Lupenreiner Atomkrieg

Botschafter

Mitglied
Es geschah zu einer Zeit, in der die Menschen im Begriff waren, die Zerstörung der eigenen Art zu vollenden. Zwietracht, Hass und Neid bestimmten das Leben auf der Erde. Die geistigen Führer aller Länder der Welt trafen sich zu einem letzten Gipfeltreffen, um die Regeln für den bevorstehenden Atomkrieg festzulegen. Als man alle Formalitäten geklärt hatte und sich einig darüber war, dass erst gebombt würde, wenn alle Regierungen in den Strahlenschutzbunkern wären, ging man zum geselligen Teil des Treffens über und lamentierte bei Champagner und Kaviar über dieses und jenes. Die bereits leicht angeheiterte Gesellschaft wollte sich eben auflösen, als die Erde zu beben begann, die Decke des Tagungsgebäudes aufbrach und durch das entstandene Loch eine bärtige Gestalt in den Raum geschwebt kam. Nach der Landung tat der Bärtige kund, dass er Gott sei und der Menschheit die Tafeln der Weisheit übergeben wolle, damit wieder paradiesischer Frieden auf seiner Welt einkehre. In einem kurzen Gespräch mit einem europäischen Abgeordneten präzisierte der alte Mann, dass er nach reiflichem Überlegen beschlossen habe, der Welt Allwissenheit zu schenken. Dies in der Hoffnung und im festen Glauben daran, dass die Menschen die Sinnlosigkeit ihres zerstörerischen Tuns erkennen und es alsdann beenden würden.
Die Oberhäupter der Welt betrachteten die Tafeln, die der Mann "Tafeln der Weisheit" genannt hatte. „‘Glückseeligkeit‘, scheint mir an dieser Stelle aber nicht das passende Wort zu sein“, ereiferte sich ein Vertreter Frankreichs.
„Und hier, welch plumpe Formulierung: ‚Lasst dem Gedanken seine Freiheit‘, amateurhaft“, fauchte ein Argentinier.
„Dies soll das Wissen Gottes sein? Das ist unmöglich; hier stimmt doch mit der Vergangenheitsform etwas nicht.“
„Genau, Kollege, und hier, sehen Sie sich das an, sollte doch wohl ein Vers sein; total missraten.“
„Das ist ja lächerlich, die Hälfte der Sätze besitzt keinen Schlusspunkt und überhaupt, scheussliche Darstellung, einfach scheusslich.“
„Da bin ich aber genau Ihrer Meinung, geradezu unleserlich.“
So ging die Meinung durch die Reihen und der Entschluss, den alten Mann als Lügner zu brandmarken war schnell gefasst. Man übergab ihn den Pakistanis, welche gemäss Abmachung die erste Atombombe abfeuern sollten, mit dem Auftrag, den Bärtigen auf eben diese Bombe zu binden und ihn so für seinen unglaubwürdigen Auftritt und die Zerstörung des Tagungsgebäudes zu bestrafen.
Alsdann reisten die Führer in Ihre Länder zurück und begaben sich in die Schutzbunker.
Vor genau 1'637 Tagen riefen uns die Pakistani an und bestätigten, dass die Bombe mit dem Alten „an Bord“ unterwegs sei, worauf auch wir unser Arsenal abfeuerten.
Seither sitzen wir hier in der Einsamkeit und warten darauf, dass irgendwann wieder die Sonne aufgeht.
 



 
Oben Unten