in meine Stimme. "Jutta? Du musst Jutta sein. Ich bin's, Melanie."
"Hä? Welche Jutta? Hier wohnt keine Jutta."
"Ach? Dann wohnt die hier nicht mehr? Die war aber doch mit Joachim befreundet."
Sie öffnet ihren Mund, ich sehe den Kaugummi auf ihrer Zunge liegen und wette mit mir selbst, dass sie ihn innerhalb der nächsten Minute verschlucken wird.
"Du, ich wollte dich nicht stören oder belästigen. Ich finde schon noch heraus, wo Jutta jetzt wohnt. Schönen Tag noch." Ich lächle sie an und tue so, als wollte ich gehen.
"He, wart mal, nicht so schnell. Also diese Jutta …"
"Ja?"
"Die war mit dem Joachim zusammen? So richtig?" Mit der Frage geht sie einen Schritt auf mich zu.
"Hm." Ich gehe aufs Ganze und nicke. "Sie war auch rothaarig und war seine … seine große Liebe."
Die Rothaarige verschluckt sich am Kaugummi. Ein Hustenanfall will das Ding wieder in ihren Mund befördern. Ich gebe ihr einen vorsichtigen Klaps auf den Rücken. Als der nicht hilft, schlage ich kräftig zu. Das Geräusch verliert sich als Echo im Treppenhaus. Ich mag dieses Geräusch. Und ich liebe es, wenn ich gewinne.
"Tut mir Leid", sage ich, "geht es jetzt besser?"
Sie legt ihren Kopf schief, ihre blauen Augen auf die Wand gerichtet, als stünde dort die Antwort.
"Also ich muss jetzt gehen, entschuldige noch mal die Störung."
"Nein, nein … warte, wenn du vielleicht etwas Zeit hättest, vielleicht auf einen Kaffee?"
"Also ich will dich wirklich nicht aufhalten, oder Joachim. Ist er eigentlich zu Hause?"
"Joachim? Nein, nein, der ist auf Montage, der kommt erst Freitag wieder. Komm doch rein."
"Mir ist das aber unangenehm, so einfach bei dir reinzuplatzen."
"Nun komm schon", sagt sie und zieht mich in die Wohnung.

