Meiers Welt

3,60 Stern(e) 5 Bewertungen

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Meier ging wie jeden ersten Donnerstag im Monat in seine Stammkneipe. Darauf freute er sich, denn was hatten Männer seines Alters schon zu erwarten? Kinder aus dem Haus, Frau in Teilzeit, Katze meistens bei den Nachbarn und den Arzt sah man öfter als die Verwandtschaft. Da war es schön, mit anderen Leidensgenossen Skat zu spielen, wobei der Wortschatz mit zunehmendem Alkoholkonsum und voranrückender Uhr leicht ausfallend wurde. „Geh mit, du Sau“ oder „Du Arsch, komm endlich raus“ war dann öfters zu hören. Aber das gehörte dazu.

Nicht dazu gehörte an diesem Donnerstag die Frau, die schon seit Meiers Eintreffen an der Theke saß. Die passte nicht hierher, die hatte noch keiner jemals hier gesichtet. Die war viel zu schön für eine solche Dorfkneipe mit ihrem Mief, ihren Spießbürgern, ihrer Tageskarte, deren Gerichte so vorhersehbar waren wie das Hemd, das der Wirt auch in diesem Jahr Pfingsten wieder tragen würde. Die Frau hatte lange rote Locken, wunderschöne braune Augen, einen himbeerroten Mund, der das Wort Versuchung zu buchstabieren schien. Als sie sich anschickte, ihre Apfelschorle, die sie in regelmäßigen Intervallen bestellte, zur Toilette zu bringen, nahm Meier schnell Maß und sah einen wohlgeformten, keineswegs zu schlanken Körper, dessen Silhouette durch einen enganliegenden Pulli und einen knieumspielenden Rock betont wurde. Halbhohe Pumps ließen die Schöne langsam zur Toilette schweben.

'“Mensch, starr die doch nicht so an, die ist doch mindestens zwei Nummern zu groß für dich“, sagte Meiers Kumpel Schmidt zu ihm. „Außerdem – in deinem Alter! Beherrsch dich mal, der Sabber läuft dir ja schon aufs Hemd“, lästerte Schmidt weiter, selbst mit Stielaugen hinter der Dame hersehend. Meier seufzte. Er hatte ja recht. Was wollte so eine schon von ihm wollen, mit seinem Bierbauch, seinen über die Glatze gekämmten Haaren, die diese nur mühsam kaschierten? Nichts. Oder er gab ihr einfach eine Apfelschorle aus, das konnte ja nicht ganz falsch sein.

Die Dame kehrte zurück und nahm wieder an der Theke Platz. Ihre modische Kette ruhte auf ihrem Busen und nicht nur Meier wünschte sich, an Stelle dieser Kette zu sein. Er nahm all seinen Mut zusammen und beauftragte den Kellner, der Unbekannten eine Apfelschorle zu bringen. „Mit schönen Grüßen“ murmelte er noch, wobei er sich nicht sicher war, was genau schöne Grüße waren. Aber siehe da, sie nahm das Getränk an und prostete ihm zu, wobei sie ihm ein strahlendes Lächeln schenkte, das ihre perfekten Zahnreihen entblößte.

„Alter, sie steht auf dich! Also DAS hätte ich nicht gedacht“, lachte Schmidt anerkennend und die anderen pflichteten ihm bei, wobei sie insgeheim dachten, was ist das für ein Blödmann. Trotzdem bewunderten sie seinen Mut und so verliefen die nächsten zwei Stunden mit Zuprosten und tiefen Blicken zwischen Meier und der Schönen.

Dann musste Meier mal für kleine Jungs. Er schwankte leicht zur Toilette, denn er trank niemals Apfelschorle, sondern immer nur Pils und auch einen Kurzen zwischendurch. Als er sein Wasser rauschen ließ, sah er aus den Augenwinkeln seine Angebetete die Toilette betreten.

Vor Schreck hörte er auf zu pinkeln.

Sie kam direkt auf ihn zu, hob ihren Rock hoch und urinierte ungeniert neben ihm. Das konnte sie perfekt. Weil sie ein Er war.

„Danke für die Apfelschorle“, sagte er/sie mit angenehmer Bassstimme, „aber ich muss nun gehen, morgen ist auch noch ein Tag. War nett, dich kennen gelernt zu haben.“ Sprach's, verstaute alles unterm Rock und Strumpfhose und ging.

Meier stand noch immer zur Salzsäule erstarrt. Die schönste Frau des Abends war ein Mann.

So'ne Scheiße! Und er fiel natürlich darauf rein. Naja, nicht nur er. Aber er vor allem.

Das Leben ist eine Baustelle, sagte sich Meier. Was konnte er schon dafür, dass sich Männer als Frauen ausgaben und das gut fanden. Nein, so etwas machte ER nicht. Er war normal. Er war ein Mann und sah auch so aus. Er setzte sich nicht an Theken und führte unschuldige Männer in die Irre, indem er sich als Frau ausgab und alle anmachte. Nein, so etwas machte er nicht!

Das beruhigte ihn. Genau, er war normal. Und dies war ein normaler Abend und er würde jetzt mit seinen Freunden weiterspielen. Als er zu ihnen zurückkehrte, dachten sie, die Schöne wäre ihm auf die Toilette gefolgt, um ihn zu vernaschen. „Ich hab sie abblitzen lassen“, antwortete Meier. Mit Würde.

„Du bist und bleibst ein Trottel“, meinten die anderen und wandten sich wieder dem Spiel zu. Die Frau ward bald vergessen. Meiers Welt war wieder in Ordnung. Das Bier schmeckte. Der Wirt schrieb die Speisekarte für morgen. Tafelspitz in Meerrettichsauce mit Salzkartoffeln und Salat.
 
U

USch

Gast
Hallo Doc,
sehr schöne story, hab´ mich köstlich amüsiert.
LG USch
 



 
Oben Unten