Luftessen

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H

HFleiss

Gast
Luftessen

Als meine Mutter gestorben war,
betrat ich allein die verwaiste Küche,
die Wanduhr tickte noch,
die Gardine wehte am offenen Fenster
und unversehens umgab mich in all
der Widrigkeit wärmende Ruhe.
Zaghaft, ich spürte noch die Hand
Meiner Mutter am Griff,
öffnete ich die Schublade
und nahm eine Gabel heraus,
eine Gabel mit verbogenem Zinken
und angeknabbertem Griff aus braunem Horn.
Ich wog sie in der Hand,
niemand von den Geschwistern
würde sie erben wollen.
Abgekämpft und klein stand ich
am Küchenfenster,
die Gardine wehte mir ins Gesicht
und in der Scheibe
sah ich voll Staunen, dass ich das lustige
Kinderspiel Luftessen übte,
mit der angestoßenen, widerborstigen
Gabel aus braunem Horn.
 

majissa

Mitglied
Vermutlich entfaltet das Gedicht gerade deshalb seine volle Wirkung, weil es aus einer gewissen Distanz heraus geschrieben wurde. Es ist sehr intensiv und anrührend, ohne theatralisch zu wirken. Die "wehende Gardine", die "Hand der Mutter am Schubladengriff" und besonders das "abgekämpft und klein am Küchenfenster" transportieren eine Wehmut, die eindringlicher nicht sein könnte und lange nachwirkt.

Schön.

LG
Majissa
 
H

HFleiss

Gast
Liebe Majissa,

ich bin froh, dass du das Gedicht gelesen und es verstanden hast, auch, dass du festgestellt hast, dass ihm die Distanz bekommen ist. Hab meinen besten Dank.

Lieben Gruß
Hanna
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Hanna,

die Klarheit Deiner Beschreibung tut gut zu lesen. Geschickt machst Du die Emotionen an den Dingen fest. Das ist Dir wirklich gut gelungen.

Die Stelle:
niemand von den Geschwistern
würde sie erben wollen

macht für mein Gefühl den Text kaputt.

Das Fenster ist offen, obwohl die Wohnung verlassen ist. Das lässt darauf schließen, dass der Tod der Mutter erst ganz kurze Zeit zurückliegt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man so kurze Zeit danach in irgendeiner Weise an ein Beerben denken kann. Dieser Gedanke passt einfach nicht in das sonstige Empfinden der Protagonistin.

Man könnte diese zwei Zeilen ohne Weiteres herausnehmen, der Text würde dadurch sehr gewinnen.

Dieses gedankenverlorene "Luftessen" am Schluss ist für mich sehr stimmig, wie überhaupt die Beschreibung des Erlebnisses.

Liebe Grüße von Vera-Lena
 

Black Pearl

Mitglied
Hi Hanna,

schön beschrieben, aber für die kindlichen Wahrnehmung stört mich der Begriff Widrigkeit enorm - auch wenns aus der Distanz beschrieben ist, bringt die Erwachsene mir zu sehr in den Vordergrund... den Begriff würd ich rausnehmen...

CG, Black Pearl
 
H

HFleiss

Gast
Liebe Verena, liebe black pearl,

das mit dem Beerben hat darin seinen Grund, dass die Szene spielt während des Ausräumens der Wohnung nach dem Tod der Mutter. Ich dachte gerade, dass dies die Situation verdeutlichen würde, sonst gäben diese Verse ja überhaupt keinen Sinn. Black pearl, es funktioniert nicht so, dass das Ich wirklich ein Kind ist, sondern sich angesichts eines wohlbekannten Gegenstandes aus der Kindheit an ein trauriges (ich sage lustiges, weil Kinderspiele eben bei aller Traurigkeit auch immer etwas Lustiges an sich haben) Kinderspiel erinnert: das ständige Hungerhaben in der Nachkriegszeit (das So-tun-als-ob), das ja für immer mit der Mutter in Verbindung gebracht wird.
Habt meinen herzlichsten Dank fürs Lesen und eure Meinung.

Lieben Gruß
Hanna
 
P

Prosaiker

Gast
das definitiv beste, was ich bisher von dir las.