Die Küche gleicht einem Sammellager für Essensreste aller Art. Wir sitzen an einem kleinen, runden Tisch ohne Tischdecke. Wie unter Zwang starre ich die Krümel und Essensbrocken an, die die Rothaarige nicht zu stören scheinen.
Auf einer Arbeitsplatte spuckt die Kaffeemaschine röchelnd Wasserdampf aus.
Die Rothaarige stellt zwei Becher auf den Tisch: "Ich heiße übrigens Dagmar. Milch? Zucker?"
"Danke, ich trinke ihn schwarz."
"Sag mal, blöde Frage ich weiß, aber warum ziehst du die Handschuhe nicht aus?"
Mir war klar, dass die Frage kommen musste. "Psoriasis."
"Was für ein Ding?"
"Schuppenflechte. Im Winter ist das besonders schlimm. Keine Angst, das ist nicht ansteckend, nur, nun ja, mir ist das peinlich, wenn man auf meine fleckige Haut schaut."
"Ach so. Also mich stört das nicht."
"Lieb von dir, aber ich fühle mich wohler, wenn ich die Handschuhe anbehalten kann."
"Kein Problem. Melanie? War doch richtig, dein Name?"
Ich nicke.
"Also wegen Joachim und Jutta …" Nervös nippt Dagmar an ihrem Kaffee. "Wie lange ist das her, dass du beide zusammen gesehen hast?"
"Schon eine Weile, ich schätze mal drei, vier Jahre."
"Was?" Sie stellt ihren Becher brutal ab und schon war der Tischdreck in flüssiger Gesellschaft. "Ich bin seit vier Jahren mit ihm zusammen!"
"Vielleicht habe ich mich auch verschätzt und es ist fünf Jahre her."
"Nein!", ruft Dagmar und steht auf. "Nein! Ich wusste es, dieser Scheißkerl betrügt mich."
"O Gott, was habe ich getan? Beruhige dich, Dagmar. Vielleicht ist das alles nur ein Missverständnis." Ich unterdrücke ein Grinsen. Ach, ich liebe es, wenn ich gewinne.
"Niemals! Meinst du mir wäre nicht aufgefallen, dass Joachim in letzter Zeit sehr oft auf Montage ist? Und immer zu müde ist für Sex?"
Ich unterbreche Dagmar nicht, lasse sie hin und her laufen.
"Und weißt du, was mir noch auffiel?"
Ich schüttle meinen Kopf.
"Er bringt immer weniger Geld nach Hause. Sagte, dass die Firma nicht mehr so viel zahlt. Ja, ja, von wegen. Wahrscheinlich macht er seiner Jutta teure Geschenke und ich darf hier seinen Dreck wegmachen." Ihr Gesicht ist rot vor Zorn.
"Vielleicht sind sie ja nicht mehr zusammen."
Dagmar hält inne, kaut an ihren Fingernägeln und sieht mich an. "Meinst du? Also gestern, als er mich anrief, sagte er noch wie sehr er mich liebt." Hoffnung macht ihre Augen glänzend.
"Wenn er das gesagt hat …"
"Aber das könnte auch gelogen sein. Schließlich hat er mir auch nie von einer Jutta erzählt."
"So sind die Männer. Niemals erzählen sie einem von ihrer großen Liebe."
Das saß. Dagmar ist sprachlos, aber hinter ihrer Stirn arbeitet es. Sie geht zum Kühlschrank und angelt zwei Bierdosen heraus, eine stellt sie neben meinem Kaffeebecher ab. "Ist ja schon kalter Kaffee, magst'n Bier?"
Ich sehe zum Fenster, höre wie Dagmar ihre Dose öffnet und mit lauten Schlucken trinkt. Vor meinem geistigen Auge stelle ich mir vor, wie das Bier ihre Speiseröhre hinunter rinnt.
"Scheißkerlscheißkerlscheißkerl!"
Ich schiebe ihr meine Dose hin. "Ich darf nicht, du weißt schon, wegen der Schuppenflechte."
"Was soll ich tun? Was würdest du an meiner Stelle tun?"
"Frag ihn! Frag Joachim, ob er Jutta kennt. Wenn er das abstreitet, weißt du Bescheid."
Ihr Gesicht verzieht sich, ihre Unterlippe zittert. Plötzlich fängt sie an zu heulen. "Als ob er das zugeben würde. Jetzt ist alles aus. Vorbei."
"Sieh nicht alles so Schwarz, noch ist nicht alles verloren." Ich tätschle ihren Arm, peinlich darauf bedacht, den Tischdreck nicht zu berühren.
"Weißt du was, Melanie? Ich bin so froh, dass du da bist. Ich würde es nicht aushalten, jetzt allein zu sein." Dankbar sieht sie mich aus verquollenen Augen an.
"Mir tut es so Leid, ehrlich. Wenn ich gewusst hätte … Ich meine, ich hätte niemals nach Jutta gefragt."
"Es ist gut so. Endlich weiß ich Bescheid. Ich sollte dir dankbar sein."
"Schon gut, Dagmar."
Sie wischt mit ihrem Arm über die Nase, den Tränen lässt sie aber freien Lauf. "Ich werde seine Sachen packen und ihm die Tasche vor die Tür stellen."
Und ich schärfe mir ein, ihren linken Arm nicht mehr anzufassen. "Dagmar, vielleicht solltest du ihm noch eine Chance geben. Er muss sich doch verteidigen dürfen."
"Damit er mich weiterhin anlügt?", schreit sie und spuckt mir dabei Bierspeichel ins Gesicht. "Schluss! Mit der Lügerei ist nun Schluss! Ich lasse mir das nicht mehr gefallen. Ich bin doch nicht die Blöde vom Dienst!"
"Gut so. Lass dir nichts gefallen", gebe ich ihr Recht, "aber, du solltest ihm noch eine Nachricht schreiben."
Wieder arbeitet es hinter Dagmars Stirn, die Gedanken scheinen sie anzutreiben, sie weiß nicht mehr wohin mit ihren Händen. Ich drücke ihr meine volle Bierdose hinein.

