Mein Leben als Ente

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Esta

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Mein Leben als Ente
Die Geschichte vom Schwan, der nicht fliegen konnte​

I.

Noch bevor ich Livs Wohnung betrete, fragt man mich, ob ich das Interview gelesen hätte. Ja, sage ich, natürlich hätte ich das gelesen. Immerhin hätte man es mir mit freundlicher Unterstützung von FedEx zukommen lassen. FedEx. Ich meine – hallo? Wer würde sich schon weigern, die 12 Bögen abkopierten, ursprünglich handschriftlichen Texts zu lesen, wenn sie ihn in einem unnatürlich formell aussehenden, mit schaler Luft zu einem fluffigen Kissen aufgepumpten Schutzumschlag erreichen, dem man die lange Reise durch sauber eingerichtete Büros und empfindliche Maschinerien der fürsorglichen FedEx Cooperation förmlich ansah ... ?
Ja, sage ich noch einmal, als man mir mit einem nervösen Blick begegnet, der irgendwie wirkt, als ähnelte ich einem blutrünstigen Ungeheuer. Vielleicht bin ich das. Ein zu kurz geratenes, stelzbeiniges Wesen, das sich Frau schimpft, das vorgibt einen zerzausten Waschbären auf dem Kopf zu tragen um den Anschein einer bewusst erstellten Frisur zu wahren. Himmel, ich bin nicht ordentlich und ich habe nie das Verlangen verspürt, es zu sein. Das muss mir niemand sagen. Erst recht nicht vor Livs mit gelben Polizeibanderolen – Crime Scene! – abgeriegelter Wohnungstür, die mich anstarrt, als wollte sie mich verhöhnen. Ich schenke dem blank polierten Ebenholz mein patentiertes Haifischlächeln und trete ein.
Der Mann, der mich eben noch mit diesem Hilfe-ein-Ungeheur-rette-sich-wer-kann!-Blick angesehen hat, versucht erstaunlich energisch mich aufzuhalten. Er ist ein aufgedunsener Kerl, den ich für gewöhnlich als fett bezeichnen würde, wären seine Gesicht, seine Beine und Arme nicht dürr und abgemagert wie Bohnenstängel.
Mich überkommt das unwirkliche Gefühl, eine mutierte Apfelsine vor mir zu haben, dick und aufgeblasen und übersäht mit Pockennarben, die in einem früheren Leben einmal fette, vor Eiter angeschwollene Pickel gewesen sein mögen. Die Apfelsine läuft auf zu Streichhölzern. Die Apfelsine fuchtelt mit ihren Schaschlikärmchen in der Luft herum, rutscht haarscharf an einer filigranen Glasvitrine im Flur vorbei und baut sich anschließend in einem schalen Abklatsch von Bedrohlichkeit vor mir auf. Die verschrumpelte Pflaume, die wahrscheinlich einen Kopf darstellen soll, besteht im Großen und Ganzen aus hervortretenden Adern und pulsierenden Adern, aus Schweiß und zwei buschigen schwarzen Raupen, die bei einem normalen Menschen Augenbrauen wären. Unter den Raupen sitzen zwei stumpfe Onyxe und versuchen mit aller Macht, meinem Blick standzuhalten.
Die Apfelsine heißt Alex und verlangt von mir zu wissen, wer ich bin und was ich eigentlich in Liv Chats Wohnung zu suchen hätte.
Ich lächle Alex frostig an, die Onyxe seiner winzigen Augen versinken in ihren Höhlen, die Schaschlikarme schlingern nutzlos an den runden Seiten seines Apfelsinenkörper hin und her.
„Ich bin die böse Hexe“, sage ich heiter und wenn mich nicht alles täuscht, setzt Alex tatsächlich zu einem tapsigen Mauseschritt in Richtung Tür an. Ich frage mich, ob seine Streichholzbeinchen einem Tritt meiner bestiefelten Füße standhalten oder einfach unter ihm weg brechen würden.
Ich wende mich ab und betrachte Livs bescheidende Wohnung. Alex’ Onyx-Blick ruht nach wie vor auf mir. Beiläufig teile ich dem von feinen, dickflüssigen Sonnenstrahlen zu einem Teppich der Farben und Eindrücke verwobenen Flur mit: „Die aus dem Interview. Das werden Sie wohl gelesen haben, oder? Das Interview mein ich.“

II.