Ich wog sie in der Hand,
niemand von den Geschwistern
würde sie erben wollen
dieser teil ist der beste. wer schon kann sich lösen vom menschsein. natürlich verdammt einen die moral zu ausschließlicher trauer. aber so einfach ist das nicht. da sind trotzdem noch andere gedanken im kopf - wie in diesem fall der nüchtern-ökonomische gedanke vom erbnis.
eine gute momentaufnahme, sinnvoll verdichtet.
vg,
Prosa.
 
H

HFleiss

Gast
Lieber Prosaiker,

hab Dank für deine Meinung. Wie ich gerade mit diesen Versen umgehen werde, entscheide ich bei der nächsten Überarbeitung.
Ich halte sie auch für wichtig.

Lieben Gruß
Hanna
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Hanna,

an ein Kind hatte ich nicht gedacht. Der einzige Hinweis dafür, wäre das Wort abgekämpft und "klein" gewesen, aber das habe ich nicht als kindlich klein, sondern als erschöpft gelesen.

Leider finde ich aber keinen Hinweis dafür, dass die Wohnung ausgeräumt wird. Sicher wirst Du da noch etwas einfügen können, sonst wäre es wirklich schade um diesen Text.

Liebe Grüße von Vera-Lena
 

majissa

Mitglied
Ist es nicht völlig wurscht

ob es aus Kinder- oder Erwachsenensicht geschrieben ist, die Wohnung leer steht oder gerade ausgeräumt wird? Das ändert doch nichts an der Trauer. So, wie es ist, wirkt es ohne große Erklärungen aus sich selbst heraus. Ich glaube kaum, dass nachträglich eingefügte Zeit- oder Ortsangaben, geschweige denn Erklärungen die näheren Umstände betreffend dem Werk dienlich sein werden.

LG
Majissa
 
H

HFleiss

Gast
Liebe Majissa und Verena,

ich lass den Text immer eine Weile liegen und nehme ihn mir dann wieder vor, dann sehe ich die Vorzüge und Schwächen immer viel deutlicher, Verena. Aber danke dir für deinen Hinweis.

Majissa, ich habe das genauso empfunden, dass die Situation wirklich egal ist, ich wollte sie nur andeuten. Denn, und das habe ich erlebt, beim Ausräumen der Wohnung, das ja schnell geschehen muss wegen des Vermieters und des Renovierens usw., gibt es einen zweiten Tod, dann ist auch der Ort verschwunden, dann bleibt nur noch die Erinnerung in einem selbst, und man klammert sich sogar an so alltägliche Gegenstände wie eine verbogene Gabel, an der ja Geschichten hängen. Wie traurig ist die ausgeräumte Wohnung eines Toten, es ist, als hätte man ihn beiseite geschafft wie seine Gegenstände. Mit Erbschleicherei hat das überhaupt nichts zu tun. Aber das wäre ein neues Gedicht.

Lieben Gruß
Hanna
 

Black Pearl

Mitglied
Hi Hanna,

das ist mir schon klar gewesen (aus der Distanz geschrieben war als erwachsene Protagonistin gemeint), aber es erhält den kindlichen Blick der Erinnerung, der mir durch Widrigkeit so hart abgekühlt wirkt - wenn Absicht, ists ok, dann ein Bruch, der dem Ganzen noch eine weitere Note verleiht... Der Begriff drängte sich eben für mich zu sehr in den Vordergrund... stört die sonstige mitschwingende Emotion...

CG, Black Pearl
 
S

Sandra

Gast
Hallo Hannah,

beim Lesen störte mich die gleiche Stelle wie Vera-Lena.

niemand von den Geschwistern
würde sie erben wollen

Vielleicht ist es der Perspektivwechsel. Oder mich stört diese Bemerkung, weil eine Art Ver- oder Beurteilung mitschwingt. Ansonsten hält mich der Text etwas auf Distanz. Ich vermisse die Wärme, die du transportieren wolltest und die auch der ein oder andere lesen kann. Kleine Merkmale wie die Gabel oder der angeknabberte Griff haben Wiedererkennungswert. Jeder hat wohl so einen Gegenstand in der Schublade. Meistens sind dies wirklich Erbstücke, die eine besondere Erinnerung an die Kindheit mit sich tragen. Diese besondere Beobachtung hat mir in deinem Gedicht sehr gut gefallen.

LG
Sandra
 



 
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