Maler Wolfgang

Maler Wolfgang





Sie nannten Wolfgang immer den Maler. Auch gerne, den Maler Wolfgang.
Wie er so früher, als Kind, den ganzen Tag auf seinem Butterbrotpapier herumgekritzelt hatte, das drückt Tante Gerda immer noch eine Träne ins Auge. „Der kleine Wolfi“, sagt sie oft, „dass der sich so verändert hat?“

Auf den ersten Blick ist Wolfgang ganz der Alte. Macht immer noch den krummen Rücken.
Und genau so steht er da, als Mutti auf dem Bahnsteig zu juchen anfängt. Erst denke ich, es ist ihm peinlich, und er dreht sich absichtlich weg. Dann erst sehe ich, dass er sich auf den Weg zur Unterführung macht.
„Der hat uns nicht gesehen“, sagt Mutti, und Tante Gerda: „lauf dem doch mal nach, Junge!“
Aber zum Glück schaltet sich der Alte rechtzeitig ein. Der hat den ganzen Tag noch nichts gesagt. Kein einziges Sterbenswort! Und auf einmal geht der los wie die Feuerwehr, wenn´s am Brennen ist.

„JUNGE!“

Er brüllt so laut, dass sich die ganze Mannschaft auf dem Bahnsteig wie auf eins umdreht.
Wolfgang winkt. Aber alle anderen starren uns an, als ob wir direkt aus der Hölle kämen.
Vati auf seinem Krückstock schlurft vor, dahinter Mutti und Tante Gerda. Komisch, wie in einem Zombiefilm sieht das aus, denke ich und schlurfe mit den Händen in den Hosentaschen nach.

Obwohl es auf einem Bahnsteig für gewöhnlich immer unheimlich laut ist, verstehen die Menschen um uns herum auf zehn Meter kein Wort von der Bahnhofsansage. Dafür hören sie ganz genau, dass Mutti letzte Woche mindestens zwanzig Mal bei Wolfi angerufen, und dass sie sich Sorgen gemacht hat. Tante Gerda schreit so laut, „Junge, hast du dich verändert!“, dass eine Handvoll Asiaten hastig ihre Wegwerfkameras aus den Rucksäcken kramen und auf uns anlegen. Und obwohl der Alte kaum die Stimme erhebt, ist alles drumherum mucksmäuschenstill, als er Wolfgang sein „Lass dich mal ansehen, Junge“, entgegendonnert.

Wolfgang nimmt alles mit Würde hin. Auch meine locker hingehaltene Hand, als ob da kein Handgelenk wäre, und mein „Na, Alter!“
Ab da an redet eigentlich nur noch Mutti. Und Tante Gerda, wenn Mutti mal kurz Atem holt. Wolfgang geht neben dem Alten und hilft ihm die Treppe runter. Ob er gut angekommen sei, fragt Mutti, ob er zu Recht käme und die Galerie und alles. Aber Wolfgang nickt nur und balanciert seinen Koffer mit dem Gewicht des Altes aus.

Unten in der Unterführung passiert dann was ganz komisches. Erst denke ich, dass mich einer beklauen will, als ich von hinten angerempelt werde, und freu mich schon, weil’s nichts zu klauen gibt. Dann aber sehe ich, dass die Frau in der Kittelschürze Wolfgang am Arm festhält und ihm eine Aktentasche gibt. Die hätte er vorhin am Imbiss verloren, sagt sie, vor ner halben Stunde ungefähr.

Nicht nur mir kommt das seltsam vor.
„Ich dachte, du wärst eben gerade mit dem Zug angekommen?“, sagt Mutti und bleibt stehen, weil Wolfgang auch stehen bleibt.

„MUTTI, ICH HAB DIE GALERIE ZUGEMACHT!“, sagt er trocken.
Dazu muss man wissen, dass Wolfgang schon als Kind immer auf´m Butterbrotpapier rumgekritzelt hatte, und dass die Galerie sein großer Traum war.