Ich bin Ärztin. Schönheitschirurgin. Und ich arbeite in einem permanent desinfizierten Krankenhaus, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, Krankheitserreger und Keime jeder Art möglichst schnell zu eliminieren.
Frauen und Männer gleichermaßen kommen zu mir, um irgendetwas an ihrem Körper verändern zu lassen. Größere Brüste, schlankere Oberschenkel, reine Haut, geradere Nase, hübscheres Gesicht ... Sie kommen zu mir und legen sich unters Messer. Für größere Brüste.
Ich weiß bis heute nicht, welch unglückliche Umstände mein Studium ins Fachgebiet der Schönheitschirurgie gelenkt haben. Ich kann mich ehrlich gesagt nicht entsinnen, als Kind je den brennenden Wunsch verspürt zu haben, zu einem glamourösen Pop-Sternchen zu mutieren. Ich war immer recht glücklich mit meinem Körper – bin es immer noch – und hatte soweit ich mich entsinnen kann nie ernsthaft vor, Ärztin zu werden. Menschen helfen, ja, das klang in den Ohren einer 18-jährigen Abiturientin schon recht verlockend, das gebe ich gern zu – aber Schönheitschirurgie? Bitte!
Egal. Wen stört’s. Ich bin Ärztin, nicht Predigerin. Es steht mir nicht zu, den Menschen, meinen Patienten, etwas vorschreiben zu wollen oder gar an ihre Moral zu appellieren. Als Chirurgin ist es meine Aufgabe verhunzte Körper so umzumodeln, dass sie aussehen wie die eines Übermenschen. Ich habe mich nach den Wünschen meiner Patienten zu richten, mein Geld für unnützen Schnickschnack auszugeben und fertig.
Eigentlich ein ganz angenehmer Job.
Und wenn Liv nicht wäre, würde ich das eigentlich streichen und mich nicht weiter über den tieferen Sinn der viel gerühmten Schönheitschirurgie auslassen.

III.

Liv war eine außergewöhnliche Patientin.
Außergewöhnlich gutherzig und außergewöhnlich hässlich. Sie kam in mein Krankenhaus mit der Bitte, ein schönes Mädchen aus ihr zu machen. Auf die Frage hin, was sie denn unter einem schönen Mädchen verstehe, wurde sie puterrot und ratterte in ihrer nuschelnden Sprache die Namen aller möglichen Pop-Ikonen herunter, von Shakira über J Lo bis hin zu Keira Knightley. Als wir – also das zuständige Ärzte-Team, meine Wenigkeit inbegriffen – ihr erklärten, eine solche Operation sei nicht nur eine Frage des Willens und des Könnens sondern auch des Geldes, warf sie uns einer nach dem anderen einen langen, einen sehr langen flehenden Blick zu und erklärte anschließend, das Geld sei kein Problem, ihr Vater würde das regeln.
Ich mochte sie. Auf Anhieb.
In ihrer tollpatschigen, schrecklich unbeholfenen Art war sie netter anzusehen, als die meisten anderen Patienten. Sie war zwar keine Bohnenstange, aber auch kein Fass. Ihr Gesicht war nicht das von Shakira oder J Lo, doch sah man durch ihre Augen mitunter direkt in ihre Seele. Sie wechselten sogar die Farbe. Giftgrün in Augenblicken der Wut, Seltersflaschengrün in Zeiten der Sanftmut und Grasgrün zu freudigen Zwecken, immer jedoch durchsetzt mit diesen feinen Spritzern Bernsteingelb, die sie in meinen Augen zu einem verkrüppelten Löwen machten.
Es war ausgesprochen interessant, sich mit ihr zu unterhalten.
Ihre Mimik ruhte nie. Immerzu arbeitete es in ihrem rundlichen Mondgesicht und die unterschiedlichsten Eindrücke flackerten über die changierende Iris.
Ein wirklich erfrischendes Kind.

IV.​

Ich sprach oft mit Liv. Versuchte, zu erfahren, welche Hoffnungen sie mit einer Schönheitsoperation verband oder ob sie tatsächlich der Meinung war, ihr Leben durch eine Änderung ihres Körper umkrempeln zu können.
Sie verstand mich nie.
Sie sah mich einfach mit diesen löwenartigen, zu jener Zeit meist giftgrünen Augen an und fragte mich, warum ich das alles wissen wollte.
Sie wurde nie ausfallend oder bissig oder gar sarkastisch. Liv Chat verschanzte sich hinter einer Mauer aus Höflichkeit und Charme und ließ es nie zu, dass etwas aus ihr hervorbrach von dem sie es nicht wollte.
Natürlich hat es Spaß gemacht, mit Liv zu reden. Ich bereitwillig gebe zu, sie das ein oder andere mal gereizt zu haben, lauernd neben ihrem Bett gesessen zu und genüsslich zugesehen zu haben, wie sich ihre Iris von Glasgrün nach Giftgrün verfärbte und schließlich förmlich zu glühen begann. Ich habe es getan, nur um herauszufinden, wie weit ich die stille, liebe, in sich gekehrte Liv aus der Reserve würde locken können.
Darum war es auch eine ... ziemlich negative Überraschung, man könnte es vielleicht sogar Schock nennen, Livs Interview zu lesen.

