Marcel und der Wandertag

Dorian

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„Ein Eintrag im Mitteilungsheft“, hatte es geheißen!
Nicht „Roman“.
Oder „Oper“.
Marcel blickte auf die anderthalb Seiten in seinem Mitteilungsheft, die der Klassenvorstand mit rotem Kugelschreiber vollgekritzelt hatte. „Vollgekritzelt“ war vielleicht nicht das richtige Wort, die Schrift war sehr sauber und gut zu lesen, verriet die arschbackenzusammenkneifende Hauptschullehrerin. Wenn man bedachte, dass sie den ganzen Sermon nicht nur einmal sondern viermal hatte schreiben müssen, war das ziemlich beeindruckend. Die anderen drei waren schrecklich geschockt gewesen, als sie erfahren hatten, dass sie Eintragungen ins Mitteilungsheft bekommen würden, für sie hatten diese drei Worte wohl so etwas wie einen dramatischen Nachhall. Marcel war es egal. Er bekam jede Woche mindestens zwei Eintragungen und er brachte keine einzige unterschrieben in die Schule zurück. Stattdessen wurde das Heft einfach immer dünner und die erste Seite trug die Bezeichnung 9. Er machte auch keine Hausaufgaben, aber die Lehrer sahen darüber hinweg. Das letzte Jahr in der Hauptschule war fast zu Ende, die meisten Lehrer mochten ihn, weil er den Stoff beherrschte und die, die ihn nicht mochten, waren zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, oder zu angekotzt von ihrem Beruf um jetzt noch ein großes Tamtam zu veranstalten.
Marcel fand die ganze Angelegenheit eher amüsant, als sonst was und er freute sich beinahe darauf, nach Hause zu kommen und seiner Mutter das Heft zu zeigen. Er war sicher, sie würde herzlich lachen. Sein Klassenvorstand, Frau Fachlehrerin Moser, allerdings war weniger belustigt. Ihr war fast vor Wut der Kopf geplatzt, als sie die vier endlich gefunden hatte.
Dabei war alles ganz harmlos. Begonnen hatte es, wie so viele schöne Dinge, auf einem Wandertag...

