Marie

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memo

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Vorsichtig schlich Marie die Stufen des Hauses hinunter. Sie wollte niemanden wecken. So früh war sie noch nie in den Garten gegangen. Doch das Mädchen war viel zu aufgeregt, um noch schlafen zu können. Barfuss und in ihrem Nachthemd lief sie zur Terrassentür und huschte über die feuchtkalte Wiese. Kurz hielt sie inne. So schön schimmerte das erste Sonnenlicht im Morgentau. Nun stand sie vor dem bunten Tulpenbeet und seufzte tief. Ungeduldig sprang sie von einer Blume zur nächsten. War schon irgendwo etwas zu sehen?
Sie wartete. Sollte es wirklich stimmen, was ihre Großmutter gestern Abend in ihren wundersamen Geschichten erzählte?
Wenn sich morgens die Tulpenblätter öffneten, würde also ein kleines Wesen zu sehen sein. Das Mädchen konnte jedoch rein gar nichts entdecken. Schon wollte sie sich enttäuscht umdrehen und wieder ins Haus laufen, da war ihr, als würde eine besonders schöne, blaue Blume leicht hin und her schwanken. „Bilde ich mir das nur ein?“ fragte sie sich. Doch da schon wieder! Es war ganz deutlich zu erkennen. Maries Herz klopfte so heftig, dass sie sich vor Aufregung ins Gras setzen musste.
Im sicheren Abstand beobachtete sie, wie sich die Blütenblätter langsam öffneten und wirklich ein kleines, feines Flügelchen zum Vorschein kam!
Marie konnte nicht glauben, was sie da sah und wagte kaum zu atmen.
Umständlich strich das hübsche, kleine Ding über ihr zartes Kleid und streckte sich ausgiebig nach der langen Nacht. Die kleine Fee versuchte ein Stück hochzufliegen, da fiel in diesem Augenblick ein Tautropfen vom Blütenrand direkt auf ihren Kopf. Sie rutsche erschrocken aus und landete wieder im Innern der Blume. Marie konnte nicht anders, sie musste lachen. Oje, dachte sie und hielt sich erschrocken den Mund zu.
Da guckte die kleine Fee aus der Blüte hervor und schaute das Mädchen freundlich an.
„Bist du ein Mensch?“ wollte die Blumenfee wissen.
„Ja.“
Marie brachte kein weiteres Wort heraus.
„Das freut mich! Ein Mensch, wie schön!“
Langsam kletterte die Fee wieder auf den Blütenrand, setzte sich behutsam nieder und sah entzückend aus.
„Es ist so aufregend, mit einem Menschen reden zu können. Weißt du, das glaubt mir ja keiner von den anderen, aber ich würde soooo gerne ein Mensch sein!“
„Von euch gibt es noch mehr?“
„Natürlich, glaubst du nur ihr allein seid hier auf dieser Welt?“
Marie saß da und musste das hübsche kleine Ding immerfort ansehen.
„Was muss ich tun, um so zu sein wie ein Mensch?“
„Ich glaube das geht nicht. Ich könnte vielleicht meine Oma fragen…“
„Ach nein, mit ihr hab ich schon vor lange Zeit gesprochen.“
„Wirklich, du hast mit ihr gesprochen?“
„Natürlich, hat nicht sie dich geschickt?“
„Nein! Das heißt…“ Marie wurde unsicher. Da bemerkte sie, dass ihr Nachthemd von der feuchten Wiese ganz nass geworden war. Sie fror einwenig.
„Liebe kleine Fee, ich muss jetzt gehen, aber ich möchte dir noch sagen, wir Menschen sind oft gar nicht so nett wie du vielleicht glaubst. Mein Bruder zum Beispiel…“
„Ach, den kenne ich. Der Junge spielt oft dort hinten, bei den Baumwurzeln und beobachtet die Ameisen. Nicht wahr? Aber sag mir doch, was ich tun muss um wie ein Mensch zu sein. Bleib bitte noch ein Weilchen! Vielleicht kann ich lernen und so langsam, nach und nach werde ich wie du.“
„Wenn du unbedingt willst. Obwohl, eigentlich kann ich gar nicht verstehen, was du so toll daran findest. Aber ok, abgemacht!"
