Marina (überarbeitet)

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Astrid

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Ihr Magen begann zu krampfen. Das tat er oft, wenn sie ihren Wochenendeinkauf im überfüllten Supermarkt gemacht hatte. Sie fühlte sich deplaziert zwischen den Paaren und Familien, die ihre prall gefüllten Einkaufswagen schoben; zwischen den Händchenhaltenden, denen sie ansah, dass sie das Wochenendshopping noch genossen.
Wenn sie erlebte, wie zwei sich stritten oder sie dieses gelangweilte Gähnen zwischen Ehepaaren wahrnahm, freute sie sich.
Sie brauchte keine Rücksicht zu nehmen, war frei. Nach einer hektischen Woche in der Redaktion lagen nun zwei wunderbar ruhige Tage vor ihr. Alles konnte sie tun und alles konnte sie lassen. Meist ließ sie es
Würde Marcel vorbeischauen? Er war schon lange nicht mehr hier gewesen. Sie hatte Kassler gekauft, welches er so mochte und drückte das Paket mit dem rosigen Fleisch in den überfüllten Tiefkühlschrank. Und während sie dies tat, ahnte sie, dass der Sohn nicht einmal anrufen würde.

„Ich könnte ja Karin anrufen, ob sie mal wieder Lust auf einen Weiberabend hat.“

Für Sekunden legte sich ein Leuchten auf ihr Gesicht. So kannten ihre Kollegen sie – jung, aktiv, strahlend. Sie war eine gute Schauspielerin, doch genau das war das Anstrengende.
Wenn sie am Freitagabend ihre Wohnung betrat, fiel dieses Lächeln in sich zusammen und das Gesicht wurde wieder ihres.
Sie würde niemanden anrufen.

Marina ließ Badewasser ein, stellte Kerzen auf den Wannenrand, stieg in den duftenden Schaum – ein Ritual, das schon so sehr Gewohnheit geworden war, dass es sie kaum noch entspannte.
Sie sagte sich, dass sie es doch gut habe, einfach hier baden zu können und nicht etwa einen nörgelnden Mann bekochen zu müssen.
Eine Schaumblase schillerte in ihren Händen. Und dann musste Sie plötzlich an Manfred denken, von dem sie sich vor vier Jahren getrennt hatte. Und für eine Sekunde schwebte der Gedanke im Kopf, ihn einfach mal anzurufen.
Dann sauste die Hand ins Wasser, Schaum stob auseinander; klatsch, klatsch schlug sie, Wasser schwappte über.

Marina wischte es nicht auf. Mit einem letzten Blick auf das Telefon, das so entsetzlich laut schwieg, schlich sie ins Schlafzimmer, vergrub sich unter der Decke, zog das nicht benutzte Kissen heran und legte es auf ihr Gesicht. Verschwinden, nicht mehr da sein!


Die Sonne weckte sie am nächsten Morgen. Sie rutschte tiefer, zog sich die Decke über die Augen. Liegenbleiben. Nicht da sein.
„Beginnen Sie jetzt! Sie hatte diese Zeile nur gelesen, das Buch nicht gekauft.
„Verschiebe das Jetzt auf später“, murmelte Marina unter der Decke. Schließlich riskierte sie doch einen kurzen Blick ins bereits viel zu helle Zimmer.
Ihr Sohn auf dem Foto im Regal gegenüber dem Bett schaute sie an. Ein ängstliches Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Sie bewegte sich, ein bisschen, schob mit den Füßen die Decke weg, strampelte, ließ ihren Sohn nicht aus den Augen, lag schon ohne Decke, streckte sich. Knochen knackten, langsam erhob sie sich, stellte sich vor das Foto und schnipste mit dem Finger dagegen. Eine Spur zu stark, denn es kippte nach hinten. Sie erschrak, stellte es wieder auf, strich darüber, als würde sie zerknitterte Kleidung glätten. Dann spürte sie dieses Magenkrampfen wieder. Sie hob das Foto in Augenhöhe und sagte energisch: „Ich rufe dich an!“