Auf dem Tisch stehen zehn leere Dosen und eine halb geleerte Flasche Martini. Die Dosen türme ich zu einer Pyramide. Vier Dosen bilden die Basis, drei bilden das erste Stockwerk, zwei das zweite und die letzte ist die Spitze.
Dagmar findet das lustig, ihr Lachen hört sich wie Schulmädchengackern an. "Du bist echt in Ordnung. Weißt du was, warum schläfst du heute Nacht nicht hier?"
"Ja, warum nicht." Ohne hinzusehen, stoße ich die Pyramidenspitze mit dem Zeigefinger an, sie fällt auf den Boden und rollt weiter. Ich wette mit mir, dass die Barcode-Striche zu sehen sind, dann zähle ich bis zehn und sehe hin: Barcode.
"Du solltest jetzt den Brief schreiben", sage ich.
"Hihi." Torkelnd steht Dagmar auf, hält sich am Tischrand fest, und ich ärgere mich darüber, dass die Pyramide wackelt. Eine Dose kippt um und rollt bis zum Tischrand.
"Hier irgendwo - muss doch Papier sein", lallt Dagmar.
"Ich hole mir auch ein Glas", sage ich.
Zwei Martinis später schiebt mir Dagmar den Zettel hin:
Schwein!
Ich weiß alles von dir und Jutta. Scheißkerl! Wie konntest du mich nur so hintergehen?
Es ist aus! Ende. Für immer!

"Sehr gut", sage ich, "du solltest unten noch unterschreiben, das sieht besser aus. Und vergiss das Datum nicht."
Während Dagmar alle Konzentration auf ihre Schreibfinger legt, gehe ich in ihr Badezimmer und durchsuche es nach Schlaftabletten. Auch hier gewinne ich. Den Preis kippe ich in mein unberührtes Martini-Glas. Das Gemisch rühre ich mit einer Zahnbürste um. Dann lasse ich zum Schein das Wasser laufen und sehe in den Spiegel. Eine blonde Strähne lugt unter der braunen Haarpracht hervor, ich verstecke sie wieder.
"Ich muss mal."
"Ich bin fertig", rufe ich und mache Platz für Dagmar.
Ich warte bis sie die Tür hinter mir schließt, gehe in die Küche und tausche die Gläser aus.
Rumms. Polter. Schepper. Aha, Dagmar hat ihre Wut im Badezimmer rausgelassen. Dann höre ich Dagmar fluchen und muss darüber laut lachen.
Ein Blick auf meine Armbanduhr. Nicht schlecht, es ist kurz vor 21:00 Uhr. Eine ungerade Zahl.
"Mann bin ich blau", kichert Dagmar beim Hereinkommen.
"Setz dich", sage ich und lächle sie an.
"Du bist meine beste Freundin. Meine allerallerbeste", nuschelt sie und ihre Finger umklammern das Martini-Glas.
"Ja, du auch."
Glücklich stürzt sie den Martini hinunter. Ich muss nur noch warten, und während ich warte, nehme ich das Geschirrhandtuch, das über der Heizung liegt. Mit dem Tuch ergreife ich die Dose vom Tischrand und drücke sie in der Mitte zusammen, knicke sie, bis sich an den Seiten scharfe Kanten bilden.
Als Dagmars "Hihi" in ein Schnarchen übergeht, stupse ich sie an. Keine Reaktion.
Ich schiebe den Ärmel ihres rechten Arms hoch und setze die Dose auf die Innenseite ihres Handgelenks. Ich achte darauf, dass das Tuch ihren Arm bedeckt.
Mit der scharfen Kante schneide ich ihre Pulsadern auf, dann drücke ich die Dose in ihre andere Hand.

