H
HFleiss
Gast
Ob der Junge schon gegangen war? Sie beschloss, noch ein Weilchen zu warten. Bis die Sonne aufgegangen war, so lange warten, bis der Junge weg sein würde. Ihr fröstelte, der Morgen war kühler, als sie angenommen hatte. Sie kuschelte sich in den Blazer, als sei er die Brust des Jungen. Es war August, doch man roch schon den September.
Osten lag hinter den Häusern, dort würde die Sonne aufsteigen. Noch war alles ringsum Schatten, es war zu kühl für August. Diese Stille. Unversehens fiel ihr die Stille auf. Solche Stille vermutete sie hier nicht. Nicht in der Innenstadt. Die Hauptstraße, über die tagsüber die Autos zischten, konnte sie von hieraus nicht sehen, aber man hörte sie. Jetzt schon? Lieferfahrzeuge, dachte sie.
Sie wartete. Darauf, dass der Junge endlich ginge, auf die Sonne mit ihrer Wärme. Und dass der Kopfschmerz endlich nachließe. Seltsam, wenn sie so aufs Wasser sah, konnte sie vergessen, dass das da unten nur die Spree war, eingezwängt in schmutzigschwarze Mauern, eine Gefangene. Ein reißender Fluss, dem man Fesseln angelegt hatte. Sie lachte, ein reißender Fluss – die Spree? Sie beugte sich über das Kanalgeländer. Möwen und Tauben hatten hier ihre Spuren hinterlassen, erschrocken reinigte sie sich die Finger mit dem Taschentuch.
Wenn Martin das wüsste, das mit dem Jungen. Martin: Usedom, Achterwasser, die Buchenwälder, FKK, die schönste Zeit mit ihm. Diese Zeit gehörte ihr, die würde sie sich von niemandem nehmen lassen. Martin, der über alle Berge war und an dessen Gesicht sie sich kaum noch erinnern konnte. Die vier Jahre mit ihm waren schnell vergangen.
Plateausohlen klatschten aufs Straßenpflaster, sie schrak zusammen. Zwei Mädchen, sie schwatzten und lachten, und ihre Stimmen hallten von den Häusern wider. Schwarzumrandete zyklamrote Münder. Sie sah ihnen nach, bis sie in eine Seitenstraße einbogen. Sie hätte eine Selbstmörderin sein können, so früh am Morgen und so weit über das Kanalgeländer gebeugt. Die Mädchen hatten nicht hochgeblickt.
Zehn Minuten hatte sie dem Jungen gegeben. Zehn Minuten, um zu verschwinden aus ihrer Wohnung. In zehn Minuten würde sie gehen, nach Hause, zurück in die Wohnung. In ihre Wohnung. Die Fenster würde sie bis zum Anschlag öffnen, das Bett neu beziehen und zum Staubsauger greifen. Jede Spur des Jungen vertilgen.
Die Malagaflasche fiel ihr ein, die sie sich gegriffen hatte, ehe sie losging und die sich in der Umhängetasche beulte. Bloß keinen Fuselgestank in der Wohnung.
„Am liebsten Malaga.“ Sie hatte ihn gefragt, welchen Wein er wolle.
Sie machte sich nichts aus Wein, schon gar nichts aus schwerem, der brachte nur Kopfschmerzen. „Wirklich?“, hatte sie gefragt, „Malaga, solch Zeugs trinkst du? Ohne das kannst du wohl nicht?“
Der Junge war errötet, und sie schämte sich ihrer Frage. Den Malaga hatte sie dann aus der Kneipe geholt, der Junge sollte sich wohl fühlen bei ihr.
Die ganze Nacht hatten sie kein Auge zugemacht. Der Junge war erstaunt: „Und ich hatte immer gedacht, so eine Alte, du bist doch schon fast fünfzig? So eine Alte, dachte ich immer, die bringt es nicht mehr.“ Sie musste ihm den Mund zuhalten. Nein, diese Nacht sollte ihr niemand verderben, nicht mal der Junge. Obwohl er ein Recht darauf gehabt hätte. Dem stand was Jüngeres zu, aber gestern abend war sie eben diejenige, welche.