V.

Januar.

Hallo Welt.
Mein Name ist Liv Chat und ich bin eine Ente. Ein kleines, hässliches Vieh, das in seinem Ententümpel herumdümpelt und nach glitschigen Würmern sucht.
Natürlich schmecken mir die Würmer. Sonst würde ich sie nicht suchen und essen, oder? Nur schmerzt es mich, als dummes Entchen immerzu dem Spott der anderen ausgesetzt zu sein. Der Biber macht sich über mich lustig und sagt, ich sei zu fett, es wäre ja ein Wunder, dass ich überhaupt schwimmen könnte und die ganzen anderen Vögel, die Spatzen und die Amseln und vor allem die Schwäne sehen mich an, als würden sie mich am liebsten tot picken. Ich bin die einzige Ente im Teich.
Nein, mein Vater ist keine Ente. Hey, das ist eine Beleidigung! Mein Vater ist der schönste Schwan von allen! Er strahlt so weiß, dass es weh tut, ihn anzusehen und er beschützt mich vor den anderen bösen Schwänen und sagt mir, ich solle nur warten, ich würde irgendwann auch zu einem Schwan werden und dann könnte ich fliegen, wohin ich wollte und mir ganz viele Enten suchen, die ich aufbauen würde.
Was denkst du von mir?! Dass ich – wenn ich erst mal ein Schwan bin – zu den Aufgeplusterten gehe und mit ihnen tratschte und quatschte?! Du kennst mich nicht, du kennst mich überhaupt nicht, gib es zu.
Na und wenn schon. Du musst es ja nicht direkt behaupten, du kannst es ja auch zwischen den Zeilen verlauten lassen. Zwischen den Zeilen lesen, heißt das.
Dacht ich mir. Na egal. Jedenfalls ... wenn ich ein Schwan bin, dann suche ich mir einen wunderschönen Tümpel voller Würmer und freunde mich mit den Enten an.
Nein, das ist kein Traum, das ist ein Plan.
Find ich auch, ganz toller Plan.
Das weiß ich noch nicht so genau. Mein Vater meinte immer, irgendwann würde ich von ganz allein erkennen, dass ich ein Schwan geworden bin, aber im Moment spüre ich nichts davon. Ich sehe jeden Morgen in den Spiegel und stelle doch fest, dass mich noch immer das hässliche Entlein entgegenstiert, das sich am Abend zur Ruhe gelegt hat. Es ist deprimierend.
Ja, davon habe ich gehört. Vielleicht geh ich irgendwann einmal hin, aber im Moment möchte ich einfach nur nach Würmern suchen und schauen, ob ich nicht doch irgendwo eine Ente in meinem Tümpel ausmachen kann, verstehst du ... ?

Februar.

Hey, dich gibt es ja noch!
Gut geht’s mir, Danke. Ich war gestern ... du weißt schon wo. Ich habe gefragt, ob man aus einem Entlein einen stolzen Schwan machen könnte ...
Natürlich kann man das.
Ich weiß es nicht. Ich scheue mich ein wenig davor, weißt du? Es ist alles so ... so sauber da und ... Ich habe das Gefühl, vor Scham im Boden versinken zu müssen, wenn mich eine von den Hexen anspricht. Sie wollen alles mögliche von mir, manchmal auch ...
Du kannst ja Gedanken lesen!
Unglaublich faszinierend. Jedenfalls fühle ich mich dort unwohl. Es kommt mir vor, als würde ich die Hexen nerven, ihnen irgendwie auf den Schlips treten. Als wollten sie mich am liebsten fortjagen, weil ich doch so ein ... so ein ...
... genau ...

Februar.

Es ist mir jetzt egal, ob ich den Hexen auf die Nerven gehe oder nicht. Ich halte es nicht mehr aus. Die Schwäne hacken auf mir herum, sie lachen über mich und ärgern mich und erzählen dumme Witze, wenn ich in ihrer Nähe bin. Und das schlimmste ist ihr Verhalten gegenüber meinem Vater. Sie verachten ihn! Sie behandeln ihn wie einen Aussätzigen, den man meiden muss! Oh Gott, er tut mir so schrecklich Leid ... Es ist meine Schuld, dass sie ihn so sehr triezen.
Na weil ich doch eine Ente bin. Sie verabscheuen Enten.

