Mein Herr

kies

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Ein graugekleideter Herr liegt auf den Schienen .In der Nacht liegt er dort, betrachtet den Himmel. Sophia sieht ihn zuerst und ich folge ihrem Blick. Der Mann ist füllig, groß und, soweit weit wir das im schwachen Licht der Laterne sehen können, alt. Zur Zeit ist für uns beide vieles alt: Ungegessener und ungeliebter Pudding im Kühlschrank, die Tageszeitung, ein gerahmtes Bild. Ich denke, Sophia ist heute auch alt. Zwar kann man ihr nicht die geringste biologische Hautalterung nachsagen, doch ihre Augen blicken dumm, und ihre Stimme klingt monoton.
Wir gehen auf den Herrn zu. Er scheint nichts zu bemerken. Unsere Schritte schneiden die Stille. Ich habe Angst, genauer gesagt: Ich will nicht mit ihm reden müssen. Vielleicht wird er eine leidvolle Geschichte erzählen, eine > Ich hatte alles und habe es verloren und mich in die Drogen geflüchtet < Geschichte. Oder er beschimpft oder ignoriert mich. Im schlimmsten Fall sieht er mich nur an. Dann muss ich in seinen Augen lesen, und dem was ich sehe irgendeine tiefe Bedeutung zumessen, denn sonst hätte ich das Gefühl gar nichts zu verstehen.
Sophia meint, ich könne es sehr gut, dieses In-den-Augen-lesen. Nicht nur die materiellen Wünsche, sondern auch die Bedürfnisse. Meistens sind diese Urgründe von Angst und Hunger ausgefüllt. Und in Wahrheit kann ich den Augen nicht helfen, ihren Hunger zu stillen. Die Menschen dahinter bleiben allein, mit dem Gefühl ertappt und entstellt zu sein.
Der Herr hat sehr dunkle, sehr braune Augen. Zuerst überschatten wir beide sein Gesicht. Doch Sophia wechselt die Seiten, so dass der Mann zwischen Ihr und mir liegt. Ihre ganze Haltung sagt: Hab Ich es nicht gleich gesagt . Triumphierend ,fast überheblich. „Guten Abend“, sagt sie, und „Kann Ich ihnen helfen?“. Während er weiter den Himmel fixiert erklärt er: „Nein“. Sehr kommunikativer Typ heute Abend, denke ich. Früher war es einfacher. Man sprach sie an, und sie folgten einfach. Heute wollen sie dableiben, am Ende gar überredet werden und dann sämtliche Verantwortung an uns abgeben. „Warum haben Sie es getan?“, fragt Sophia scheinheilig. Er weiß warum, und er weiß das wir es wissen. Ein langes Schweigen. Schließlich: „Ich dachte ich würde auch ein Stern werden, wie der da oben!“. Er deuten auf einen kleinen, kaum sichtbaren Stern. „Aber jetzt sehe Ich, dass Ich ihm niemals näher kommen werde als Ich es damals war.“
Mir entfährt ein Seufzer, so leise das nur Sophia ihn wahrnimmt. Ihr Blick straft mich für meine Inkompetenz, mein unreifes Verhalten. Sophia richtet ihre Aufmerksamkeit wieder an den Herrn. „Haben Sie eigentlich eine Idee wo Sie sich befinden?“, fragt sie laut, „Haben Sie das? ..Nein?? Ich werde es Ihnen verraten. Sie sind ein Nichts im Nichts. Sie existieren nicht und sollten zusehen, dass Sie schleunigst aus diesem Zwischenraum herauskommen. Dies ist eine Sperrzone. Also.. Kommen Sie nun mit?“ „Nein. Danke.“, erwidert er ernst und trocken. Das war ihr noch nie passiert. Sophias Überlegenheit schwindet für einen Augenblick, aber sie ist zu routiniert, um sich nicht sofort wieder zu fangen. Der Erste, der sich nicht von ihrer dominanten Art erweichen lässt. Er hängt am Leben. Er hasst uns.
Ich kenne das wahre Leben nicht, bin immer irgendwo dazwischen. Solche wie uns nennt man Grenzgänger. Ich blicke ihm in die Augen. Sie sind fast unergründlich, ich kralle mich in ihnen fest. Sein Blick ist in Meinem gefangen. „Kommen sie nun mit.“, sage ich. Keine Reaktion. Ich ziehe seine Augen. Etwas Grosses löst sich in ihnen und rollt auf mich zu...wut, wut, schritte, trauer, schritte, schienen, die sterne, ein licht, der zug.. „Kommen sie jetzt!“, flüstere ich. Er steht auf und folgt uns aus dem Lichtkegel der Laterne.
 

Zefira

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Hallo kies,
Dein erster Beitrag hier...? Herzlich willkommen in der Lupe. Die kleine Geschichte gefällt mir sehr, dieses Pärchen, das mit unterschiedlicher Strategie Leben retten geht, hat sofort meine Sympathie. Originell ausgedacht und gut erzählt!

Der letzte Absatz ist richtig schön wuchtig, ein toller Höhepunkt, aber diese Reihe von kleingeschriebenen Substantiven haut (zumindest mich) sehr aus dem Lesefluß, da der Text bis dahin stilistisch doch eher konventionell ist. Gibt es dafür einen besonderen Grund?
 

kies

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Hallo Zefira!
Diese etwas ruppige Abfolge von Wörtern stellt für mich dar, was die Erzählerin in den Augen des Herrn sieht.
Ich habe dieses Stilmittel gewählt, weil Ich den Eindruck hatte, dass dies am Besten ihre Eindrücke vermittelt.
Die Pointe an dieser Stelle ist, dass der Herr bereits tot IST.Als Ich die Geschichte geschrieben habe, hatte Ich nämlich vor Augen, was passieren kann, wenn man nun tatsächlich mal stirbt.
Auf der anderen Seite hast Du aber schon Recht, in gewisser Hinsicht wird der Herr tatsächlich gerettet.
Wenn Du eine Idee hast wie man solch ein Rückblendenmoment
besser oder anders darstellen kann, würde ich mich sehr über eine Hilfestellung freuen.
kies
 



 
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