Mein Herz ist rein

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valcanale

Mitglied
Rund um Weihnachten trank der Vater mehr als sonst. Er kam erst spät von seinen Sauftouren nach Hause, was den Vorteil hatte, dass man länger von ihm unbehelligt blieb.
Dann war es aber angeraten, sich möglichst unauffällig zu verhalten, schon ein falsches Wort oder manchmal nur ein bestimmter Gesichtsausruck konnte eine Katastrophe auslösen. Die Stimmung kippte dann sehr rasch. Und nicht zum Guten.
Die Fingernägel meiner Schwester waren in diesen Tagen noch mehr abgekaut als sonst und ich kratzte nachts Muster in den Wandverputz neben meinem Bett. Möglichst so weit unten, dass sie von der Matratze verdeckt waren und nicht gleich am nächsten Morgen entdeckt werden konnten. Die Angst vor Strafe war ein zuverlässiger Begleiter.

In der Auslage des Dorfladens saß in diesen Vorweihnachtstagen manchmal der Hl. Nikolo. Ein dicker Mann mit rotem Mantel, einem gewaltigen weißen Bart und einer seltsamen Mütze mit einem weißen Kreuz auf rotem Grund. Auf seinen Knien hielt er ein großes, aufgeschlagenes Buch, in dem er hie und da blätterte und mit einem großen Stift Eintragungen machte. Dazwischen fixierte er immer wieder mit einem eindringlichen Blick eines der Kinder, die sich vor der Auslagenscheibe die kalten Nasen plattdrückten.
Manchmal erhob er mahnend den Zeigefinger, während seine Augen ernst und streng blickten, und schrieb gleich darauf etwas in sein Buch. Ob er auch manchmal lächelte war wegen des dichten Bartes nicht zu sehen. Es wurde uns erzählt, er schriebe die guten und die bösen Taten, welche die Kinder während des Jahres begangen hatten, in sein Buch. Ich versteckte mich hinter den anderen, damit er mich nicht sehen konnte. Bei mir gab es, wenn ich meine Strafen übers Jahr zusammenrechnete, doch einige böse Taten.

Ich hielt mich lieber ans Christkind, das mir sanft und lieblich erschien und am Heiligen Abend die Geschenke brachte. Das Christkind, obwohl weiblich und wie ein Engel aussehend, war eigentlich ein kleines Jesulein. Es lag zuerst winzig und nur in eine Windel gewickelt in der Weihnachtskrippe, mutierte dann aber seltsamerweise in kürzester Zeit zu einer lieblichen Lichtgestalt mit Flügeln. Oft war es auch beides gleichzeitig. Das war eines der Weihnachtswunder und ich war immer bereit an Wunder zu glauben.
Das Schönste am Christkind war, dass man sich etwas von ihm wünschen durfte. Und wenn man das Jahr über sehr brav gewesen war, wurde hie und da einer der Wünsche erfüllt. Dann lag eine Puppe unterm Weihnachtsbaum oder ein Malkasten, einmal sogar ein Teddybär, dessen Fell verdächtig dem alten Plüschmantel meiner Mutter ähnelte. Ich war froh, dass das Christkind in mich hineinschauen konnte und auch meine guten Seiten sah. Es brachte zwar auch Dinge, die ich mir nicht gewünscht hatte, etwa eine neue Strickweste oder warme Socken, aber wahrscheinlich wusste es besser als ich, was ich brauchte.

In den Wochen vor dem Heiligen Abend häuften sich die Drohungen meiner Mutter dass uns das Christkind nichts bringen würde, wenn wir nicht brav wären, sondern der böse Krampus kommen und uns in die Butte stecken würde.
Ich war davon wenig beeindruckt. In meinen Augen war das Christkind gütig und verzeihend und kannte mich besser als meine Mutter. Und der Krampus konnte auch nicht ärger sein als der manchmal in Rage tobende Vater, wenn die Kneipentour wieder einmal zu ausgiebig ausgefallen war. Der dann mit seinen riesigen Pratzen alles packte, was ihm in die Quere kam. Mit seinen rotunterlaufenen Augen furchterregend wirkte. Ich hatte gelernt, das auszuhalten.