Im Treppenhaus zähle ich die Stufen auf dem Weg nach unten, als bei vierundzwanzig plötzlich eine Tür aufgeht. Gerade. Das war nicht so gut.
"Hallo? Frollein!"
"Ja, bitte?"
"Was war denn da oben los, bei Luckassens?" Die alte Frau sieht mich neugierig an.
Ich lese ihren Namen von der Klingel ab. Elisabeth Schröder.
"Sind Sie Frau Schröder? Frau Elisabeth Schröder?"
Irritiert sieht sie mich an. "Ja, die bin ich."
"Na welch ein Glück, zu Ihnen wollte ich gerade."
"Ja aber warum denn?"
"Ich bin Privatermittlerin, ich muss Sie dringend wegen Herrn Joachim Luckassen vernehmen."













Die Tatwaffe ==> http://alessandra-mancinelli.de/img/luckassen.gif
 

Hagen

Mitglied
Hallo Alessandra,

zunächst möchte ich mal den guten Ralph beruhigen; - von Demenz kann bei Dir wohl nicht die Rede sein, weil Du so brillante Geschichten schreibst. Ich kann mir von Dir auch nicht vorstellen, dass Du dem momentanen Trend: „Ich habe Alzheimer und gebe es zu“, folgst.

Muss ich mich um mich Sorgen machen?
In der Hochliteratur spricht man von ‚einer Identifikationsfigur‘. Merkwürdigerweise konnte ich mich sofort mit Melanie identifizieren, weil sie so ‚schön böse ist‘, böse wie das Leben an sich. So ähnliche Stories denke ich mir nämlich auch aus und schreibe sie auch manchmal in der ersten Person. (Die Clockwork-Orange ist nicht von mir, aber trotzdem geil.)
Was mich allerdings beängstigt ist, dass ich auch Stufen zähle. (Es sind fünfzehn Stufen in mein Arbeitszimmer.) Aber das ist noch nicht alles, in meinem Arbeitszimmer sind 21 Eulen, Hoppla, auf dem Schreibtisch auch eine, also 22 und drei Engel. Ich habe zudem fünfzehn Kugelschreiber und acht Uhren, weil ich niemals die von Gestern trage, eine Spieluhr und drei unterschiedliche Briefbeschwerer, die alles andere als Briefe beschweren, auf meinem Schreibtisch. Ich benutze außerdem ‚Goethes beste Werke‘ als Türstopper.
Jetzt habe ich Angst, dass ich auch anfange zu Morden; - wenn ich bloß das Telefonbuch finden könnte!
Sicher hat es meine liebe Frau schon gut versteckt, weil sie sehr weitsichtig ist. Aber einen Brieföffner und einen Würfel habe ich mir schon besorgt.
Vielleicht tue ich ja Jemandem einen Gefallen…

Viele liebe Grüße
yours Hagen


____________________________
Wenn wir wüssten, dass das Leben nach dem Tod besser als das jetzige ist, würden wir aussterben.
Irgendwer hat sich also was dabei gedacht, uns unwissend zu lassen.

Alessandra Mancinelli
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Hallo Alessa,

bin hier über drei Ecken auf deine Geschichte gestoßen und kann nur widerholen, was meine Vorgänger bereits gesagt haben:

Es ist erfrischend mal was aus Sicht des Bösen zu lesen und das hast Du meisterlich gestemmt. Jetzt noch einen Alfred Hitchcock als Regisseur, das Ganze gestreckt und mit des Meisters unvergleichlichen, spannungsaufbauenden Bildern in Szene gesetzt und fertig wäre ein neues Meisterwerk des perfiden Gruselns.

Ganz, ganz dickes Lob! Ich werde deine Beiträge jedenfalls im Auge behalten, denn ich glaube, dass hier mal wieder ein Autor heranwächst, der durch neue Ideen die Geschichte der Leselupe bereichern kann.

