Mein Land

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Mein Land
Sie hat es mir erzählt. Mühsam musste ich es mir zusammensetzen aus deutschen, englischen und französischen Satzbrocken. Aber fremd war mir nicht nur die Sprache. Fremd war mir der Inhalt ihrer bruchstückhaften Erzählung. Ich hätte diese Geschichte nicht erwartet, nicht bei der Frau, die jede zweite Woche meine Treppe macht. Gut, sie hat schwarze Haut, ich hätte es ahnen können, aber ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht. Die Treppe war sauber, sie putzte auch immer die kleinen Fenster, sogar den Rahmen und das schmale Fensterbrett.
Einmal saß sie mir in der S-Bahn gegenüber, sie und zwei kleine Mädchen, sie saßen zu dritt auf der Zweiersitzbank, eng aneinander geklammert, als könnten sie sich verlieren. Auch das verstand ich erst, als sie nach dem Putzen der Treppe bei mir eine Tasse Kaffee trank, bevor ich sie für ihre Arbeit bezahlte. Auf meine vorsichtige Frage hin, begann sie zu erzählen.
In drei Stunden wird es hell, drei kleine Stunden nur noch, aber länger als ihr Leben und kürzer als ihr Tod. Da vorn der Stacheldraht, manchmal grell erleuchtet von kreisenden Suchscheinwerfern, viele Atemzüge lang aber verlockend dunkel. Unter ihren Armen kauern sich die Mädchen in den Sand. Sie weinen nicht, sie klagen nicht, sie fragen nicht, sie sind wie schlafend still. Es sind gute Mädchen, sie wissen, wann sie folgen müssen. Aber sie spürt die Anspannung in ihren Muskeln, sie spürt die Angst in dem Zittern der kleinen Rücken. „Gleich“, flüstert sie, „gleich müssen wir los!“
Dann wird die Stille der bergenden Nacht zerrissen von lauten Rufen, Schreien, Schüssen. Schwarze Schatten springen aus der Finsternis, stürmen über die ebene Gasse, branden gegen den Zaun, spülen über ihn hinweg. Das ist ihre Zeit. Sie zerrt die Mädchen hoch, reißt sie mit sich gegen den Zaun, drängt sie durch die Bresche.
Das Schlimmste war, wir sind über Menschen gelaufen, ich habe unter meinen Füßen die Körper gespürt. Es war ein Teppich aus Menschenleibern, aber wir mussten rüber. Da war das weiße Licht der Scheinwerfer, die Schüsse, das Schreien, die Angst und mein Wille. Es gab nur noch eine Richtung, für meine Mädchen, für mich, für unser Leben. Und dann waren wir drin. Wir hatten überlebt.
All das hat sie nicht zusammenhängend erzählt, sondern stückweise, stockend. Es brauchte noch viele Tassen Kaffee und viele Wochen Treppenputzen, bis ich mir ein Bild machen konnte von dieser schwarzen Frau und Adenike und Adedewe, ihren beiden Töchtern. Adenike hat ihren Vater gefunden. Eines Morgens kam sie schreiend ins Haus gerannt, packte ihre Mutter bei der Hand, zerrte sie hinter sich her, sie konnte damals gar nicht so schnell laufen mit ihrem dicken Bauch über die Dorfstraße, sie wusste nur, sie musste laufen, es ging um ihr Leben, in das Maisfeld hinein, nicht weit, da hatten sie den Mais niedergetreten, und da stand sie vor ihrem Leben, das erschossen war, der Rücken blutig zerfetzt, der Kopf zertreten.
Sie kamen immer nachts, sie kamen überfallartig, unerwartet, aber sie kamen häufig, immer häufiger. Zuerst nahmen sie nur Geld, dann nahmen sie die Frauen, und zum Schluss nahmen sie das Leben.