Und dann war der schwarze Geselle eines Abends da.
Meine Schwester und ich waren an diesem Tag nicht einmal besonders schlimm gewesen, zumindest konnte ich mich an keine Straftat erinnern, die den Krampus dazu bewogen hätte, extra bei uns vorbeizukommen.
Plötzlich rasselten draußen am Gang metallene Ketten und die Schläge an die Wohnungstüre waren laut und heftig. Dann sprang die Türe auf und eine Gestalt im schwarzen Pelz, einem fratzenhaften Gesicht, roten Hörnern am Kopf und einer riesigen Butte auf dem Rücken stand vor uns in der Küche.

Meine Schwester machte sich sofort in die Hose und verkroch sich schreiend unter einem Küchensessel.
Mit tiefer, lauter Stimme rief der Krampus, er hätte erfahren, dass sich hier schlimme Kinder befänden, die der Mutter nicht folgen würden. Und er sei gekommen um uns dafür zu bestrafen. Meine Schwester schrie gleich noch lauter, aber mir kam irgendetwas an der Stimme des teuflischen Gesellen seltsam vor.
Mein nach unten gerichteter Blick, der mehr von der sich der unter dem Küchensessel ausbreitenden Lache, die unter meiner Schwester hervorquoll (da würde es wieder ordentlich was setzen!) fasziniert war, als vom Krampus, fiel auf schließlich auf seine Füße und etwas erstaunte mich.
„Der hat ja die Schuhe vom Papa an!“ sagte ich laut und gleich darauf „Und die Hände hat er auch vom Papa!“ Die waren unverkennbar, hatte ich sie doch schon oft genug mit aller Gewalt zu spüren bekommen. Im Vertrauten und Bekannten verschwindet die Angst. Was man kennt fürchtet man nicht.

Der Krampus schrie, dass er dieses schlimme Kind, das es wagte, ihm zu widersprechen, jetzt gleich in die Butte stecken und in den finsteren Kohlenkeller tragen würde! Es klang immer deutlicher nach der Stimme meines Vaters.
Schon wurde ich hochgehoben, in die Butte am Rücken gesteckt und wir traten den Gang über die Kellerstiege ins Dunkel an. Bevor es ganz finster wurde, sah ich am Hinterkopf des vermeintlichenTeufels ein Gummiband über die kurzen braunen Haare, das die Gesichtsmaske hielt. Nun bestand für mich kein Zweifel mehr, ich hopste begeistert in der Butte auf und ab und quietschte vor Vergnügen über dieses neue Spiel. Mein Vater versuchte noch mit verstellter Stimme ein paar halbherzige Sätze wie „Na warte nur, du böses Kind!“ und „Du wirst schon sehen, was passiert!“ anzubringen, musste schließlich aber selbst lachen, was die Krampusautorität nun vollends zunichte machte. Er nahm die Maske ab und trug mich wieder zurück.

Ich hätte mich im finsteren Keller sowieso nicht gefürchtet. Es war eine beliebte Maßnahme, mich dort bei einem Vergehen für längere Zeit allein einzusperren. Da fühlte ich mich in der Krampusbutte beim Vater viel sicherer.
Meiner Schwester hatte sich das Ereignis aber anders eingeprägt. Sie glaubte noch lange, dass der Krampus im finsteren Keller zurückgeblieben sei. Es blieb ein Ort des Schreckens für sie und ein Grund, sich den Erwartungen der Erwachsenen mehr und mehr anzupassen.

In den letzten Tagen vor dem Weihnachtsabend wurde die Stimmung bei uns zu Hause immer schlechter. Der Vater kam immer öfter erst spät in der Nacht nach Hause, dann hörten wir die Eltern in der Küche streiten, manchmal splitterte Holz oder klirrte Glas. Die Mutter warf dem Vater vor, dass er das letzte Geld versaufen würde und hatte oft verheulte Augen am nächsten Morgen.
Ich kratzte nachts meine Muster immer tiefer in die Wand.