Nur noch eins: Was bitte schön ist ein Telefonbuch? :)

Gruß vom Ironbiber
 

Alessa

Mitglied
Uui. Da muss ich mir arg auf die Zunge beißen, dass ich nicht in den ungeliebten Plauder-Modus verfalle. :D

Hallo Hagen,

ich kann Dich beruhigen. Der Goethe hat Dich gerettet! Denn als Türstopper absorbiert er sämtliche negative Gedanken.
(In Wahrheit ist es natürlich mein Spruch in Deiner Signatur, der Dich vor allem Übel bewahrt. Bin ein wenig stolz, dass Du mich in der Signatur hast. Dankeschön, auch fürs Lesen und kommentieren.)

Hallo Ironbiber,

ich bin so froh, dass Du über drei Ecken auf Luckassen gestoßen bist. Und ich freue mich natürlich auch über Dein dickes Lob und über die Bewertung. Danke, danke!

A. Hitchcock:
So viel mag ich mir jetzt nicht auf den Text einbilden, aber tatsächlich war "man" an einem Drehbuch von Luckassen interessiert. Die fanden das Drehbuch richtig gut, Nur leider war es denen "zu kurz" (war ja auch mein erstes Drehbuch). Die wollten was mit Spielfilmlänge, aber haben nun zumindest meinen Namen irgendwo notiert und würden sich freuen, wenn ich denen mal ein Drehbuch in Spielfilmlänge anbiete. Sie haben zumindest versprochen, es zu lesen.

Nur noch eins: Was bitte schön ist ein Telefonbuch?
Ja, Menschen wie Melanie brauchen so ein Ding mit vielen Seiten und vielen Namen. Sozusagen als fast unerschöpfliche Opfer-Quelle. Wir anderen hier, können auf sowas verzichten Ironbiber. Na ja, außer vielleicht Hagen. :D Den sollte man im Auge behalten. Oder Melanie besucht ihn mal.


Danke an Euch alle, fürs Lesen, kommentieren und bewerten.

LG
Alessa
 
D

Dominik Klama

Gast
Nicht nur, dass es aus der Sicht des Mörders geschrieben ist und zwar eines Mörders, der nicht bestraft wird, und dass dieser Mörder eine Frau ist, möchte man anerkennend vermerken, sondern auch, dass eine Frau es geschrieben hat. Patricia Highsmiths sind sonst eher dünn gesät in solchen Foren.

"Krach, Polter, Schepper" kann man so kaum stehen lassen, weil es die typische Comic- bzw. Teenager-Umgangssprache, die Comic-Sprache nachahmt, ist, daher dem Leser das Signal "Klamotte!" zublinkt, während der Text ihm eher "das Blut in den Adern gefrieren lassen" sollte.

Die Diskussion um Getränkedosen als Mordwaffe ist natürlich eine um Kaisers Bart - und die Sequenz kam mir auch beim Lesen schon "eher etwas an den Haaren herbeigezogen, um noch einen Effekt zu landen" vor, denn: Sind wir nicht in der Küche? Sie zieht eine Schublade auf und vor ihr liegt ein Tranchiermesser! Aus jahrelanger Erfahrung mit zerdrückten Dosen, wage ich ebenfalls zu bezweifeln, dass es die geeigneten Werkzeuge fürs Öffnen von Blutgefäßen sind. Scharf sind so Ecken schon. Aber es ist ja nur dieser eine kleine Punkt, nur diese Ecke. Und während man die durch die Haut zwängt, zerdrückt man durch die Kraftanstrengung ja den Rest immer weiter und schneidet sich wohl selbst am Ende. Dosen kann man aber auch aufschneiden oder aufreißen und dann ist die scharfe Metallkante eigentlich das bessere Messer. (Komplett ausschließen, dass es mit bloß so einer Ecke geht, möchte ich hier nicht.)

