Marmor, Stein und Eisen Teil 1

MelP

Mitglied
Alles war wie immer. Seicht und einfach und fröhlich. Langweilig. Die gleichen Leute, die gleichen Gespräche – die gleichen Partys. An diesem Abend gleich zwei. Also zuerst den Schwiegervater in spe abfrühstücken – dann die drei junggeselligen Kumpels auf der Waldlichtung – rein partymäßig versteht sich!
Gegen elf wurden die Kumpels des Vaters meines Freundes zusehends voller – und ich irgendwie auch. Der Absinth, den Andre mir in feierlicher Manier immer wieder nachschenkte, ließ alles angenehm im Kopf verschwimmen. Also, los zur nächsten Party – jüngere (aber nicht junge) Leute und bessere Musik. Aber wie hinkommen? Mein Freund Sascha und ich hatten beide getrunken und der Weg wäre selbst für unser kleines beschauliches Dörfchen einfach zu weit, um jetzt noch zu Fuß loszugehen. Also Handy her und einen Fahrer suchen. Alles schnell erledigt – Udo stand zehn Minuten später in seinem klapprigen roten Golf vor der Tür und brachte uns hin.

Ein Schotterparkplatz mitten im Wald, eine Lichtung mit gemauertem Grill, Stimmengemurmel, Lagerfeuer, Musik und alles voller Bekannter. Alle freuen sich. „Hey Mel, da bist du ja endlich!“ oder „Wo wart ihr denn so lange?“ und „Möchtet ihr Becks?“. Alles wie immer. Aber nein, doch nicht ganz. Aus dem Augenwinkel fällt mir sofort eine Person auf. Die Person die mir schon immer aufgefallen ist. Sascha. Nein, nicht etwa mein Freund, der war ja schon die ganze Zeit bei mir und schwupps in diesem Moment auch schon vergessen. Herzrasen, lodernde Flammen im Magen, zittrige Hände, Röte steigt die Wangen hoch. Mist, ich verhalte mich immer noch wie ein verdammter Teenager, wenn ich ihn sehe. War schon immer so und ist jetzt, obwohl ich fast dreißig bin, immer noch so.

Sofort schießen mir hunderte von Bildern durch den Kopf. Quälende, erniedrigende Erinnerungen und traumhaft schöne Szenen wechseln sich ab wie eine heiß-kalte Dusche. Sascha war mein erster Freund gewesen. Mit dreizehn. Aber es war schon damals nicht die Art von Teenie-Freundschaft, die andere hatten. Nicht nur das übliche Knutschen und Fummeln und heimlich rauchen. Nein, wir hatten alles viel ernster gesehen und gemeint. Ich denke, dass wir uns schon damals geliebt haben.

Aus sicherer Entfernung sehe ich ihn mir an. Ich sehe ihn gerne an. Für mich ist er noch immer wunderschön. Seine blitzenden grünen Augen, seine kräftige Statur, die großen Hände, die laute Stimme. Sein Auftreten, sein Lachen, sein Selbstbewusstsein. Ich kann nicht aufhören hinzusehen. Und hoffe, dass er mich ansieht. Tanze, lache mit meinen Freundinnen. Stelle mich in seine Nähe, husche wieder weiter weg. Blicke ihn aber immer wieder an. Bewundernd.

Mit vierzehn waren wir ein zweites Mal zusammen. Wieder genauso intensiv. Aber aus irgendwelchen Gründen haben wir uns damals wieder getrennt und aus den Augen verloren. Dann tauchte er sechs Jahre später wieder bewusst in meinem Leben auf. Und alles war wie damals mit vierzehn. Ein Fingerschnippen von ihm und ich war weich wie ein Grashalm. Völlig biegsam in seinen Händen. Nahezu ausgeliefert. Heimliches Knutschen im Toilettenflur unseres schmierigen Pubs und heimliche Treffen – alles unter dem Alibi meiner Freundin Sabine – weil ich ja eigentlich noch mit Tobi zusammen war, der jedoch gefühlsmäßig sofort wie ein Klotz an meinem Bein hing, seit Sascha wieder aufgetaucht war. Nur noch eine organisatorische Frage, ihn loszuwerden.