Wir stehen alle da und glotzen Wolfgang wie lebendige Tote an. Tante Gerda hat sogar die Hände erhoben, als würde sie ihn würgen wollen. „Mein Junge, was tut mir das leid!“, greint sie los und will ihn an ihren riesigen Busen drücken.
Der Alte steht kerzengerade da und sagt kein Wort.

„Komm Junge, jetzt trinken wir erstmal was Kräftiges“, sagt Mutti und schweigt dann glatte fünf Minuten, als kämen wir direkt vom Friedhof.


Galerie der Köpfe

Der Alte war früher mal im Ausland. Mehr weiß keiner.
Er redet auch nicht drüber, so als hätte er in Buchenwald die Schalmei gespielt oder in Bautzen den Parteiinternen.
Er wechselt das Gespräch immer in dem er sich ne Büchse Bier aufmacht und seine Dritten raus nimmt.
Dann will keiner mehr was über die Schrumpfköpfe oben in der Schrankwand wissen.

Sie sind klein und hässlich. Und ganz ehrlich? Die Haare wachsen wirklich immer weiter! Die Schrumpfköpfe stehen oben in der Schrankwand, gleich neben Muttis Porzellanpüppchen und starren einen durch die zugenähten Augenlider hindurch an.

„Mit dem Wolfgang stimmt was nicht!“, sagt der Alte und knufft mir mit dem Krückstock in die Seite. Ich weiß, dass der Alte schon immer der Meinung war, dass mit dem Wolfgang was nicht stimmte, seit er diese Idee mit der Galerie hatte. Aber jetzt meint er was anderes.
Der Alte verzieht kaum merklich die Mundwinkel bis runter zu den Hosenträgern, als wir Wolfgangs Stimme aus der Küche hören. Er wolle mal was anderes machen, sagt er. Mal den Horizont erweitern! Mal loslassen…

„Spinner!“, sagt der Alte, und dann nichts mehr, als Mutti mit dem Kaffee in die Stube klimpert.
Sie schaut auch ganz komisch und wirft mir einen Blick zu, dass ich ins Grübeln komme. Da, der Wolfgang, sieh dir den mal an, sagt der Blick. Mit dem stimmt was nicht!

Und tatsächlich. Der Wolfgang steht da, als hätte er den Stock verschluckt. Er fragt, ob er sich hierher setzen dürfe. Er bietet Tante Gerda den Platz an, die ganz verstört ablehnt. Er sitzt da wie ein Zinnsoldat und fragt nach einer Serviette!

Nach einer Serviette! Mutti hat vor Schreck die Kuchengabel fallen gelassen und Tante Gerda hätte sich beinahe bekreuzigt, wenn der Alte nicht mit voller Wucht die Faust auf den Tisch geknallt hätte.
„Sind denn hier alle verrückt geworden??!!!“

Grabesstille herrscht im Wohnzimmer. Die Tassen liegen kreuz und quer und der heiße Kaffee läuft wie eine Lache schwarzen Blutes vom Wohnzimmertisch.
„Ich hol dann mal den Lappen“, sagt Wolfgang leise und dem Alten fällt fast der Unterkiefer ab. Dass er so was noch erleben muss, dass einer seiner Jungs in seinem Haus nen Lappen holt! Tante Gerda ist so gut wie nicht ansprechbar, als Wolfgang in der Küche verschwindet. Nicht mal Mutti sagt was, obwohl die immer was zu sagen hat.