Am Weihnachtstag bemühten wir uns besonders brav zu sein. Meine Schwester und ich verkniffen uns die üblichen Streitereien und schlichen auf Zehenspitzen durch die Küche und das Kabinett, die Tür zum Wohnzimmer war versperrt. Ein Zeichen, dass dort bereits die Englein am Werk waren und beim Schmücken des Christbaums halfen.
Als es dämmrig wurde, zog meine Mutter den Mantel an und ging den Vater suchen. Wir starrten durch die Fenster in die Dunkelheit ob wir das Christkind zu sehen bekamen. Manchmal flog es ja knapp vorbei und hinterließ den schimmernden Glanz seiner Flügel an der Fensterscheibe. Aber es ließ sich nicht blicken.

Die Mutter kam allein zurück, einen harten Zug um den Mund. Sie setzte sich an den Küchentisch und antwortete auf unsere Frage, wann denn das Christkind endlich kommen würde, dass es uns wohl heuer nicht besuchen würde, da es nichts zu bringen hätte.
Ich glaubte ihr das nicht. Ich hatte täglich so viele Wünsche nach dem Abendgebet an das Christkind gerichtet, das dieses genügend Auswahl gehabt hätte. Ein kurzes Überschlagen meiner Sünden brachte zwar einige – in meinen Augen – kleinere Vergehen zum Vorschein, aber ich rechnete eigentlich schon mit einem gütigen Verzeihen, ich war ja nicht absichtlich böse gewesen. „Ich bin klein, mein Herz ist rein..“ hatte ich gebetet. Und daran glaubte ich ganz fest.

Als meine Schwester und ich schon vor Müdigkeit fast einschliefen und der Vater noch immer nicht nach Hause gekommen war, löschte die Mutter das Licht in der Küche und wies uns an, dort zu bleiben. Bald darauf hörten wir das Klingeln des kleinen Glöckchens, das anzeigte, dass das Christkind dagewesen war. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen, das Dunkel wurde von den Kerzen am kleinen Christbaum spärlich erhellt. Wir standen andächtig vor dem Baum und meine Schwester, die schon in die erste Klasse ging, sagte ein Gedicht auf. Dann sangen wir alle gemeinsam ein Weihnachtslied.
Als meine Mutter das Licht anmachte sahen wir unter dem Baum nur zwei nicht ganz fertig gestrickte Pullover (aus der gleichen Wolle wie vom Vorjahr, nur etwas größer) und zwei winzige Päckchen liegen. Am Baum hingen ein paar selbstgebackene Kekse, ein paar rote Äpfel und die Weihnachtsengel, die meine Schwester und ich aus Goldpapier gebastelt hatten. Ich freute mich sehr, dass das Christkind sie für schön genug für den Weihnachtsbaum befunden hatte. Aber kein Stück Schokolade, keines dieser in bunte Folie gewickelten Zuckerl, kein Geleeringerl zierte den Baum. Ich war enttäuscht.
In den zwei kleinen Päckchen befand sich jeweils eine Plastikhülle mit fünf kleinen Buntstiften. Gelb, grün, rot, blau und schwarz.
Ich suchte hinter dem Baum, unter dem Tisch, spähte in die Zweige, irgendwo musste doch noch etwas versteckt sein! Ich wollte es nicht glauben, dass uns das Christkind heuer keinen einzigen Wunsch erfüllen wollte. So böse konnte ich doch gar nicht gewesen sein.
Heuer gibt es eben nichts, sagte meine Mutter und der Zug um ihren Mund wurde noch härter.

Mit dem schwarzen Stift malte ich später das Einwickelpapier voll. Die vielen schwarzen Punkte auf meiner Seele. Ich musste viel schlechter sein, als ich geglaubt hatte. Ein böses Kind.

Am nächsten Morgen riss ich alle selbstgemachten Goldpapierengel vom Baum.
 

Maribu

Mitglied
Hallo valcanale,

eine Kindheit in ärmlichen und scheinheiligen Verhältnissen zu erleben, ist schon Strafe genug! Nun ist der Vater auch noch Alkoholiker und nach dem "Saufen" brutal zu seiner Frau und den Kindern, die schon geschädigt sind und nachts nicht richtig schlafen können, Fingernägel abkauen und Muster in den Wandputz kratzen.

