Mehr Licht!

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Ein Geburtstag mit über 80 geladenen Gästen. An die 150 werden sich wohl einstellen, vermutet die Ehefrau des Gefeierten. Als ein Gast unter vielen kann man unmöglich 150 Leute kennen, die an einem Ort zur selben Stunde aufeinandertreffen, um einen Mann zu feiern, den man selbst nur flüchtig, bestenfalls hinreichend kennt, mit gutem Willen erklärbarer Grund dabei zu stehen, jedoch nicht ausdrücklich geladen. Insofern bin ich weitestgehend unbekannt.
Als ein Gast unter vielen und zudem nicht wirklich teilhabend an den gemeinsamen Erinnerungen der geladenen Gäste, der vertrauten Mitstreiter, Widersacher und Verehrten des Geburtstagskindes, versuche ich ein Gespräch anzufangen. Als Anlass dient mir eine blaustichige Weltkarte. Sie hängt, verglast und vergilbt, über dem Beistelltisch in der Diele, auf dem in ordentlicher Manier Flaschen und Gläser aufgestellt sind. Noch ist es heller Nachmittag und nur zaghaft wird von Sekt und Wein genommen. Mit dabei steht eine Frau. Auch sie eben noch ratlos und suchend Ausschau haltend, ohne rechtes Ziel, wie ich. Nun, da niemand gewillt scheint, ihrem unsicheren Blick ein Erkennen zu schenken, widmet sie der gerahmten blaustichigen Welt ihre Aufmerksamkeit. Mein Räuspern in ihrem Rücken lässt sie eine halbe Drehung machen. Die verschränkten Arme vor der Brust behält sie bei. Sie lächelt mit den Mundwinkeln. Ich trete neben sie und tippe mit den Fingern gegen die Glasscheibe: „Die gelben Punkte markieren Arbeitsreisen unseres Gastgebers“, sage ich. Sie schaut auf meine Fingerspitze. „Die roten Punkte“, fahre ich fort, „markieren Einladungen von Persönlichkeiten, und die gelbroten Markierungen sind Aufenthalte der Erholung. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob sich das Eine vom Anderen konsequent trennen lässt.“
Die Frau sagt: „Es ist schön, wenn man so viel in der Welt herum kommt.“
„Es ist ernüchternd“, sage ich.
Sie wendet mir ihren Blick zu, halb belustigt, halb fragend.
„Ernüchternd?“
„Jede Reise in ein fremdes Land hat mir nur deutlicher vor Augen geführt, welch gefühlsarmselige Volk das deutsche ist.“
Sie könnte jetzt sagen: „Wollen wir doch das Thema wechseln“, so, wie sie mich anschaut. Sie tut es nicht, drückt nur die verschränkten Arme noch fester an ihre Brust, dass sich aus dem Dekoltèt zwei stramme weiße Hügelchen erheben.
„Beim Anblick dieser Weltkarte ist mir so eine Idee gekommen“, sagt sie nach einer Weile. Ich unterbreche sie nicht, obschon ich sie gerne von meinen Weltbeobachtungen überzeugen möchte, allein weil sie nun doch das Thema zu wechseln sucht. Noch ganz mit den Gedanken darum beschäftigt, wie ich sie an die Freudlosigkeit der Deutschen heranführen könnte, kommt sie mir mittendrin mit ihrer Idee!
„Stellen Sie sich vor“, sagt sie, und sie sieht dabei die Landkarte an mit einem so eigentümlichen Blick, dass ich mich auf Sentimentales einstellen zu müssen erwarte.
„Stellen Sie sich nur einmal vor, all diese Punkte wären lebendig, blinkende, huschende Trabanten, die sich um einen Mittelpunkt bewegten.“
Weil ich die Stirn runzele, und dies tue ich aus blankem Unverständnis, setzt sie ihre Idee in eindringlicherem Ton fort: „Angenommen, ich wäre der Mittelpunkt“ – ich wechsele das Standbein – „und würde alle meine Freunde, alle Menschen, mit denen ich zufällig zusammentreffe, denen ich begegne, nicht nur so im Vorbeilaufen, sondern mit einem Handschlag wenigstens, mit einem Wortwechsel, weil man sich kennt, man weiß nicht mehr woher und warum, also lange genug, wenn auch auf Abstand, um nach den Kindern zu fragen, die, ach Gott!, tatsächlich schon selbst erwachsen und Eltern sind, und dann geht man weiter und entfernt sich wieder und trifft im Tagesgeschäft auf den Nächsten und den Nächsten, so viele Leute den ganzen Tag, und am Abend zur Veranstaltung die besser Bekannten und in der Nacht“, sie senkt die Stimme und lächelt dabei für sich, „den einen oder anderen Mann, mehr oder weniger gut bekannt oder durchschaut oder unbesehen, egal.“
Sie trägt kurzes Blondhaar, fällt mir auf. Sie ist um einiges kleiner als ich, ihre Figur ist wohl zierlich, was ich an den schmalen Schultern festmache, ansonsten ist davon nicht viel zu sehen. Die Frau trägt einen schwarzen Trägerrock, weit und unförmig über ein kurzärmeliges rotes Shirt bis zu den Knöcheln hinunter fallend. Meine Versuche, sie mir in frivoler Umarmung mit einem ihr mehr oder weniger gut bekannten, ja sogar mit einem von ihr unbesehenen Liebhaber vorzustellen, misslingen gründlich. Ihr Gesicht gibt es einfach nicht her. Es ist nicht hässlich, nur fade. Wäre sie mir nun mit einem Temperament gekommen, aus dem sich Wollust oder Abenteuerfreude ablesen ließen, dann wäre es vielleicht gegangen.
Aber so, da sie steht mit ihren Armen vor der Brust und sich als Mittelpunkt der Welt vorzustellen versucht, überkommt mich das Bedauern.
Wie zerstreut sage ich: „So, so.“ Ich halte nicht viel davon, mit fremden Leuten persönlich zu werden. Ansonsten müsste ich ihr sagen, wie wenig mich ihr Gerede begeistert.
Doch anscheinend nimmt sie mich gar nicht wahr. Ohne auf meine lahme Gesprächsbeteiligung einzugehen, beginnt sie erneut: „Stellen Sie sich vor - “, ich wechsele auf das andere Standbein zurück, vorstellen mag ich mir von ihren Vorstellungen nichts mehr, aber mit Tempo fährt sie fort: „Alle diese Menschen, denen ich also im Laufe des Tages, des Jahres, sagen wir während meines ganzen Lebens begegne, werden durch einen unsichtbaren Scan gekennzeichnet –„ Sie dreht mir ihr Gesicht zu. „Sie wissen, was ich meine?“
Ich bestätige ihr mit einem Nicken, dass ich weiß, was sie meint.
Sie nickt ebenfalls. „Und jeder dieser Menschen würde mit einem winzigen Chip versehen wieder in die Welt hinaus gehen, verreisen, sich niederlassen, vielleicht in meiner Nähe, vielleicht sehr weit weg, und ich hätte nun diese riesige Weltkarte in meinem Haus, und damit empfange ich die Signale aller Chips, die mein Scanner aktivierte.“
Auf ihren triumphierenden Blick weiß ich nichts zu erwidern.
Ungeduldig tippt sie mit ihrem Finger auf die Weltkarte hinter Glas. „Hier und hier und überall“, ihr Finger zeichnet einen Bogen von Finnland bis nach China, „überall, wo sich mir bekannte Menschen aufhalten, würde es blinken und flitzen oder ausruhen. Ist das nicht toll? Ich meine, manchmal sind die Leute ganz nah, nur ein paar Häuserecken entfernt, selbst, und das ist mir schon passiert, in einem fremden Land hat man sich um ein Haar nur verpasst, weil man nichts vom Aufenthalt des Anderen wusste, nur weil sich keine Gelegenheit bot, sich vorab darüber zu bereden.
Und manchmal sind sie ganz fern, und dann kann man, weil man ja auf seiner Weltkarte ihr Blinken sieht, sich zu ihnen träumen, auf die Malediven, in die Wüste, ins Eis. Und hinterher sogar ein wenig beleidigt sein, wenn man keine Urlaubskarte bekommen hat.“
In ihre Atempause hinein sage ich: „Also, ich weiß nicht recht. Ich fände es beängstigend, mich derart kontrolliert zu wissen.“
Sie lässt die Arme sinken. Nur einen Augenblick verweilen sie an der Seite, dann verschwinden sie hinter ihrem Rücken. Der Trägerrock strafft sich über ihren Bauch. Ich sehe, sie ist schwanger. Dieser eigentümliche Blick kehrt zurück. Sie sagt, leise, fast wie entschuldigend: „Ich muss keine Namen zu den Lichtern haben. Ich wüsste nur, und in gewissen Momenten ist es wirklich gut, es zu wissen: Ich bin nicht allein. In meiner Nähe blinkt ein Licht.“
 
