Märchen: Ein glücklicher Fluss

Rudolf Barth

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Anmerkung: Die Mainschleife bei Volkach liegt im Zentrum des fränkischen Weinbaugebietes ca. 25 Km östlich von Würzburg, und es gibt sie wirklich.
Die Geschichte, wie sie entstand hingegen ist reine Fantasie.

Ein glücklicher Fluß -
oder - wie die Mainschleife entstand.

Es war einmal ein kleines Rinnsal hoch droben im Fichtelgebirge, das nannte man „Main“. Und dieses Rinnsal plätscherte Tag für Tag vor sich hin, ohne irgend etwas aufregendes zu erleben. Es kannte mittlerweile jeden Baum, jeden Busch und auch jeden Stein dem es auf seinem Weg begegnete und erfuhr somit auch nichts Neues, denn die Bäume, Büsche und Steine standen ja fest an ihrem Platz und konnten somit auch nicht mehr erzählen, als das was sie jeden Tag sagten: „Hallo kleines Rinnsal, wie geht es dir denn heute“? Und weil das kleine Rinnsal jeden Tag den gleichen Weg fließen musste und immer nur die gleichen Bäume und Büsche und Steine traf, da beschloss das Rinnsal eines Tages eine Reise zum fernen großen Fluss Rhein zu machen. Aber nicht nur das wollte es unternehmen, sondern auf seiner weiten Reise wollte es auch die schönsten Orte Frankens besuchen und kennenlernen.
Gesagt, getan machte sich das Rinnsal mit dem Namen „Main“ also auf den Weg aus dem hohen Fichtelgebirge und kam zuerst in die alte Bischofsstadt Bamberg um von dort aus weiter an Haßfurt vorbei nach Schweinfurt zu kommen, wo es all die fleißigen Fabrikarbeiter kennenlernte. Nun hätte es ja, um möglichst schnell zum Rhein zu kommen, gerade aus nach Karlstadt und Gemünden fließen können, wäre da nicht der Wunsch gewesen, die schönsten Orte Frankens zu besuchen.
Und deshalb machte das Rinnsal in Schweinfurt eine Biegung und floss nun nach Süden in Richtung Kitzingen und Ochsenfurt um dann auch wieder nach Norden und damit nach Würzburg zu fließen. Aber halt, soweit sind wir noch gar nicht. Denn als das Rinnsal von Schweinfurt aus an Wipfeld, Stammheim, Ober- und Untereisenheim und Fahr vorbeikam, da staunte es nicht schlecht über die großen und steilen Weinberge zu beiden Seiten und dachte bei sich, wie schön doch diese Gegend sei.
Und dann floss es von Fahr kerzengerade aus direkt nach Escherndorf und Köhler.

Und als es schließlich in Kitzingen ankam, da bemerkte es, dass es auf seinem Weg ja gar nicht nach Volkach gekommen war. Und als es sich ganz sicher war, dass es bei seiner Reise, die schönsten Orte Frankens zu besuchen, die Stadt Volkach, den schönsten Ort Frankens überhaupt, vergessen hatte, da begann es bitterlich zu weinen. Es vergoss so viele Tränen, dass aus dem kleinen Rinnsal nach kurzer Zeit ein richtiger Bach geworden war. Und dabei weinte es so laut, dass es sogar der liebe Gott im Himmel hörte und sich schleunigst bei seinen Engeln danach erkundigte was denn das kleine Bächlein so traurig stimmte.

In der Zwischenzeit weinte der kleine Bach noch ganz verzweifelt, so dass auch der liebe Gott nicht mehr länger zuhören konnte und mit seiner tiefen, sonoren Stimme zu dem kleinen Bächlein sprach: „Na mein kleiner Main, weshalb bist du denn so traurig“? Und das kleine Bächlein erzählte nun dem lieben Gott seine Geschichte und dass es so traurig war, weil es auf seinem Weg zu den schönsten Orten Frankens nicht nach Volkach kommen konnte. Daraufhin sprach der liebe Gott: „Aber aber, deshalb musst du doch nicht so traurig sein. Ich werde dir schon helfen“. Und da beschloss der Liebe Gott, dem kleinen Bächlein Main zu helfen. Und so sprach Gott weiter: „Lieber kleiner Main, ich werde dir zu Weihnachten einen Berg schenken“. Doch der kleine Bach sagte: „Ach lieber Gott, das ist ja sicher ganz gut gemeint, aber was soll ich mit einem Berg, ich kann doch keinen Berg hinauf fließen“? Doch der liebe Gott erwiderte wieder mit seiner tiefen sonoren Stimme: „Du, kleiner Bach, lass mich nur machen und vertrau auf mich“.

Und siehe da, der liebe Gott baute zwischen Fahr und Escherndorf einen Berg, wodurch dem kleinen Bach der Weg nach Kitzingen erst einmal abgeschnitten war. Das ist dieser Berg, auf dem später die Menschen die Vogelsburg errichtet haben, die auch heute noch auf dem gleichen Platz wie damals steht. Und damit war dem kleinen Bach Main sein Weg versperrt und er konnte gar nicht anders, als nun um diesen Berg herum direkt nach Volkach zu fließen.

Als er auf diesem neuen Weg kurz vor Volkach war, wurde er schon von weitem von der Madonna im Rosenkranz begrüßt, die ihm von ihrem Kirchlein, dem heutigen Kirchberg, inmitten der Weinberge fröhlich zuwinkte. Auch in Volkach standen die Bürger der Stadt am Ufer, angeführt von dem Volkacher Ratsherrn mit seinen Weinprinzessinnen, um den neuen Besucher, den Main, in ihrer Heimatstadt Volkach willkommen zu heißen. Über einen solchen Empfang war der kleine Bach so gerührt, dass er abermals Tränen weinte - diesmal aber Tränen des Glück´s. Und er weinte so viele Freudentränen, dass er abermals wuchs und sein Wasser immer mehr wurde. Dabei war er so stolz, dass ausgerechnet er, das ehemals kleine Rinnsal aus dem Fichtelgebirge, hier in Volkach so herzlich empfangen wurde, dass seine Brust vor Stolz anschwoll. Und durch diesen Stolz und die Freude über den herzlichen Empfang wuchs der Main förmlich über sich hinaus und wuchs weiter und weiter bis er ein richtiger großer Fluss geworden war, so wie wir ihn heute noch kennen.

Und aus lauter Dankbarkeit darüber, dass der kleine Main ein solch großer Fluss werden durfte, trägt er auch heute noch tagein tagaus die großen Last- und Personenschiffe auf seinem Rücken den Weg hinauf und wieder hinunter, ohne sich über die Mühe zu beklagen.

Und auch heute noch kommen Jahr für Jahr viele tausend Menschen an die berühmte Mainschleife, um einmal dieses Geschenk Gottes aus der Nähe zu sehen.

An diese Geschichte sollten wir immer denken, wenn wir wieder einmal gedankenverloren über die Mainbrücke zwischen Volkach und Astheim gehen und gar nicht bemerken, dass unter uns ein glücklicher Fluss seine Schleife zieht. Glücklich, weil er auf seiner weiten Reise zum Vater Rhein auch nach Volkach, dem schönsten Ort Frankens, kommen darf.
 



 
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