Als Krampus (Knecht Ruprecht) war der Vater wohl ausnahmsweise mal nüchtern und konnte sogar über sich selbst lachen.
Selbst am Heiligen Abend kam er nicht nach Haus. - Was war das für eine Verlogenheit! Mit Abendgebet an das Christkind, dass, (weil die Eltern nichts hatten bis auf die billigen Buntstifte) trotzdem nicht vorbeikam. Den Kindern suggerieren, dass sie "schlecht" seien als Vertuschung, dass der Vater einen großen Teil des Einkommens versoff.

Dass der Pro die Goldpapierengel vom Baum riss, ist verständlich. Aus Enttäuschung, dass das Christkind nicht kam oder wegen der Verlogenheit der Eltern?
Wenn ich in der Situation gewesen wäre, hätte ich den Baum angesteckt!
Ich wünsche frohe und besinnliche Weihnachten!
Maribu
 

valcanale

Mitglied
Rund um Weihnachten trank der Vater mehr als sonst. Er kam erst spät von seinen Sauftouren nach Hause, was den Vorteil hatte, dass man länger von ihm unbehelligt blieb.
Dann war es aber angeraten, sich möglichst unauffällig zu verhalten, schon ein falsches Wort oder manchmal nur ein bestimmter Gesichtsausdruck konnte eine Katastrophe auslösen. Die Stimmung kippte dann sehr rasch. Und nicht zum Guten.
Die Fingernägel meiner Schwester waren in diesen Tagen noch mehr abgekaut als sonst und ich kratzte nachts Muster in den Wandverputz neben meinem Bett. Möglichst so weit unten, dass sie von der Matratze verdeckt waren und nicht gleich am nächsten Morgen entdeckt werden konnten. Die Angst vor Strafe war ein zuverlässiger Begleiter.

In der Auslage des Dorfladens saß in diesen Vorweihnachtstagen manchmal der Hl. Nikolo. Ein dicker Mann mit rotem Mantel, einem gewaltigen weißen Bart und einer seltsamen Mütze mit einem weißen Kreuz auf rotem Grund. Auf seinen Knien hielt er ein großes, aufgeschlagenes Buch, in dem er hie und da blätterte und mit einem großen Stift Eintragungen machte. Dazwischen fixierte er immer wieder mit einem eindringlichen Blick eines der Kinder, die sich vor der Auslagenscheibe die kalten Nasen plattdrückten.
Manchmal erhob er mahnend den Zeigefinger, während seine Augen ernst und streng blickten, und schrieb gleich darauf etwas in sein Buch. Ob er auch manchmal lächelte war wegen des dichten Bartes nicht zu sehen. Es wurde uns erzählt, er schriebe die guten und die bösen Taten, welche die Kinder während des Jahres begangen hatten, in sein Buch. Ich versteckte mich hinter den anderen, damit er mich nicht sehen konnte. Bei mir gab es, wenn ich meine Strafen übers Jahr zusammenrechnete, doch einige böse Taten.

Ich hielt mich lieber ans Christkind, das mir sanft und lieblich erschien und am Heiligen Abend die Geschenke brachte. Das Christkind, obwohl weiblich und wie ein Engel aussehend, war eigentlich ein kleines Jesulein. Es lag zuerst winzig und nur in eine Windel gewickelt in der Weihnachtskrippe, mutierte dann aber seltsamerweise in kürzester Zeit zu einer lieblichen Lichtgestalt mit Flügeln. Oft war es auch beides gleichzeitig. Das war eines der Weihnachtswunder und ich war immer bereit an Wunder zu glauben.
Das Schönste am Christkind war, dass man sich etwas von ihm wünschen durfte. Und wenn man das Jahr über sehr brav gewesen war, wurde hie und da einer der Wünsche erfüllt. Dann lag eine Puppe unterm Weihnachtsbaum oder ein Malkasten, einmal sogar ein Teddybär, dessen Fell verdächtig dem alten Plüschmantel meiner Mutter ähnelte. Ich war froh, dass das Christkind in mich hineinschauen konnte und auch meine guten Seiten sah. Es brachte zwar auch Dinge, die ich mir nicht gewünscht hatte, etwa eine neue Strickweste oder warme Socken, aber wahrscheinlich wusste es besser als ich, was ich brauchte.