K

Kasoma

Gast
Eine tolle Idee, perfekt umgesetzt, Kompliment!
Für meinen Geschmack sind mir die Personenbeschreibungen zu detailliert, aber viele wollen genau das, oder!?
Alles in allem: Eine super Story!

Lieber Gruß von Kasoma
 
Hallo Katrin Volkmann,

dein Text hat mich durch die konsequente Perspektive, vor allem zu Anfang, beeindruckt. Man wird schön in die inneren Empfindungen und Erwägungen des Protagonisten hereingeführt. Eine individuelle Sprache, die auch komplexe Satzkonstruktionen tadellos meistert. Die Szene ist stimmig und sicher aufgebaut.

Eine Kleinigkeit, in der ich mich der Vorkommentatorin anschließe:
Im Unterschied zum ökonomischen Beschreibungsfluss zu Beginn wirkt die spätere Personenbeschreibungen sehr detailliert, ich möchte nicht sagen geballt. Plötzlich schleicht sich scheinbar eine Art „auktorialer“ Erzähler hinten herein, nimmt sich Zeit, löst sich aus dem Strom des Geschehens und gibt uns sehr genaue Personenbeschreibungen. Es geht hier tatsächlich allenfalls um einen Tick zuviel Verweilen bei der Beschreibung.
Sie trägt kurzes Blondhaar, fällt mir auf. Sie ist um einiges kleiner als ich, ihre Figur ist wohl zierlich, was ich an den schmalen Schultern festmache, ansonsten ist davon nicht viel zu sehen. Die Frau trägt einen schwarzen Trägerrock, weit und unförmig über ein kurzärmeliges rotes Shirt bis zu den Knöcheln hinunter fallend.


Der Duden erlaubt – und ich fände es hier erwägenswert – übersichtliche Zahlen in Erzählungen auszuschreiben, auch wenn sie größer als dreizehn sind. Wie wäre es mit:
Ein Geburtstag mit über achtzig geladenen Gästen.

Aber natürlich, das geht in den Bereich der persönlichen Vorlieben. Denkt man an einen Arno Schmidt, würde er das Prinzip geradezu umkehren und sagen: 1 Witz. Aber ich finde gerade den ersten konstatierenden Satz – auch bezogen auf den Sprachstil - in sich ästhetischer mit der „achtzig“.

Eine ausgezeichnete Prosa!

Liebe Grüße

Monfou
PS: Die Goethe-Zitat-Anspielung als Titel ist natürlich Geschmacksache...
 



 
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