Marleben

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Daunelt

Mitglied
Marleben


Jetzt bin ich seit vier Wochen hier in Marleben, und es ist wie ein einziger Tag. Schwester Martina hat im Krankenhaus die Entlassungspapiere ausgefüllt, mich in ihr kleines Auto gesetzt und mit hierher in ihr Haus genommen, das sie mit schweigsamen Verwandten bewohnt.

Eine kurze Zeit nur und ich kann wieder umhergehen, Fragen stellen, die nicht beantwortet werden und ruhig neben Martina sitzen, wenn sie nach Feierabend am Kamin strickt.

Nachts übrigens schlafe ich neben ihr, freilich ohne sie zu berühren, und sollte ich doch einmal zu nahe kommen, rückt sie von mir ab. Manchmal scheint sie mir, scheint der ganze Ort eine Illusion zu sein, und ich bewege mich vorsichtig nach den von ihr aufgestellten Regeln, um das Bild nicht zu zerstören.

Am Tag, meine Schwester bezieht im Krankenhaus Betten und verteilt Medizin, gehe ich durch Marleben, durch den September, bis zur Dämmerung. Die Menschen sind nicht feindselig und nicht freundlich, sie sehen durch mich hindurch. Aber ich fühle mich geborgen, und wie um eine Erinnerung mitzunehmen, vergrabe ich mich im Rübenhaufen, im Schweinefutter, in den Hundefellen, im Krähengeschrei, im Nebel.

Abends weint Martina manchmal, doch ich kann sie nicht trösten, mir ist der Hals wie zugeschnürt. Meine Hand, die ihr Haar streicheln möchte, scheint gelähmt, ich schweige sie an.

In solchen Momenten ist mir, als müßte ich Marleben verlassen und nur aus Mitleid sagt es mir niemand. Oft sehe ich mich auf den schmalen, schnurgeraden Straßen, die zu Orten mit merkwürdigen Namen führen, nach Lanze, Prezelle, nach Waddeweitz und anderswohin und doch immer nur im weiten Bogen nach Marleben zurück, wo Schwester Martina kopfschüttelnd im Tor steht und mich erwartet.

Nach solch erschöpfender Wanderung bringt sie mich rasch zu Bett und dabei nehme ich berauscht den Duft ihrer Haut wahr und wie beiläufig berührt mein Ellbogen ihre Hüfte.



(Marleben und die anderen angeführten Orte sind kleine Dörfer im niedersächsischen Wendland)
 
V

vexierbild

Gast
eine hübsche kleine Minigeschichte. Ein Augenblick von Gefühlen, ansprechend rübergebracht.

Ein paar s/ß/ss _fehler gibt's, z.B. erster Absatz [strike]daß[/strike]das!

Ansonsten gut.
LG Heri
 

Daunelt

Mitglied
Danke für den Hinweis. Dieses verflixte "s/ss/ß" verfolgt mich schon seit der Schulzeit, falle immer wieder drauf rein !

D.
 

Eve

Mitglied
Hallo Daunelt,

ist das ein Ausschnitt aus einer längeren Geschichte? Der Stil, in dem du schreibst, gefällt mir gut, aber ich finde, damit dieser Text allein stehen kann, fehlt etwas. Entweder, dass er am Ende doch weggeht oder etwas anderes, das den Text abrundet ...

Ist es übrigens "seine" Schwester oder "eine" Schwester? Im 4. Absatz, 1. Zeile schreibst du einmal "seine" Schwester, was ein bisschen verwirrend ist ...

Vielleicht wirds ja doch irgendwann eine längere Geschichte, die ich dann verschlingen kann? ;-)

Viele Grüße,
Eve
 
G

Gelöschtes Mitglied 7520

Gast
hallo daunelt,

ein authentisch geschriebenes stück prosa. die schlichtheit der sprache (keineswegs wertend gemeint) unterstreicht die situation ausgezeichnet. nach meinem leseempfinden braucht's nicht unbedingt "abrundung". das offene hat durchaus seinen reiz.

liebe grüße
nofrank
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Hallo Daunelt,

für mich ist der Text "rund". Seine Schwester ist Schwester und man (ich) kann so viel zwischen den Zeilen lesen. Solche Texte gefallen mir, wenn sie mir Raum geben für eigene Interpretationen, für meine Phantasie.
Bitte lass ihn so.

Lieben Gruß
Franka
 

Daunelt

Mitglied
Hallo, ihr Lieben !

Danke für Eure freundlichen Reaktionen auf den Text "Marleben". Er ist entstanden, als ich am zweiten Tag eines Urlaubs im Wendland (das ich sehr liebe), nach Lüchow ins Krankenhaus mußte. Wenn ich versuchen soll, den Text zu interpretieren: eine - leibliche - Schwester bedeutet für mich (der ich selbst leider keine habe)immer Schutz, Geborgenheit, Nähe und Liebe. Dies erfährt der Mann in der kleinen Geschichte, er bewegt sich, krank und schwach, in einer wunderschönen Landschaft, in einer wunderschönen Jahreszeit, beschützt von einer Frau, die ihm nahe ist und doch wieder nicht. Die Grenzen, ob es nun eine (Kranken-)Schwester ist oder seine wirkliche Schwester, verwischen sich für ihn. Die Geschichte kann eigentlich nicht weitergehen. Ob er gesund wird, ist fraglich. Was die Intension der Frau ist, bleibt unbekannt. Es bestehen latente sexuelle Wünsche (seinerseits), aber die wird er nicht ausleben können, sein Leben ist eine Illusion, vielleicht ist all das nur ein Fiebertraum im Krankenhausbett.

Ein schönes Wochenende wünscht Euch

Daunelt
 



 
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