In den Wochen vor dem Heiligen Abend häuften sich die Drohungen meiner Mutter dass uns das Christkind nichts bringen würde, wenn wir nicht brav wären, sondern der böse Krampus kommen und uns in die Butte stecken würde.
Ich war davon wenig beeindruckt. In meinen Augen war das Christkind gütig und verzeihend und kannte mich besser als meine Mutter. Und der Krampus konnte auch nicht ärger sein als der manchmal in Rage tobende Vater, wenn die Kneipentour wieder einmal zu ausgiebig ausgefallen war. Der dann mit seinen riesigen Pratzen alles packte, was ihm in die Quere kam. Mit seinen rotunterlaufenen Augen furchterregend wirkte. Ich hatte gelernt, das auszuhalten.

Und dann war der schwarze Geselle eines Abends da.
Meine Schwester und ich waren an diesem Tag nicht einmal besonders schlimm gewesen, zumindest konnte ich mich an keine Straftat erinnern, die den Krampus dazu bewogen hätte, extra bei uns vorbeizukommen.
Plötzlich rasselten draußen am Gang metallene Ketten und die Schläge an die Wohnungstüre waren laut und heftig. Dann sprang die Türe auf und eine Gestalt im schwarzen Pelz, einem fratzenhaften Gesicht, roten Hörnern am Kopf und einer riesigen Butte auf dem Rücken stand vor uns in der Küche.

Meine Schwester machte sich sofort in die Hose und verkroch sich schreiend unter einem Küchensessel.
Mit tiefer, lauter Stimme rief der Krampus, er hätte erfahren, dass sich hier schlimme Kinder befänden, die der Mutter nicht folgen würden. Und er sei gekommen um uns dafür zu bestrafen. Meine Schwester schrie gleich noch lauter, aber mir kam irgendetwas an der Stimme des teuflischen Gesellen seltsam vor.
Mein nach unten gerichteter Blick, der mehr von der sich der unter dem Küchensessel ausbreitenden Lache, die unter meiner Schwester hervorquoll (da würde es wieder ordentlich was setzen!) fasziniert war, als vom Krampus, fiel auf schließlich auf seine Füße und etwas erstaunte mich.
„Der hat ja die Schuhe vom Papa an!“ sagte ich laut und gleich darauf „Und die Hände hat er auch vom Papa!“ Die waren unverkennbar, hatte ich sie doch schon oft genug mit aller Gewalt zu spüren bekommen. Im Vertrauten und Bekannten verschwindet die Angst. Was man kennt fürchtet man nicht.

Der Krampus schrie, dass er dieses schlimme Kind, das es wagte, ihm zu widersprechen, jetzt gleich in die Butte stecken und in den finsteren Kohlenkeller tragen würde! Es klang immer deutlicher nach der Stimme meines Vaters.
Schon wurde ich hochgehoben, in die Butte am Rücken gesteckt und wir traten den Gang über die Kellerstiege ins Dunkel an. Bevor es ganz finster wurde, sah ich am Hinterkopf des vermeintlichenTeufels ein Gummiband über die kurzen braunen Haare, das die Gesichtsmaske hielt. Nun bestand für mich kein Zweifel mehr, ich hopste begeistert in der Butte auf und ab und quietschte vor Vergnügen über dieses neue Spiel. Mein Vater versuchte noch mit verstellter Stimme ein paar halbherzige Sätze wie „Na warte nur, du böses Kind!“ und „Du wirst schon sehen, was passiert!“ anzubringen, musste schließlich aber selbst lachen, was die Krampusautorität nun vollends zunichte machte. Er nahm die Maske ab und trug mich wieder zurück.

Ich hätte mich im finsteren Keller sowieso nicht gefürchtet. Es war eine beliebte Maßnahme, mich dort bei einem Vergehen für längere Zeit allein einzusperren. Da fühlte ich mich in der Krampusbutte beim Vater viel sicherer.
Meiner Schwester hatte sich das Ereignis aber anders eingeprägt. Sie glaubte noch lange, dass der Krampus im finsteren Keller zurückgeblieben sei. Es blieb ein Ort des Schreckens für sie und ein Grund, sich den Erwartungen der Erwachsenen mehr und mehr anzupassen.