März.

Ich bin ein Schwan ... ich bin ein Schwan! Ich stehe morgens auf und gehe ins Bad. Dann hebe ich den Blick und sehe – EINEN SCHWAN!
Danke, ich kann es selbst kaum fassen. Es war so ein langer Weg hierher und jetzt ... jetzt ... jetzt bin ich tatsächlich ein Schwan, kannst du dir das vorstellen?
... ich frage mich gerade ernsthaft, ob ich von dir etwas anderes erwartet hätte ...
Wie es hier ist? Oh, es ist toll! Die Hexen sind supernett und unterhalten sich mit mir, wenn ich reden will und sie bringen mir alles, was ich brauche und verlange ... Sie kümmern sich um mich, als wäre ich ihre Tochter!
Nein, leider nicht. Es gibt eine unter ihnen, die mag mich ganz offensichtlich nicht. Sie ist böse. Ein böse Hexe. Sie redet immer auf mich ein und will mir ein schlechtes Gewissen machen und alles und wenn ich sie frage, warum sie das tut, flüchtet sie sich in fadenscheinige Ausreden ... Aber weißt du was?
Der Rest der Hexen mag sie auch nicht! Sie reden schlecht über sie, wenn sie nicht in der Nähe ist und sie verachten sie, ich sehe es ihnen an!
Natürlich! Ich mag die alte Hexe nicht. Warum sollte ich Mitleid für sie empfinden, wenn die anderen sie doch auch nicht mögen ... ? Es ist gut, Verbündete zu haben ...

April.

Ich bin zu Hause. Mein Vater hat eine bombastische Willkommensparty veranstaltet und alle waren da ... ganze viele Schwäne! Und wie die alle gestaunt haben! Die Augen sind ihnen übergegangen vor Überraschung und sie haben versucht, sich bei mir einzuschleimen. Aber das können sie vergessen, das habe ich ihnen gleich gesagt. Ich lasse mich nicht von den Aufgeplusterten um den Finger wickeln, nein, nein, das können sie von vornherein vergessen.
Ich bin nicht Don Quichotte! Ich werde nicht in einen sinnlosen Krieg gegen die Schwäne ziehen, was wollte ich damit bezwecken? Doch werde ich sie nicht zu meinen Flügelmännern machen.
Na ich will die Welt sehen! Meine Koffer sind gepackt, morgen fliege ich ab! Und dann suche ich mir einen heimeligen Tümpel mit ganz vielen Enten und ganz vielen Würmern.

August.

Ich hab die Welt gesehen ...
Ich weiß nicht.
Ich habe das Gefühl, meinen Tümpel nie verlassen zu haben. Wo ich hinging, traf ich Schwäne und Schwäne und immer neue Schwäne und alle haben versucht, mich um den Finger zu wickeln und ... es war grässlich.
Doch! Viele! Unglaublich viele. Ich habe so viele Enten gesehen, dass es auf keine Kuhhaut geht –
Nein, ein Wal würde auch nicht reichen. Jedenfalls ... diese Enten ... die waren komisch. Die waren ganz anders als ich ... also als ich noch eine Ente war. Die haben sich eingeigelt und sich vor der Welt verkrochen und als ich versucht habe, sie zu anzusprechen, sind sie geflüchtet.
Nein, das ist nicht übertrieben. Sie sind wirklich geflüchtet. Hals über Kopf. Als hätten sie panische Angst vor mir ...
Ich weiß es nicht. Vielleicht fliege ich noch einmal in die andere Richtung und suche dort mein Glück.

Oktober.

Ich kann nicht mehr fliegen. Ich kann es wirklich nicht. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber ich kann nicht fliegen, nicht mehr. Ich bin ein kleiner dummer Schwan, der nicht fähig ist, seine Schwingen auszubreiten und einfach ... zu entschwinden ...
Ich weiß es doch nicht! Ich konnte fliegen, als mich die Hexen entlassen haben, aber ich kann es nicht mehr! Ich habe es verlernt! Und ... außerdem ...
Da ist noch etwas anderes.
Ich habe meinen heimatlichen Tümpel wieder gesehen. Es waren ganz viele Enten darin.
Nein, das ist nicht fabelhaft! Das ist ganz und gar nicht fabelhaft, das ist einfach schrecklich! Sie wollen nichts mit mir zu tun haben, sie flüchten, genau wie all die anderen Enten, die ich getroffen habe!