Sie hatte nichts wissen wollen von dem Jungen – schwere Kindheit, Masern, Mumps und Windpocken und die ganze Kinderscheiße. Als er davon anfangen wollte, dass er arbeitslos sei und dass ihn seine Eltern anstinken würden, bremste sie ihn: „Red nicht, ich bin nicht deine Mutter, und ich will von dir heute nur eines.“ Der Junge hatte beleidigt geschwiegen.
Sie verabscheute sich. Nur nicht an Martin denken. Martin? Der würde sie auslachen: So weit war sie schon heruntergekommen, auf das halbe Kind, den Jungen. Das musste ja so kommen, würde er sagen. Schon seltsam, dass man nur Frauen den Vorwurf mit den halben Kindern machte. Ach, Martin. Er konnte ihr gestohlen bleiben. Wenn er überhaupt noch an sie dachte.
Hätte der Junge sie nicht angesprochen – nichts wäre passiert. Sie hätte ihre Zigarette zu Ende geraucht und wäre nach Hause gegangen, allein wie immer. Aber er hatte sie angesprochen. Sie saß auf der Bank am Wasser und rauchte, und plötzlich stand der Junge vor ihr. Schöner Abend und so, und dann wussten sie, dass sie zu ihr nach Hause gehen würden. Der Junge war blond, ja blond war er. Weiß Gott, schon jetzt verschwamm sein Gesicht. Auf dem Weg zur Wohnung fragte sie, wie er hieße, und er sagte: „Mister X.“
„Dann bin ich Madam Tausendschön“, sagte sie. Der Junge hatte gegrinst, sie ungeschickt geküsst und ihr ins Ohr geflüstert: „Tausendschönchen.“
Der Junge war einer, der sich sonst nicht traute. Natürlich wusste sie, der, den sie suchte, war er nicht. Wenn sie ehrlich wäre, würde sie wissen, warum sie ihn mitgenommen hatte: aus Verzweiflung.
Ja, sie war verzweifelt. Immer, schon als kleines Mädchen, hatte sie sich vorgestellt, wie es sein würde, sobald sie erwachsen sei: Sie würde einen liebevollen, gutaussehenden, hochintelligenten und vermögenden Mann haben, den sie innigst liebte, auch ihre Kinder von ganzem Herzen lieben und mit allen Leuten in Frieden leben, und das bis ans Ende aller Tage. Mädchenträume. Sie hatte lange gebraucht, bis sie sich von dem ganzen Quatsch gelöst hatte. Martin gehörte noch dazu. Zu dem Quatsch. Immer hatte sie sich beschieden. Nichts war davon wahr geworden, nicht der Mann, nicht die Kinder, sie war allein geblieben. Das Geschwätz im Büro war ihre Welt. Trostlos. Was nützte ihr die Ehrlichkeit, jetzt noch?
Martin konnte ihr gestohlen bleiben: Niemals etwas bereuen. Das redete sich so dahin. Natürlich würde sie bereuen, noch nicht jetzt, aber später, morgen vielleicht. Und der Junge? Er würde sie vergessen, schneller als schnell. Je schneller, desto besser.
Die Malagaflasche war schwer, in der linken Schulter, über der sie die Tasche trug, zwickte es. So schwer, als sei die Hälfte noch drin. Und wenn sie das Ding einfach in die Spree würfe?
Sie sprang zurück, das aufspritzende Wasser sollte ihre Kleidung nicht beschmutzen, obwohl es hier oben, wo sie stand, ausgeschlossen war, dass ein Spritzer hinaufgelangte. Die Flasche schwamm, sie schluckte das schwarze Wasser, als ob sie selbst am Verdursten sei. Nur noch der Hals war zu sehen, grünes Glas mit der roten Halskrause, in schwarzem Wasser.
„Schreib mir deine Adresse auf“, hatte sie gesagt, ehe sie ging, und gewusst, dass sie das Papier wegwerfen würde. Der Junge hatte sich aus der Bettdecke gewickelt und folgsam etwas auf die Zigarettenschachtel gekritzelt, sie lag auf dem Nachttisch.
Am besten, sie würde jetzt losgehen. Die zehn Minuten waren vergangen. Sie hatte noch fünf Minuten dazugegeben. Eine Gnadenfrist. Sie lachte. Das Lachen schepperte von den Hauswänden.