In den letzten Tagen vor dem Weihnachtsabend wurde die Stimmung bei uns zu Hause immer schlechter. Der Vater kam immer öfter erst spät in der Nacht nach Hause, dann hörten wir die Eltern in der Küche streiten, manchmal splitterte Holz oder klirrte Glas. Die Mutter warf dem Vater vor, dass er das letzte Geld versaufen würde und hatte oft verheulte Augen am nächsten Morgen.
Ich kratzte nachts meine Muster immer tiefer in die Wand.

Am Weihnachtstag bemühten wir uns besonders brav zu sein. Meine Schwester und ich verkniffen uns die üblichen Streitereien und schlichen auf Zehenspitzen durch die Küche und das Kabinett, die Tür zum Wohnzimmer war versperrt. Ein Zeichen, dass dort bereits die Englein am Werk waren und beim Schmücken des Christbaums halfen.
Als es dämmrig wurde, zog meine Mutter den Mantel an und ging den Vater suchen. Wir starrten durch die Fenster in die Dunkelheit ob wir das Christkind zu sehen bekamen. Manchmal flog es ja knapp vorbei und hinterließ den schimmernden Glanz seiner Flügel an der Fensterscheibe. Aber es ließ sich nicht blicken.

Die Mutter kam allein zurück, einen harten Zug um den Mund. Sie setzte sich an den Küchentisch und antwortete auf unsere Frage, wann denn das Christkind endlich kommen würde, dass es uns wohl heuer nicht besuchen würde, da es nichts zu bringen hätte.
Ich glaubte ihr das nicht. Ich hatte täglich so viele Wünsche nach dem Abendgebet an das Christkind gerichtet, das dieses genügend Auswahl gehabt hätte. Ein kurzes Überschlagen meiner Sünden brachte zwar einige – in meinen Augen – kleinere Vergehen zum Vorschein, aber ich rechnete eigentlich schon mit einem gütigen Verzeihen, ich war ja nicht absichtlich böse gewesen. „Ich bin klein, mein Herz ist rein..“ hatte ich gebetet. Und daran glaubte ich ganz fest.

Als meine Schwester und ich schon vor Müdigkeit fast einschliefen und der Vater noch immer nicht nach Hause gekommen war, löschte die Mutter das Licht in der Küche und wies uns an, dort zu bleiben. Bald darauf hörten wir das Klingeln des kleinen Glöckchens, das anzeigte, dass das Christkind dagewesen war. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen, das Dunkel wurde von den Kerzen am kleinen Christbaum spärlich erhellt. Wir standen andächtig vor dem Baum und meine Schwester, die schon in die erste Klasse ging, sagte ein Gedicht auf. Dann sangen wir alle gemeinsam ein Weihnachtslied.
Als meine Mutter das Licht anmachte sahen wir unter dem Baum nur zwei nicht ganz fertig gestrickte Pullover (aus der gleichen Wolle wie vom Vorjahr, nur etwas größer) und zwei winzige Päckchen liegen. Am Baum hingen ein paar selbstgebackene Kekse, ein paar rote Äpfel und die Weihnachtsengel, die meine Schwester und ich aus Goldpapier gebastelt hatten. Ich freute mich sehr, dass das Christkind sie für schön genug für den Weihnachtsbaum befunden hatte. Aber kein Stück Schokolade, keines dieser in bunte Folie gewickelten Zuckerl, kein Geleeringerl zierte den Baum. Ich war enttäuscht.
In den zwei kleinen Päckchen befand sich jeweils eine Plastikhülle mit fünf kleinen Buntstiften. Gelb, grün, rot, blau und schwarz.
Ich suchte hinter dem Baum, unter dem Tisch, spähte in die Zweige, irgendwo musste doch noch etwas versteckt sein! Ich wollte es nicht glauben, dass uns das Christkind heuer keinen einzigen Wunsch erfüllen wollte. So böse konnte ich doch gar nicht gewesen sein.
Heuer gibt es eben nichts, sagte meine Mutter und der Zug um ihren Mund wurde noch härter.

Mit dem schwarzen Stift malte ich später das Einwickelpapier voll. Die vielen schwarzen Punkte auf meiner Seele. Ich musste viel schlechter sein, als ich geglaubt hatte. Ein böses Kind.