„Gehirnwäsche!“, sagt der Alte nach langem Nachdenken. „Die müssen dem da drüben das Gehirn rausgesaugt haben!“
Mutti kommt langsam wieder zur Besinnung und klammert Tante Gerdas totenbleiche Hände.
„Wer soll denn so was machen?“
Der Blick des Alten wandert hoch zu den Schrumpfköpfen im Regal und wird ganz glasig.
„Vielleicht die Russen“, sagt er, „oder“, flüsternd,
„die K-A-T-H-O-L-I-K-E-N!“

Der Alte stützt sich auf seinen Krückstock und steht ganz langsam auf.
„Austreiben muss man´s ihm“, sagt er und nickt. Und während uns von oben die Schrumpfköpfe durch ihre zugenähten Augen hindurch anglotzen, saugt er einen tiefen Schwall abgestandener Luft in seine alten Lungen.
„Austreiben muss man´s ihm“, sagt er.


Die Austreibung



Der Alte hatte nichts mit Voodoo am Hut, dachte ich immer. Ich dachte, der hätte in Indien Gasleitungen verlegt oder wenigstens wie der Kongo-Müller einen anständigen Krieg in Indochina mitgemacht. Er schmunzelte auch immer ganz komisch, wenn wir uns Weihnachten Kriegsfilme rein zogen. Wenn einem die Gedärme raus hingen, gähnte der Alte jedes Mal.
„Die haben doch keine Ahnung“, sagte er.

Als er die Schrumpfköpfe oben aus dem Regal nimmt, färbt sich sein Gesicht Seegrasgrün, und der Kanarienvogel in seinem Käfig fällt tot von der Stange.
Mutti macht derweil die Kiste mit der Weihnachtsdekoration auf und holt die lange Lichterkette raus. Die lange Lichterkette von früher, die soviel Strom wie ne Waschmaschine zieht. Tante Gerda wirft dem Wolfgang einen wehmütigen Blick zu, als sie Position an der Wohnungstür bezieht. Der Junge steht da, mit dem Lappen, und scheint was zu merken, weil er so seelenlos grinst, als ob er ein Vorstellungsgespräch bei der deutschen Bank vor sich hätte.
Tante Gerda hält´s nicht mehr aus und fängt zu kreischen an.

Das ist wie ein Pistolenschuss im Kopf von dem Alten. Mit seinem Krückstock und den Schrumpfköpfen im Arm kommt er, Beschwörungsformeln murmelnd in die Küche und lässt die Schrumpfköpfe rasseln, als ob es brasilianische Musikinstrumente wären. Hinter ihm Mutti, die die lange Lichterkette in den Dreierstecker an der Küchentür stöpselt und das gleißend helle Geflecht wie ein Fangnetz hoch hält. Wolfgang ist geblendet und stolpert rückwärts. Er spuckt Blut oder so was, als der Alte ihn mit einem der Schrumpfköpfe an der Schulter streift. Das Gesicht von dem Alten ist jetzt ganz tiefes Seegrasgrün, so als ob er verfaulen würde.
„Jetzt, Mutti!“, brüllt er, und Mutti stürzt sich mit der Lichterkette auf Wolfgang, der ganz benommen ist.
Dumm nur, dass in dem Augenblick der Stecker von der langen Lichterkette aus dem Dreier reißt und das magische Band vernichtet wird, das der Alte um Wolfgang gesponnen hat. Mutti kreischt und stolpert mit der Lichterkette gegen den Alten, der sofort vorn über fällt.
Wolfgang will den Sturz des Alten noch aufhalten, scheint es, aber der kracht mit dem Kopf ziemlich ungünstig auf die Küchenzeile, und das Geräusch, das wir hören ist nicht gerade Vogelgezwitscher.

Wolfgang plant den Abgang. Er drückt sich an Mutti vorbei, die schwer mit der Lichterkette zu kämpfen hat, während ihm der Alte mit gebrochenem Genick über die Küchenfliesen nach kriecht.
Er brusselt noch immer Beschwörungsformeln, während er seine Fingernägel in die Fugen zwischen den Fliesen gräbt.
Zieht sich Meter für Meter vorwärts, der Alte, hin zum Dreier, um den Stecker von der Lichterkette wieder einzustöpseln.
Wolfgang ist schon fast weg. Hat´s fast geschafft, der Wolfgang!