Der Text hat mich wieder einmal an den Film "Funny Games" von Michael Haneke erinnert (obwohl, gleich gesagt, dieses Passage jetzt einigermaßen an den Haaren herbeigezogen sein wird), an den ich mich seltsamerweise immer wieder mal erinnere, anscheinend, weil ich gleich beim ersten Sehen zwischen Faszination und Widerwille so geschüttelt war. (Wie man bei solchen Texten ja auch sein soll.) Haneke gibt sich doch gerne als der todernste Moralist und Medienkritiker. Hier will er behaupten, dass man Geschichten über Killer nicht erzählen darf, weil sie das, was geschieht, verharmlosen und aus dem Töten fürs Publikum eine Gaudi machen, solcherart die Grundlage zu neuer realer Gewalt schaffend.

Da ist so ein sommerlicher österreichischer See, um den herum ziemlich formidable Feriendomizile stehen, allerdings alle nur an einer einzigen Straße und jeweils nur immer ein einzelnes Haus. Um diesen See herum bewegen sich nun zwei junge Männer, die, rein so aus Lust und Laune, als Gag, als Gaudi, Bewohner dieser Häuser zu Geiseln nehmen, in Terror versetzen und dann der Reihe nach, wie vorher schon angekündigt, abschlachten. Dies alles mit einem höchst freundlichen, charmanten Gehabe und ewigem Bubengrinsen. Es geht hauptsächlich um ein Ehepaar mit halbwüchsigem Sohn. An einer Stelle gelingt dem Sohn die Flucht zum nächsten Haus, dort aber sind schon alle tot, die Killer waren vorher schon drüben. Sie schnappen ihn, bringen ihn zurück und ermorden ihn. Zwischendurch werden die Leute gezwungen, fröhlich einigen benachbart Wohnenden im Boot zuzuwinken und ihnen die beiden Männer als "netten Besuch" vorzustellen. Als dann alle drei ermordet sind, fahren die Mörder zu den Nachbarn hinüber, sie sind ja jetzt die netten Bekannten der netten Nachbarn... Haneke suggeriert dem Publikum die ganze Zeit über, dass es nicht mit den Opfern, sondern mit den Mördern im Bunde wäre, du sollst dich schlecht fühlen als Publikum, was du für Mordgelüste in dir schlummern hast. Dazu lässt er die Psychopathen wiederholt direkt in die Kamera zwinkern und sprechen: "Gell, Sie wollen ja auch wissen, wie das ausgeht?" Es ist natürlich ein perfider Kunst-Ansatz, weil man allein durch das Lancieren eines angeblichen "Thriller"-Films, den Leuten eingeredet hat, es könnte sich lohnen, ins Kino zu gehen und Geld dafür zu bezahlen, man werde gut unterhalten, man bekomme was geboten. Aber dann ist es eben unterhaltsamer, wenn Leute abgeschlachtet werden, als wenn gar nichts geschehen würde und man neunzig Minuten in einem dunklen Saal mit fremden Menschen ausharren müsste. Letztlich haut man als Künstler dem Publikum vorwurfsvoll um die Ohren, dass es sich Zeit für einen und das, was man denkt und macht, genommen hat. Das ist das Fiese.

Jedenfalls stand für mich - mit der Erfahrung dieses Films - nun keineswegs im Vordergrund, warum bringt sie so zufällig jemanden um, sondern, wie schafft sie es, auch noch die Nächste, also doch wohl diese Alte, zu töten. Da so die Alte kaum mit Gerüchten über die Seitensprünge ihres Gatten zum Trinken zu verleiten sein wird! Die Erzählerin gibt den Hinweis, dass sie es diesmal über die Nachbarbelauerungs-Schiene tun wird: "Da ist was los bei ihren Nachbarn P. und ich muss Sie dazu befragen." A) Die Alte kann sich endlich mal wichtig fühlen. B) Die Alte darf von Herzen über die jungen Leute herziehen.

Allerdings bleibt die Frage, wie sie auch diese Frau wieder zum zu viel Trinken bewegen will, wo die Alte vielleicht seit Jahren keinen Tropfen angerührt hat. Bei Haneke würde sie eine Zeitlang mit ihr reden, sie dann auf den Kehlkopf boxen, wenn sie auf dem Boden zappeln und nach Luft ringen würde, würde sie die Thermoskanne nehmen und sie totschlagen. Die waren nicht zimperlich, da, in dem Film.