„Die Gruppe passt sich dem Tempo des Langsamsten an“, sagte Frau Fachlehrerin Moser, als Marcel und seine Klasse einen mäßig steilen Hügel hinaufgingen. „Annemarie hat Asthma, ihrer Geschwindigkeit passen wir uns an, und basta.“
Marcel hegte den Verdacht, dass Annemarie einfach nur fett war.
„Geht dir das nicht auf die Nerven?“, fragte er Armin, der neben ihm ging.
Der zuckte nur die Schultern.
„Ja, schon“, antwortete er. „Aber was will man machen?“
Marcel starrte ihn an. Seit er vor etwas über einem Jahr in die Hauptschule gewechselt war, hatte er herausgefunden, dass die Hauptschüler Lehrern gegenüber alle sehr servil waren. Er hatte versucht, einige Dinge zu ändern, seine Experimente aber aufgegeben, als er bemerkt hatte, dass bei Leuten die vor der ersten Stunde mit der Klasse zusammen beteten Hopfen und Malz verloren war.
„Und nach der Hauptschule gehe ich in die HTL“, plapperte Alexander, der neben Armin ging und sich in seinem Redefluss keineswegs davon stören ließ, dass Marcel ihn unterbrochen hatte, oder dass es keinen interessierte, was er so erzählte, „und dort nehme ich Tiefbau, oder vielleicht Maschinenbau, oder Feinwerktechnik...“
„Halt die Klappe, Hofer!“, sagten Armin und Marcel im Chor.
Marcel betrachtete die beiden und wunderte sich ein weiteres Mal über sie. Sie waren die besten Freunde, hatten dieselben Interessen und so weiter, aber rein physisch konnten sie kaum unterschiedlicher sein. Armin war groß und beleibt, mitten im Stimmbruch und zeigte die ersten Anzeichen von Bartwuchs, Alexander war klein, schmächtig und anämisch und wäre von Stimmlage, Größe und Hautbeschaffenheit ohne weiteres als Neunjähriger durchgegangen.
Marcel lächelte. Er selbst war über ein Jahr älter als die beiden, da er im Gymnasium zweimal hatte wiederholen müssen und er war von Hause aus sehr groß gewachsen und auch entwicklungsmäßig ein Frühstarter. Er war noch nicht ganz fünfzehn, aber musste sich schon regelmäßig rasieren, Stimmbruch war seit einiger Zeit eine Sache, die andere betraf.
Er sah sich um und bemerkte, dass die drei sich ein Stück, vielleicht zehn Meter, vor die Gruppe gesetzt hatten. Von hinten näherte sich Robert.
„He, Burschen“, rief er. „Wartet auf mich.“
Marcel sah dazu keine Veranlassung, sie schlenderten ohnehin nur gemütlich dahin. Robert hatte wohl nur auf sich aufmerksam machen wollen.
„Wie wär’s, wenn wir einen Zahn zulegen“, schlug Marcel vor, als Robert aufgeschlossen hatte. „Mir geht das Gequatsche da hinten auf den Sack. Und zur Not finde ich von hier auch allein zum Wassermühlenplatz.“
Dieser war nämlich zum Ziel des Wandertages erkoren worden. Der Wassermühlenplatz lag am Rande der Stadt, am Eingang zum Katharinental und es war geplant, das Tal in einer langen Schleife zu durchwandern und wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren.
„Und wenn wir früh zurück sind“, hatte es geheißen, „dann könnt ihr gleich nach Hause gehen.“ Was nicht unwesentlich zu Marcels Unmut über Annemaries langsame Gangart beitrug.
„Ja, gehen wir ein bisschen schneller“, sagte Armin wie beiläufig, aber Marcel glaubte einen gewissen Unterton in seiner Stimme herauszuhören. Das Abenteuer seines Lebens, dachte er schmunzelnd.
Robert musste nicht lang überredet werden, bei ihm hatten Marcels Versuche ein bisschen Gefühl für Freiheit zu entwickeln noch am meisten gefruchtet. Und Alexander war sowieso immer dort, wo Armin auch war.
„Vielleicht können wir sogar gehen, bevor die Moserin da ist“, meinte Robert. „Ich habe zufällig gehört, dass der Schröder mit zwei zweiten Klassen auch zum Wassermühlenplatz geht. Wenn wir den fragen, lässt er uns vielleicht gehen.“
„Der Schröder?“, fragte Armin. „Glaubst du?“
Inzwischen waren sie außer Sichtweite und Marcel steigerte das Tempo unmerklich noch etwas mehr, trotzdem gingen sie noch immer in einer Gangart, die keineswegs als schnell zu bezeichnen war. Der Wald rückte hier näher an den Weg heran und die Sonne hatte den Regen, der vor ein paar Tagen gefallen war noch nicht ganz verdunsten lassen. Hier und da standen noch einige Pfützen.
„Armin, du willst doch Tischler werden, oder“, fragte Alexander. „Dann könnte ich auf der HTL Holzbautechnik machen und wenn ich fertig binUÄÄHH!“
Robert war auf Alexanders Höhe in eine besonders tiefe Pfütze gesprungen und hatte ihn von oben bis unten nass gespritzt. Was nun folgte lässt sich am besten mit den Worten „apokalyptische Wasserschlacht“ umschreiben. Am Ende kamen alle vier triefnass aus dem Wald gehumpelt, mit aufgeschürften Knien und blau getretenen Schienbeinen, Armin hatte auch eine Beule am Kopf davongetragen. Es war alles nicht so schön. Aber lustig war es doch.
„Wenn du mir noch mal ins Knie springst“, rief Armin lachend, „tret´ ich dir in die Eier.“
„Versuchs nur“, lachte Robert zurück und zeigte ihm den unfeinen Mittelfinger.
Schon ging das Gerenne wieder los. Und so rannten und tollten sie den Weg entlang und rauchten in den Pausen Marcels Zigaretten (natürlich erst nachdem sie sicher waren auch außer Hörweite der Moserin zu sein.).
Irgendwann kamen sie am Wassermühlenplatz an und waren bessere Freunde, als jemals zuvor. Oder in den Zeiten danach.
Nach kurzer Suche entdeckten sie tatsächlich den Herrn Fachlehrer Schröder auf dem Spielplatz inmitten umhertollender Kinder. Schröder war kein übler Kerl, aber es stand nicht in seiner Befugnis sie nach Hause gehen zu lassen und so schickte er sie mit den Worten „Geht Fußball spielen“ etwas weiter weg.
Der Wassermühlenplatz war das Gelände einer stillgelegten Wassermühle, wie der Name schon sagte, und die Gemeinde hatte einige Grillplätze angelegt, dort wo im zweiten Weltkrieg die Stellungen der Flak-Geschütze gewesen waren, und das ganze zu einem sogenannten „Naherholungsgebiet“ erklärt. Jemand hatte die brillante Idee gehabt eine zweistufige Rundung aus Beton zu gießen, wohl um den Anschein zu erwecken, hier hätte ein Amphitheater aus der Römerzeit gestanden haben können. Der Platz war eigentlich nicht zum Feuer machen gedacht, aber er bot sich geradezu an und viele waren diesem Angebot gefolgt. Die „Arena“, wie das Amphitheater im Volksmund hieß, wies in der Mitte einen ordentlichen Haufen Asche und Holzkohle auf. Sie war ein ausgezeichneter Platz um zu sehen, ohne gesehen zu werden. Die vier setzten sich hin und rauchten eine Zigarette nach der anderen, wobei Alexander, der davon nichts hielt, Schmiere stand.
Geschlagene zwei Stunden, nachdem die vier an ihrem Ziel angekommen waren, trudelte auch der Rest der Klasse ein. Eigentlich hatten sie gedacht, die Moserin würde stolz auf sie sein. Auf Alexander und Armin war sie fast immer stolz. Stattdessen hatten sie sich eine Standpauke anhören müssen, die sich nicht nur gewaschen hatte, sondern praktisch Hygienefanatiker war und in einem Mikroprozessorenlabor arbeitete.