Aber da ist Tante Gerda. Die steht mit ihrem riesigen Busen in der Wohnungstür und schüttelt den Kopf.
„Lass dir doch helfen, Junge“, sagt sie und hat wieder die Arme ausgestreckt, als ob sie Wolfgang würgen will.
Und als Wolfgang an ihr vorbei will, da hält sie ihn fest, wie ne Schrottpresse, die sich um das zerschossene Skelett eines alten Mercedes zusammen zieht.
Nicht mal der Papst könnte sich aus so `ner Geschichte rausreden, denkt man.

Denkt man jedenfalls. Aber mit dem Wolfgang stimmte eben was nicht. War weggezogen und war nicht mehr der Gleiche, als er zurückkam. Ich hatte ja gleich so ein Gefühl, als am Bahnhof die Sache mit der Aktentasche passierte. Wolfgang war gar nicht mit dem Zug angekommen! Das war gar nicht der Wolfgang, den wir da am Bahnhof abgeholt haben! Das war nur, na ja, seine Haut eben!
Ich muss es schließlich wissen, schließlich stand ich ziemlich günstig, als die Haut vom Wolfgang plötzlich auseinander platzte und ein schwarzer Schatten wie heiße Luft aus einem prallen Luftballon entwich.
Das war kurz bevor der Alte den Lichterkettenstecker wieder in den Dreier knallte und mit seinem schiefen, gebrochenen Genick vom Fliesenboden hochglotzte.
Tante Gerda stieß einen hohen, schrillen Schrei aus und Mutti stand wie der Weihnachtsnachtsbaum in voller Festbeleuchtung mitten in der Küche und brach in Tränen aus.

Ich weiß bis heute noch, wie Tante Gerda die Haut vom Wolfgang in Händen hielt und das schrumplige Gesicht glatt gestrichen hat. Das Gesicht vom Wolfgang, den alle immer den Maler nannten, oder auch gerne den Maler Wolfgang.

„Der kleine Wolfi“, hat sie noch gesagt, bevor sie ihn vorsichtig zusammen legte, „was der sich doch verändert hat.“
 
Ich find es ist mehr eine Erzählung. Humor fand ich darin nicht.

Auch würde ich die Geschichte straffen. Ich habe leider nicht verstanden, warum er seine Galerie nicht mehr hat und alle so merkwürdig (-> Serviette) reagieren. Haben die beiden Teile irgendwas miteinander zu tun? Ich sehe nur, dass die Serviettengeschichte dann diese Voodoo-Austreibung erwirkt.
Vielleicht kannst Du auch den Schauplatz auf einen reduzieren, nicht Bahnhof, Küche, Wohnzimmer.

Schreibfehler hast Du auch (zumindest) einen. Gleich am Anfang steht "juchen", statt "juchzen".

Marius
 
Hallo Marius,

wenn ich meine Intention bei dem Text preisgeben würde, fände ich das überhaupt nicht lustig. Er soll auch nicht in sich geschlossen sein. Natürlich kann man den Text nicht einfach mit Humor abtun, dazu kommt er einfach zu grotesk daher.

Das Wort juchen kenne ich eigentlich seit Kindesbein an, steht eben bloß in keinem Wörterbuch. Da ich einen Ich-Erzähler gewählt habe, geht das aber ohne Probleme, da ich einem fiktiven Ich durchaus eine Sprache zubilligen darf, die nicht unbedingt rein und perfekt sein muss.

Für mich ist der Text eine groteske Satire, die sich in drei Abschnitte teilt. Es gibt drei Handlungsorte, aber deshalb ist es nicht gleich eine Erzählung. Allein die Kürze des Textes verbietet diese Einordnung. Meiner Meinung nach jedenfalls.

Aber ich lass mich natürlich auch gerne verschieben, Marius.
Er will ja gar nicht statisch sein, der Text, sondern bewegt.

Danke für deine Einschätzung.
Mit freundl. Grüssen,
Marcus
 



 
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