Wie eine Katze um den heißen Brei schleiche ich um ihn herum. Irgendwann verwickele ich ihn dann tatsächlich in ein Gespräch. Über irgendwas. Ich kann mich nicht erinnern. Unwichtig. Hauptsache reden und nah sein. Er riecht noch genauso wie früher. Oder bilde ich mir das ein? Um uns herum wird das Partygeschehen langsam lichter. Nach und nach verschwindet ein Partygast nach dem anderen. Der Partygast, der wohl mein Freund ist, möchte auch nach Hause. „Oh, schooon?“ frage ich ihn. „Ich hab noch gar keine Lust. Wäre es schlimm, wenn ich nachkomme?“ Ich schenke ihm dazu mein bezauberndstes Lächeln und denke dabei >Bitte geh endlich!!!< Mein Jagdinstinkt läuft auf Hochtouren und perfekt fädele ich ein, was ich selbst noch nicht mal geplant habe. Rein instinktiv eben. Dann geht er tatsächlich.

Nachdem ich damals die Tobi-Frage geklärt hatte und somit freie Bahn für Sascha war, kam der Tritt. Der größte Arschtritt meines Lebens. Sascha hatte sich für meine beste Alibi-Freundin Sabine entschieden und diese sich für ihn. Boom – mein Leben knallte innerhalb von Sekunden aus der Bahn, als ich verstand. Dabei wollte ich gar nicht verstehen. Wie konnte er sich für sie entscheiden, wo er doch mich haben konnte??? War ich nicht etwas ganz Besonderes für ihn, so wie er für mich? Anscheinend nicht, denn die beiden machten ernst. Heiraten und Kinder kriegen in Rekordzeit. Ich zog mich verletzt in meine Ecke zurück und machte gute Miene zum bösen Spiel. Ging sogar auf ihre Hochzeit, quälte mich selbst und ließ mir (fast) nichts anmerken. Bis auf diese kleine fiese Bemerkung, als ich gratulieren wollte und mir rausrutschte, dass sich da wohl schon wieder Zwei ins Unglück gestürzt hätten. Oops, schnell korrigiert und als kleinen Scherz verpackt – keiner gemerkt! Wie es in mir drin aussah, erfuhr jahrelang niemand.


Im Lauf des Gesprächs überwältigen mich immer mehr die verletzten Gefühle der Vergangenheit. Ich sage ihm, dass wir reden müssen. Nicht hier. Fragend blickt er mich aus seinen schönen, grünfunkelnden Augen an und schiebt mich Richtung Auto. Völlig ungeachtet der letzten Zechkumpane auf der Feier steige ich ein und wir fahren ein Stück weiter, parken auf einer Wiese vor einem Heuschober. Und dann bricht mein Staudamm. Ich prügele hemmungslos auf ihn ein, heule und werfe ihm vor, was er mir damals angetan hat. Sascha blickt mich verständnislos an. So weit gegangen gibt’s jetzt kein Zurück mehr. Also raus damit. Wie er mich gedemütigt und verletzt hat. Wie ich ihn trotzdem all die Jahre nicht vergessen konnte. Wie es mich gequält hat, zu sehen, wie er glücklich(???) war. Mein Kopf dreht sich furchtbar und mir ist ganz schlecht vor Angst – vor seiner Reaktion. Aber wie gesagt – kein Zurück mehr. Und gut so. Irgendwann musste das alles ja mal heraus.

Wir küssen uns. Er schmeckt auch wie früher. Der Kuss ist wie nach Hause kommen und gleichzeitig zerreißt er mich fast vor Gefühl. Er erzählt mir, wie unglücklich er mit Sabine ist. Dass da überhaupt kein Gefühl ist. Dass da wohl auch nie welches war. Sabine ist so kalt, sagt er. Und ich sitze neben ihm und verglühe fast vor Liebe. Wir reden. Über uns, über ihn, über mich. Unsere Beziehungen. Sascha sagt, dass wir ja doch keine Zukunft haben. Er verheiratet und zwei Kinder und ich doch zumindest mitten in einer Beziehungskiste. Verzweifelt versuche ich zunächst, zu widersprechen. Aber er hat recht. Manchmal gibt das Leben wohl für die schönsten Dinge einfach keine Chance. Ich hab gelernt, auf ihn zu verzichten. Für mich nichts Neues, bis auf die Tatsache, dass er tatsächlich noch etwas für mich empfindet. Kleiner Trost für mein wundes Herzchen. Ich bitte ihn abrupt, mich nach Hause zu bringen. Ist besser so, sonst wird alles noch schlimmer. Im Nebel von Absinth und Becks konnte ich den Abend vielleicht ganz schnell wieder vergessen. Damit’s nicht so weh tut.

Aber es tat weh...

Fortsetzung folgt.
 



 
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