Aber hiermit sind wir auch an dem Punkt, wo ich das Meiste gegen den Text habe und ihn letztlich nicht mehr goutiere. Vorstellbar ist so was ja auch als längeres Buch, das von einem angeblich renommierten Krimiautor kommt - oder als Kinofilm. Dann würde ich todsicher irgendwann stöhnen: "Also Burschen! Das kann nicht euer Ernst sein! Was Gescheites ist euch gar nicht eingefallen, dass ihr so übertreiben müsst?"
Nämlich diese Lawine und Steigerung immer neuer Zufälle. Irgendwann sind's der Zufälle zu viel und ein Leser steigt aus.

- Sie sucht sich irgendwen raus. Zufall: Es ist genau die Passende für ihr Szenario.

- Es ist nur eine Person im Haus, eine Frau. Mit ihr lässt sich Freundschaft schließen, mit einem allein lebenden Mann hätte sie keine Freundschaft schließen können, Kinder hätten arg gestört. WG gar nicht abzusehen, wer da gleich zur Tür reinkommt.

- Sie steuert auf eine Lügengeschichte des Partners der Frau zu. Und Zufall: Die Frau hat wirklich einen. Und Zufall: Dem sie aber nicht ganz traut. Und Zufall: Sie ruft ihn nicht einfach schnell mit dem Handy an.

- Sie braucht eine besinnungslose Frau für einen vorgetäuschten Selbstmord. Das erreicht sie durch Alkohol, den die Frau trinkt, ohne, Zufall (sie hat die passend Blinde erwischt), zu merken, dass sie eigentlich nicht mittrinkt. Stellen wir uns vor, das geschähe gerade bei unseren Nachbarn. Schwören würden wir, dass die nicht immer weiter trinken, bis sie besinnungslos vor einer völlig Fremden lallen. Aber Zufall, hier hat sie offenbar die passende, versteckte Alkoholikerin erwischt.

Das will sagen: Ich mag die Grundanlage des Textes als einen, der von der Warte des Bösen her denkt. Ich mag das Verorten im gewöhnlichen Alltag, Mietshaus, neugierige Nachbarn, Bierdosen. Ich mag die steigende Bedrohlichkeit: Die Leserfrage am Ende, wen wird sie noch so erwischen. Ich anerkenne diesen Willen zur "bösartigen" Geschichte. Alles wunderbar, aber dann fällt in der konkreten Durchführung eines lobenswerten Konzepts alles in der Sekunde in sich zusammen, wenn sich der Leser sagt: "Also bitte jetzt, das gibt's doch auf keim Schiff!"
 

Alessa

Mitglied
Hallo Dominik,

ich wertschätze, dass Du Dir sehr viele Gedanken um "Luckassen" gemacht und Dir viel Mühe mit der Antwort gegeben hast. Dafür meinen Dank.

Die Protagonistin agiert nicht nach "normalen" Maßstäben. Darin inbegriffen, auch nicht nach den Maßstäben von uns Lesern.

Ich glaube, der Leser kann der Protagonistin ruhig zutrauen, dass im Falle "wenn dies oder das passiert wäre", sie dann eben anders gehandelt hätte. Es gibt fast unendliche Möglichkeiten, wie eine beliebige Situation sich durch den Flügelschlag einer Motte verändern kann.

In diesem Universum aber, ging es darum, mit dem Schicksal zu spielen, ja sogar zum personifizierten Schicksal zu werden! (Ich glaube, Du vergleichst hier zu sehr mit dem klassischen Krimi.)

Was auch am Anfang und an weiteren Textstellen deutlich wird. Die Protagonistin spielt. Klappt das eine nicht, dann klappt was anderes. Wäre es nicht Luckassen gewesen, dann ein Meiermüllerschmidt. Egal. Wie es der Zufall nun so wollte, haben die "Spielchen" der Prot. funktioniert und dazu gehört auch eine gute Portion Menschenkenntnis.

Und das war aufschreibenswert.