Schön der Morgen. Und jetzt die Sonne! Endlich war sie aufgegangen, sie glitzerte auf der Spree. Wie Erz. Wie Gold und Silber. Das Wasser floss und floss, eine Möwe flog drüber hin, ein Angler stellte auf der anderen Uferseite seine Tasche ab.
Wohl doch Silber, entschied sie.
Osten lag hinter den Häusern, dort würde die Sonne aufsteigen. Noch war alles ringsum Schatten, es war zu kühl für August. Diese Stille. Unversehens fiel ihr die Stille auf. Solche Stille vermutete sie hier nicht. Nicht in der Innenstadt. Die Hauptstraße, über die tagsüber die Autos zischten, konnte sie von hieraus nicht sehen, aber man hörte sie. Jetzt schon? Lieferfahrzeuge, dachte sie.
Sie wartete. Darauf, dass der Junge endlich ginge, auf die Sonne mit ihrer Wärme. Und dass der Kopfschmerz endlich nachließe. Seltsam, wenn sie so aufs Wasser sah, konnte sie vergessen, dass das da unten nur die Spree war, eingezwängt in schmutzigschwarze Mauern, eine Gefangene. Ein reißender Fluss, dem man Fesseln angelegt hatte. Sie lachte, ein reißender Fluss – die Spree? Sie beugte sich über das Kanalgeländer. Möwen und Tauben hatten hier ihre Spuren hinterlassen, erschrocken reinigte sie sich die Finger mit dem Taschentuch.
Wenn Martin das wüsste, das mit dem Jungen. Martin: Usedom, Achterwasser, die Buchenwälder, FKK, die schönste Zeit mit ihm. Diese Zeit gehörte ihr, die würde sie sich von niemandem nehmen lassen. Martin, der über alle Berge war und an dessen Gesicht sie sich kaum noch erinnern konnte. Die vier Jahre mit ihm waren schnell vergangen.
Plateausohlen klatschten aufs Straßenpflaster, sie schrak zusammen. Zwei Mädchen, sie schwatzten und lachten, und ihre Stimmen hallten von den Häusern wider. Schwarzumrandete zyklamrote Münder. Sie sah ihnen nach, bis sie in eine Seitenstraße einbogen. Sie hätte eine Selbstmörderin sein können, so früh am Morgen und so weit über das Kanalgeländer gebeugt. Die Mädchen hatten nicht hochgeblickt.
Zehn Minuten hatte sie dem Jungen gegeben. Zehn Minuten, um zu verschwinden aus ihrer Wohnung. In zehn Minuten würde sie gehen, nach Hause, zurück in die Wohnung. In ihre Wohnung. Die Fenster würde sie bis zum Anschlag öffnen, das Bett neu beziehen und zum Staubsauger greifen. Jede Spur des Jungen vertilgen.
Die Malagaflasche fiel ihr ein, die sie sich gegriffen hatte, ehe sie losging und die sich in der Umhängetasche beulte. Bloß keinen Fuselgestank in der Wohnung.
„Am liebsten Malaga.“ Sie hatte ihn gefragt, welchen Wein er wolle.
Sie machte sich nichts aus Wein, schon gar nichts aus schwerem, der brachte nur Kopfschmerzen. „Wirklich?“, hatte sie gefragt, „Malaga, solch Zeugs trinkst du? Ohne das kannst du wohl nicht?“
Der Junge war errötet, und sie schämte sich ihrer Frage. Den Malaga hatte sie dann aus der Kneipe geholt, der Junge sollte sich wohl fühlen bei ihr.
Die ganze Nacht hatten sie kein Auge zugemacht. Der Junge war erstaunt: „Und ich hatte immer gedacht, so eine Alte, du bist doch schon fast fünfzig? So eine Alte, dachte ich immer, die bringt es nicht mehr.“ Sie musste ihm den Mund zuhalten. Nein, diese Nacht sollte ihr niemand verderben, nicht mal der Junge. Obwohl er ein Recht darauf gehabt hätte. Dem stand was Jüngeres zu, aber gestern abend war sie eben diejenige, welche.
Sie hatte nichts wissen wollen von dem Jungen – schwere Kindheit, Masern, Mumps und Windpocken und die ganze Kinderscheiße. Als er davon anfangen wollte, dass er arbeitslos sei und dass ihn seine Eltern anstinken würden, bremste sie ihn: „Red nicht, ich bin nicht deine Mutter, und ich will von dir heute nur eines.“ Der Junge hatte beleidigt geschwiegen.