Und da standen sie nun und drei von vieren blickten auf ihre Füße. Marcel nickte betreten und sagte „hmja“, wenn es angebracht schien und ging nach Hause.
Am nächsten Tag führte die Frau Fachlehrerin Moser beinahe einen Freudentanz auf, als Marcel tatsächlich mit einer unterschriebenen Eintragung zur Schule kam. Mit ZWEI unterschriebenen Eintragungen, genauer gesagt. Denn Marcels Frau Mama hatte sich die Eintragung durchgelesen, sich Marcels Version der Geschichte angehört, die Eintragung unterschrieben und ihrerseits eine Nachricht für die Frau Fachlehrerin hinterlassen.
Folgendes besagte die Nachricht:

Sehr geehrte Frau Fachlehrerin,

ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich auf die Verfehlungen meines Sohnes aufmerksam gemacht haben und nehme sie mit meiner obigen Unterschrift zur Kenntnis. Allerdings möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass ich Ihnen verbiete, meinen Sohn in irgendeiner Weise zu bestrafen, oder anderen Repressalien auszusetzen. Des weiteren möchte ich Sie meinerseits bitten, folgende Aussage mit Ihrer Unterschrift zu bestätigen:
BELÄSTIGEN SIE MICH ODER MEINEN SOHN NIE WIEDER MIT SOLCHEN KINKERLITZCHEN!!!

Hochachtungsvoll

Rita Speckstein

Marcel ließ es sich nicht nehmen, den Absatz mit süffisantem Grinsen vor der gesamten Klasse vorzutragen und der Frau Fachlehrerin Moser das Heft vor die Nase zu legen. Er würde den Tag nie vergessen, an dem sie mit hochrotem Kopf und unter dem Gekicher und Gepruste von siebenundzwanzig Schülern ihre Unterschrift in sein Mitteilungsheft setzte.
Er war vierzehn, sie war achtunddreißig.
 

kostho3

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Eintrag

Hallo Dorian !

Die Pointe der Geschichte gefiel mir, habe geschmunzelt und mit Marcel gefühlt. Für den ersten Teil der Geschichte würde ich Dir eine große Schere empfehlen, weil die Hälfte wegkönnte. Für diese Pointe muß man keine Charakterstudien der Statisten aufstellen.*grins*Falls es Marcels Mutter tatsächlich geben sollte, bestell ihr einen lieben Gruß. Ich mußte immer alle Eintragungen vorzeigen und manchmal bekam ich dann aber auch Dresche deswegen.Bis demnächst!
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Dorian,

ich vermute mal, dieser Text ist stark autobiographisch angehaucht oder sogar authentisch. Nur so kann ich mir erklären, warum Du diesen mageren Plot so ausgewalzt hast. Aber tröste dich, es geht dir nicht allein so. Wenn ich zum Beispiel an meinen Erinnerungen schreibe, ertappe ich mich stets bei dem gleichen Fehler. Hier aber mußt Du den Leser "bei Laune" halten und auf's Tempo drücken. Schließlich soll das ja eine Kurzgeschichte sein.

Gruß Ralph
 

Dorian

Mitglied
Hallo!

Erstmal danke für Eure sehr zutreffenden Kritiken.
Ich weiß, daß meine Geschichten oft unter einer gewissen Abschlußschwäche leiden, allerdings fällt mir das selber nie auf. Die nötige Distanz dazu habe ich immer erst, wenn ich das Zeug ein paar Monate liegen lasse. Subjektiverweise bin ich immer von Hause aus unzufrieden mit meinen Werken, deshalb poste ich sie ja auch hierher, da kriegt man immer nicht nur eine, sondern mehrere Kritiken.

Aber ihr habt recht, am Schluß sollte ich noch etwas rumbasteln. Das kommt davon, wenn man in einer halben Stunde etwas runterschreibt, von dem man eigentlich nicht weiß, wie es enden soll *g*.

LG

Dorian

P.S.:Meine Werke werden auch fast immer, ob ich will oder nicht, Charakterstudien. Muß ich mir wohl abgewöhnen. :)
 

Deminien

Mitglied
Hi,


"Irgendwann kamen sie am Wassermühlenplatz an und waren bessere Freunde, als jemals zuvor. Oder in den Zeiten danach."

Zu pathetisch, passt nicht zur übrigen Erzählung.


Gruß Deminien
 



 
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