Das Mädchen war einfach nur glücklich darüber, was sie hier erlebte. Auch wenn sie nicht begreifen konnte, was mit ihr geschah.
Es stellte sich heraus, dass es gar nicht so einfach war, über die Menschen zu sprechen.
„Was macht ihr eigentlich immer so. Zum Beispiel dein Bruder und du?“
„Wenn ich ehrlich bin, streiten wir oft. Ich weiß eigentlich auch nicht warum. Das ist vielleicht wirklich typisch menschlich.“
„Streiten also. Was ist streiten?“
“Du weißt nicht was streiten ist?“
Marie konnte es nicht glauben.
„Also streiten ist, wenn man schlimme Sachen sagt, damit der andere traurig ist und man sich besser fühlt, da der andere auch schlimme Sachen gesagt hat. Oder so ähnlich.“
Die kleine Fee wurde ganz still und blickte nachdenklich zum großen Nussbaum empor, als wolle sie seinem Klang lauschen. Marie folgte ihrem Blick und bemerkte, dass das Kleidchen der kleinen Fee die Farbe des Himmels trug.
„Das scheint wirklich sehr schwierig zu sein, das Streiten. Kannst du es mir lernen?“
Nein, das wollte Marie beim besten Willen nicht. Als das Mädchen schwieg, fragte die kleine Fee nach einer Weile:
„Sag mir, es ist mir aufgefallen, dass du oft alleine bist. Wo sind den die anderen?“
„Ich hab nicht so viele Freundinnen und meine Mama und mein Papa haben viel zu tun. Nur meine Oma ist immer da, aber sie ist leider blind.“
Marie fühlte sich plötzlich sehr traurig. Ohne dass das Mädchen es aufhalten konnte, rannen ihr Tränen über die Wangen und sie schluchzte leise.
„Schau!“ rief die kleine Fee aufgeregt, „Du kannst Tautropfen zaubern!“ Sie lachte und klatschte in die Hände.
Da musste Marie nur noch mehr weinen und die kleine Fee freute sich über alle Maße.
„Lach mich nicht aus, wenn du siehst, dass ich so traurig bin!“
„Ich möchte auch Tautropfen machen können!“
„Das sind doch keine Tautropfen. Das sind Tränen und die sind bitter!“
„Sag mir bitte wie ich traurig sein kann!“
Marie war so überrascht, dass sie kurz innehielt. Sie wusste nicht mehr, ob sie lachen oder weinen sollte.
„Das kann ich dir nicht sagen. Bist du den nie traurig?“
„Nein, wieso? Schau dich um. Ist nicht alles wunderschön?“
Das kleine Wesen saß auf ihrer Tulpe und ließ die Beinchen baumeln. Vergnügt blickte es um sich.
„Ich kann hier bei dir sein und wir beginnen Freundinnen zu werden. Und deine Großmutter ist ein wunderbarer und so kluger Mensch. Wäre sie nicht blind, würde sie so viele andere Dinge nicht entdecken. Und deine Eltern müssen dich sehr lieben, sie haben dir diesen blühenden Garten gemacht. Und dein Bruder ist wirklich ein besonders tierlieber und lustiger Junge. Ich verstehe dich nicht. Es ist wohl sehr schwierig, traurig zu sein.“ Dies alles sagte die kleine Fee und sah sehr hübsch und unschuldig aus.
Marie stand auf. Sie war verwirrt.
Ganz langsam ging sie zum Hintereingang des Hauses. Plötzlich kam ihr Bruder laut schreiend um die Ecke und hätte sie fast nieder gerannt.
„HaHaHa! Du läufst im Nachthemd im Garten herum! Hahahahah! Und nass bist du auch!“
Marie sah ihn mit großen Augen an.
„Ich hab dich lieb!“ sagte sie nur, ging hinauf in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Mit offenem Mund stand der Bub eine Weile da. „Verrücktes Huhn!“ murmelte er schließlich etwas verlegen.
Dann stapfte er zum alten Nussbaum und wischte sich mit dem schmutzigen Ärmel flüchtig über seine Augen.
 



 
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