Was mit der alten Frau eine Etage tiefer passiert, steht doch nirgends. Wie kommst Du darauf, dass sie diese Frau auch mit Alkohol abfüllen möchte? Also ich traue der Melanie schon zu, dass sie auf die Situation eingeht, die sie vorfindet.
Ganz beliebig. Spontan. Klug. Sie hat die Fäden in der Hand! Warum sollte Melanie immer auf die gleiche oder selbe Art vorgehen?

Nämlich diese Lawine und Steigerung immer neuer Zufälle. Irgendwann sind's der Zufälle zu viel und ein Leser steigt aus.
Du hast meiner Meinung nach nicht verstanden, dass die Protagonistin mit dem Zufall spielt und somit zum Schicksal der Opfer wird. Sie würfelt. (Würfelt Gott? Ist sie nun Gott? Gibt es überhaupt einen Gott? Wie auch immer, sie entscheidet über Leben und Tod. Weil sie spielt.)
Das was Du meinst, das sind die Zufälle in einem Krimi, mit Hilfe derer der Kommissar dem Mörder auf die Schliche kommt. Aber hier konstruiert die Mörderin den Zufall. Sie kommt nicht passiv irgendwohin, sie "macht" und tut und würfelt und spielt und handelt nach ihrer Regie. Sie regiert. Und zwar anders als "normale" Mörder. Sie hat keinen persönlichen Grund jemanden zu töten. Sie kann es, sie macht es. Und sie ist nicht dumm dabei. Das hat mich fasziniert, weswegen ich diese Geschichte aufgeschrieben habe.)

Alles wunderbar, aber dann fällt in der konkreten Durchführung eines lobenswerten Konzepts alles in der Sekunde in sich zusammen, wenn sich der Leser sagt: "Also bitte jetzt, das gibt's doch auf keim Schiff!"
Du bist bis jetzt der Einzige, der das aussagt. Ich glaube im Literaturbetrieb wird es immer Leser geben, die einen Text gut finden und es wird immer Leser geben, die mit dem Text nichts anfangen können. Völlig normal.

Überdenkenswert wäre es für einen Autor, wenn viele Leser mit einem Text nichts anfangen könnten. Aber das sehe ich hier nicht. Von daher: Nimm es mir nicht übel, wenn ich nun aufgrund Deiner Kritik gar nichts an meinem Text verändere.

Du magst Luckassen für hanebüchen und Quatsch halten, das ist Dein gutes Recht und das darf auch sein und ist völlig in Ordnung.

Schade nur, dass Du Dir so viel Mühe mit Deinem Beitrag gegeben hast. Wie gesagt, ich würdige das.


Liebe Grüße
Alessa
 

Charybdis

Mitglied
Liebe Alessa,

mir gefällt Deine Geschichte wirklich überaus gut. Sie liest sich flüssig und flott, und sie ist in jedem Falle kurzweilig.

Ich persönlich mag zudem Stories mit zielstrebigen Frauen, was auch immer sie treibt, und in Deinem Fall ist es eine Frau mit einer gehörigen Macke im Hirn. In der Realität möchte ich ihr nicht begegnen, aber in der Literatur ist es eine interessante Bekanntschaft.

Mich persönlich stört es übrigens nicht, ob die Entwicklung der Geschichte nicht in jedem Fall stringent oder - stochastisch bewertet - realistisch ist. In jeder einzelnen Story gibt es immer Wenns und Abers. Was wäre beispielsweise gewesen, wenn keine Frau geöffnet hätte? Wenn die Frau kein Bier getrunken hätte? Wenn es keine Aludose gegeben hätte? Hätte, hätte, Fahrradkette... Deine Story zeigt eine Handlungslinie auf, die für mich auch nicht unrealistisch ist (für so eine durchgeknallte Psychopathin wie Deine Protagonistin). Und so macht diese Handlung den Reiz aus, dass es so sein könnte, wie Du es beschreibst.

Ich werde gerne mehr von Dir lesen. (und Aludosen aus der Wohnung räumen) :)
Charybdis
 



 
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