Marina stand vor dem Telefon und hielt inne. Die Energie, die sie eben noch durchströmt hatte, schien sie auf dem Weg vom Schlafzimmer hierher verloren zu haben. Sie sah auf die Uhr. Durfte sie Marcel morgens um Zehn anrufen?
„Los jetzt“ sprach sie sich selbst Mut zu. Sie nahm den Hörer, wählte seine Nummer, drückte nicht die Kurzwahltaste und hatte sich im selben Moment durchschaut, dass sie dadurch nur die Sekunden hinauszögern wollte.
„Tut.“ Zweimal nacheinander, dass sie schon hoffte, es wäre besetzt – doch dann lang gezogen und sie stand und hielt den Atem an und fragte sich, wo ihn das Läuten treffen würde.
„Hallo“.
„Hallo“, erwiderte sie mit trockenem Mund.
„Schade, niemand zu Hause, aber…“
Gott sei Dank, der Anrufbeantworter.
Doch in dem Moment, wo sie auflegen wollte, hörte sie ihren Sohn.
„Live“, dachte sie, hatte plötzlich dieses Wort im Kopf. Live – dazu gehört auch miteinander zu leben, dazu gehört auch, dass man anrief.
Hallo, wer ist denn da?“
Sie schaffte es nicht zu antworten.
„Mama?“
Ihr Magen krampfte wieder und schnell legte sie den Hörer auf.

Sie würde niemanden anrufen.
 
Hallo Astrid,

für eine so kurze Geschichte halte ich persönlich die Badewannenszene zu lang. Damit wirst du deiner Geschichte nicht gerecht. Ich bin nämlich mit einem "ach - schon wieder so ein armer Singel- Geschichte" rausgefallen. Das war ein Vorurteil, was ich beim Querlesen revidieren musste.

In deiner Geschichte steckt meiner Meinung nach zündendes Potential, was fehlt ist die Verpackung. Du lässt die Geschichte mit dem Sohn am Ende viel zu sehr offen, oder du machst am Anfang zu sehr den Rahmen zu. Wenn sie keinen Kontakt zum Sohn hat, dann verstehe ich nicht, wieso sie auf einen Anruf spekuliert. Oder hat sie regelmäßig KOntakt u traut sich nur nicht... irgendwas muss da anders sein. Ich würde die Sohn-Dramatik mehr in den Vordergrund schieben als die Seifenblasen, wenn auch die Metaphorik sehr schön ist. Dann mach es länger, reiz es aus und bring die Mutter-Sohn-Geschichte.
Mir fehlt die Geschichte.

Was glänzend rüber gekommen ist, ist ihr Neid und ihre Missgunst anderen Paaren und Familien gegenüber ... :)


LG
Scarlett
 

Astrid

Mitglied
Hallo Scarlett

Zuerst einmal vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar. Ich habe lange darüber nachgedacht. Auf jeden Fall hat dich mein Text ja zu einigen Überlegungen angeregt. Ja, die Geschichte endet abrupt, es bleibt offen. Dass sie denkt, vielleicht meldet sich der Sohn ja, obwohl sie genau weiß, dass er es nicht tun wird, ist nicht unrealistisch. Und es geht auch nicht unbedingt um die Mutter-Sohn-Geschichte. Ich habe mir nach deinen Worten auch die Badewannen-Szene angesehen. Ich finde sie nicht zu lang, empfinde sie eher wie eine Brücke, wie ein Zwischenteil, eine Überleitung. Vielleicht ist die Brücke wacklig und der nächste "Akt" ebenso verworren und nicht greifbar, aber es ist ihr Leben - vielleicht steckt wirklich noch mehr Potential drin und vielleicht nehme ich sie irgendwann wieder einmal zur Hand und es wird mehr daraus. Ich danke dir.
Herzliche Grüße
Astrid
 



 
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