Es war wohl der Schock, dass die Wehen sofort einsetzten und alles sehr schnell ging. Sie gebar ihr Kind neben der Leiche des Vaters. Frauen aus dem Dorf halfen ihr, wie der Arzt ihnen geholfen hatte. Ihr Mann lag stumm daneben. Er konnte nicht mehr helfen. Ihr nicht, sich nicht. Kein ärztliches Wissen kann die Kugeln aus automatischen Waffen unschädlich machen. Die Frauen drehten ihn um und legten ihm das blutverschmierte Kind in den Arm. Sie nannte das Mädchen eine zersplitterte Krone, weil die Älteste eine liebliche Krone war. Und es war hier, im niedergetrampelten Maisfeld unter brennender Sonne, dass sie aufbrach in ein neues Land. Es hielt sie nichts mehr hier, nicht das Haus, nicht die Schule und die Kinder, die sie unterrichtete. Sie war aus dem Boden gerissen wie ein Halm Mais. Von nun an war sie auf dem Weg.
Als ich sie zur Bahn brachte, machte sie mit mir um den Polizeiwagen einen großen Bogen. Uniformen machen ihr Angst. Ich verstehe das, seit ich sie einmal begleitet habe zur Ausländerbehörde. Die zwei Seiten eines Schreibtisches sind Himmel und Hölle. Aber sie weicht dem Konflikt nicht mehr aus. Sie stellt sich ihm. Sie sagt, sie gehöre hier hin. Dies wäre ihr Land. Jetzt.
Ich wunderte mich über den Josua, der immer wieder in ihren Erzählungen auftauchte. War das ein Verwandter? Nein, es war eine alte Geschichte, die mich noch nie interessiert hatte. Ich kannte sie, aber mehr wie einen Artikel aus dem Brockhaus. Kulturgut, doch das hatte nichts mit mir zu tun. Mit meiner afrikanischen Putzfrau schon.
Drei Jahre hat sie noch gewartet, drei Jahre erfüllt von der Angst vor den nächtlichen Überfällen. Drei Jahre, in denen sie immer wieder die alte Geschichte las von dem Volk, das ein Land nahm, das ihm nicht gehörte. Drei Jahre für den Plan, die Route, die Vorbereitung. Aber es war kein Zögern in diesen drei Jahren, kein Zweifel an dem Weg und die ganze Zeit nur ein Ziel. Adedewe musste früh sauber werden, schnell laufen lernen. Sie machte immer weitere Wege mit ihren Mädchen, zuerst nur durch das Dorf, dann weiter, am Fluss entlang, und natürlich jeden Sonntag zur Kirche, um die alte Geschichte von Josua zu hören, die der Pastor ihr zu Liebe oft in seine Predigten aufnahm. Sie brachte ihren Mädchen die fremden Worte bei, ‚Guten Tag’, ‚Auf Wiedersehen’, ‚Bitte’, ‚Danke’. Nicht umsonst sollte ihr Vater in Deutschland studiert haben.
Sie wartet immer noch auf das Papier. Nein, wir warten. Bis dahin hatte ich nicht mehr gewusst, wie wichtig ein Stempel sein kann, ein DIN A4 großer Bogen Papier. Ein Stempel ist das Leben. Ein Bogen Papier die Heimat. Alle vierzehn Tage ist das meine erste Frage, wenn sie sie sich den Eimer holt, Besen, Schaufel, Feudel und Putzmittel. „Haben Sie Post bekommen?“ Sie schüttelt den Kopf. Aber sie sagt, das mache ihr nichts aus. Dies wäre ihr Land.
Zur Not habe ich einen Keller oder miete eine Datsche, irgendwo an einem See in Brandenburg.
 

chrissieanne

Mitglied
hallo rudolf,
ja, und dann merkt man auf einmal, dass da ein mensch mit einer geschichte die treppe putzt, eine individuelle geschichte die für unzählige geschichten der menschen steht, die hier asyl suchen.
sehr gut geschrieben. und versöhnlich insofern, dass es leute gibt, die aus ihrer gleichgültigkeit erwachen.
lg
chrissieanne
 
S

Saurau

Gast
Hallo Rudolf Wolter!

Gefällt mir außerordentlich gut, die Geschichte! Nüchtern, sachlich erzählt, der Erzähler nimmt sich völlig zurück und lässt der Protagonistin Platz für ihre Lebensgeschichte, die sie als Individuum von einer simplen Arbeitskraft unterscheidet. Der Ton gefällt zudem in seiner melancholischen Ehrlichkeit.

Alles Liebe, Daniel
 



 
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