Am nächsten Morgen riss ich alle selbstgemachten Goldpapierengel vom Baum.
 

valcanale

Mitglied
Maribu, danke für dein Feedback!

Was hier geschildert wird (den Kindern zu suggerieren, dass sie böse und schlecht wären und dafür bestraft würden oder schwarze Punkte auf ihrer Seele sammeln würden) war zu dieser Zeit eine absolut gängige Auffassung und auch Erziehungsmethode (auch von der Kirche) und wurde vor allem von den Eltern - weil so üblich - absolut geglaubt! Das hat also nichts mit Verlogenheit gemein! Sie waren überzeugt, das Richtige zu tun! (Trinken fällt natürlich nicht darunter). Da sollten keine Vorwürfe aus dem Text entstehen (wenn es so ist, läuft etwas falsch).
Dass der Vater nicht immer getrunken hat ist ja realistisch. Bemerkenswert für mich, dass du das Verhalten des Vaters nicht aber das der Mutter hinterfrägst. Auch ein Hinweis für mich, etwas zu ändern!
Danke nochmal und liebe Grüße
Valcanale
 
A

aligaga

Gast
So nah an Weihnachten hat bleischwer daherkommende Betroffenheitsprosa vor allem in den deutschen Literaturforen offenbar Höchstkonjunktur!

Man hüte sich, @Valcanale, persönlich gemachte, schlechte Erfahrungen und womöglich eigene Lebensumstände pars pro toto zu nehmen und zu behaupten,
Was hier geschildert wird (den Kindern zu suggerieren, dass sie böse und schlecht wären und dafür bestraft würden oder schwarze Punkte auf ihrer Seele sammeln würden) war zu dieser Zeit eine absolut gängige Auffassung und auch Erziehungsmethode (auch von der Kirche) und wurde vor allem von den Eltern - weil so üblich - absolut geglaubt! Das hat also nichts mit Verlogenheit gemein! Sie waren überzeugt, das Richtige zu tun! (Trinken fällt natürlich nicht darunter).
So haben sich "damals" schon nur die schlechten Eltern ihren Kindern gegenüber aufgeführt. Die besseren wussten sehr wohl, wie man Kinder behandeln muss, damit sie später nicht zu verhaltensgestörten Monstern, sondern zu lebensbejahenden Erwachsenen wurden. Der "Krampus" war in den besseren Kreisen verpönt; er tauchte in aller Regel nur in der Provinz und auch da eher nur dort auf, wo man "robust" miteinander umzugehen pfelgte und ein "Haberfeldtreiben" für ganz normale Folklore hielt.

Die Mehrheit der Mütter, aber auch der Väter wussten damals sehr wohl, wie man Kinder richtig behandelt und haben sich bemüht, ihnen gut zu sein. Sie haben alles für sie getan, was im Bereich ihrer Möglichkeiten lag. Ein kleines Mädchen an Weihnachten so zu erschrecken, dass es in die Hose macht, war seinerzeit ein ebenso großes Verbrechen wie heute und wurde damals wie heute nicht für richtig gehalten.

Wer das in Abrede stellt, sollte sich Korczaks "Wie man ein Kind lieben soll" reinziehen. Korzcak hat es zwischen 1914 und 1916 geschrieben und wurde mitsamt den vielen Waisenkindeern, um die er sich kümmerte, 1942 in Treblinka umgebracht. Sein Henker Heinrich Himmler war ein ganz reizender, treusorgender Familienvater, der seine Tochter Gudrun ("Püppi") vergötterte. Weder hat er sie je geschlagen, noch kam bei Himmlers der Krampus; es gab stattdessen viele schöne Weihnachtsgeschenke z. T. aus dem Fundus der aus dem Genralgouvernement abtransportierten und ermordeten Juden.

Ich finde, das sollte man auch immer wieder sagen, wenn die immer wieder gleichen Weihnachtsgeschichten kommen.

Ich kenne eigentlich nur drei richtig gute. Die von Max Frisch, die von Heinrich Böll und die von @Arno Abendschön.

Gruß

aligaga
 



 
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