Sie verabscheute sich. Nur nicht an Martin denken. Martin? Der würde sie auslachen: So weit war sie schon heruntergekommen, auf das halbe Kind, den Jungen. Das musste ja so kommen, würde er sagen. Schon seltsam, dass man nur Frauen den Vorwurf mit den halben Kindern machte. Ach, Martin. Er konnte ihr gestohlen bleiben. Wenn er überhaupt noch an sie dachte.
Hätte der Junge sie nicht angesprochen – nichts wäre passiert. Sie hätte ihre Zigarette zu Ende geraucht und wäre nach Hause gegangen, allein wie immer. Aber er hatte sie angesprochen. Sie saß auf der Bank am Wasser und rauchte, und plötzlich stand der Junge vor ihr. Schöner Abend und so, und dann wussten sie, dass sie zu ihr nach Hause gehen würden. Der Junge war blond, ja blond war er. Weiß Gott, schon jetzt verschwamm sein Gesicht. Auf dem Weg zur Wohnung fragte sie, wie er hieße, und er sagte: „Mister X.“
„Dann bin ich Madam Tausendschön“, sagte sie. Der Junge hatte gegrinst, sie ungeschickt geküsst und ihr ins Ohr geflüstert: „Tausendschönchen.“
Der Junge war einer, der sich sonst nicht traute. Natürlich wusste sie, der, den sie suchte, war er nicht. Wenn sie ehrlich wäre, würde sie wissen, warum sie ihn mitgenommen hatte: aus Verzweiflung.
Ja, sie war verzweifelt. Immer, schon als kleines Mädchen, hatte sie sich vorgestellt, wie es sein würde, sobald sie erwachsen sei: Sie würde einen liebevollen, gutaussehenden, hochintelligenten und vermögenden Mann haben, den sie innigst liebte, auch ihre Kinder von ganzem Herzen lieben und mit allen Leuten in Frieden leben, und das bis ans Ende aller Tage. Mädchenträume. Sie hatte lange gebraucht, bis sie sich von dem ganzen Quatsch gelöst hatte. Martin gehörte noch dazu. Zu dem Quatsch. Immer hatte sie sich beschieden. Nichts war davon wahr geworden, nicht der Mann, nicht die Kinder, sie war allein geblieben. Das Geschwätz im Büro war ihre Welt. Trostlos. Was nützte ihr die Ehrlichkeit, jetzt noch?
Martin konnte ihr gestohlen bleiben: Niemals etwas bereuen. Das redete sich so dahin. Natürlich würde sie bereuen, noch nicht jetzt, aber später, morgen vielleicht. Und der Junge? Er würde sie vergessen, schneller als schnell. Je schneller, desto besser.
Die Malagaflasche war schwer, in der linken Schulter, über der sie die Tasche trug, zwickte es. So schwer, als sei die Hälfte noch drin. Und wenn sie das Ding einfach in die Spree würfe?
Sie sprang zurück, das aufspritzende Wasser sollte ihre Kleidung nicht beschmutzen, obwohl es hier oben, wo sie stand, ausgeschlossen war, dass ein Spritzer hinaufgelangte. Die Flasche schwamm, sie schluckte das schwarze Wasser, als ob sie selbst am Verdursten sei. Nur noch der Hals war zu sehen, grünes Glas mit der roten Halskrause, in schwarzem Wasser.
„Schreib mir deine Adresse auf“, hatte sie gesagt, ehe sie ging, und gewusst, dass sie das Papier wegwerfen würde. Der Junge hatte sich aus der Bettdecke gewickelt und folgsam etwas auf die Zigarettenschachtel gekritzelt, sie lag auf dem Nachttisch.
Am besten, sie würde jetzt losgehen. Die zehn Minuten waren vergangen. Sie hatte noch fünf Minuten dazugegeben. Eine Gnadenfrist. Sie lachte. Das Lachen schepperte von den Hauswänden.
Schön der Morgen. Und jetzt die Sonne! Endlich war sie aufgegangen, sie glitzerte auf der Spree. Wie Erz. Wie Gold und Silber. Das Wasser floss und floss, eine Möwe flog drüber hin, ein Angler stellte auf der anderen Uferseite seine Tasche ab.
Wohl doch Silber, entschied sie.