November.

Vater ist böse auf mich. Die Schwäne hacken noch immer auf ihm herum, obwohl ich jetzt auch ein Schwan bin und sie doch so begeistert von mir waren ...
Er hat mir erzählt, meine Mutter sei eine Ente gewesen. Ich habe meine Mutter nie kennen gelernt, sie ist sehr früh verstorben, aber Vater sagte, ich sei genauso dumm wie sie. Wir haben uns gestritten. Ich schrie ihn an, wie er sie dumm nennen könnte und er sagte, er könne es nicht nur, er täte es auch, sie wäre eine ganz schrecklich dumme Ente gewesen.
Das hat er nicht gesagt. Aber ich habe die anderen Enten gefragt und die erzählten, sie sei eine herzensgute Ente gewesen.
Nein, mehr haben sie nicht erzählt. Mehr wollten sie einem Schwan nicht anvertrauen.

November.

Ich habe etwas herausgefunden. Über meine Mutter. Mein Vater, der Schwan, hat mir ihren Namen verraten und es war ganz leicht, im Internet ein paar Recherchen anzustellen ...
Oh, nichts Wichtiges. Aber ich weiß jetzt, wie ich fliegen kann.
Das verrate ich nicht. Heute noch bin ich flugunfähig. Morgen werde ich fliegen. Auf Wiedersehen.

VI.

Ich stehe in Livs Wohnung und sehe mich um. Es sieht schrecklich aus. Die fünf riesigen Zimmer wirken, als hätte vor ein paar Minuten eine Bombe eingeschlagen. Kleidung, Bücher, einzelne Papierschnipsel, Stifte, CDs – alles liegt in einem wirren Netz des Chaos auf dem Boden. Man muss wirklich aufpassen, wohin man seinen Fuß setzt, will man nicht irgendein Glasfläschchen zertreten und sich einen hübschen Splitter einziehen. Dickflüssiges Sonnenlicht fließt durch die hohen Fenster der weitläufigen Räume und vergoldet alles, was sich darin befindet. Gepflegte Gummibäume, Pflanzen aller Art, Schränke, Kommoden, gläsernen Firlefanz an den Wänden, flauschige Kissen auf den ausgesessene Sofas und Sesseln. Vom Fernseher ausgehend sickert ein statisches Knistern ins Schlafzimmer.
Ich betrachte Livs Bett und frage mich, wie sie sich so hat gehen lassen können. Zu der Zeit, als ich Liv kennen lernte, war sie ein penibles, stets auf Ordnung und Sauberkeit bedachtes Wesen, das nichts mehr hasste als Chaos. Wenn ich mir jetzt ihr saalähnliches Schlafzimmer ansehe, die überquellenden Spiegelschränke, das riesige Bett, die zerwühlten Kissen und Decken, der Schmutz, der auf dem weinroten Teppich lagert, dann frage ich mich, was dem Mädchen alles durch den Kopf gehen mochte, dass sie zu einer derart allumfassenden Wandlung fähig war.
Alex steht hinter mir auf seinen spindeldürren Streichholzbeinen. Er sieht mir mühsam über die Schulter und betrachtet genau wie ich das unschön anzusehende Chaos in Livs Raum. Ich sehe im Spiegel, wie sich seine Lippen bewegen, doch dauert es, bis ich seine Frage für mich zu übersetzen weiß.
„Was hat sie gemeint ...“, flüstert er leise und ich muss mir das Lachen verkneifen, obwohl seine Stimme erstaunlich nach dem überdrehten Quietschen einer Maus in Todesangst klingt. „Was hat sie gemeint mit diesem ... Heute noch bin ich flugunfähig. Morgen werde ich fliegen.“
Ich drehe mich um, sehe ihn an. Das übliche Haifischgrinsen liegt auf meinen Lippen. Ich sage nichts, stapfe lediglich gemächlich durch das wüste Zimmer und öffne die hohe Glastür, die zum Balkon führt.
Stinkende, verseuchte Luft und der Übelkeit erregende Lärm einer pulsierenden Großstadt schwappen mir entgegen. Blitzende Chromvögel ziehen ihre Bahn über den fahlgelben, ausgewaschenen Himmel, Autos kriechen durch die Häuserschluchten der Stadt und spucken ihre giftigen Abgase in die Luft.
Ich mag Städte nicht.
Alex tastet sich schrittchenweise auf den Balkon vor, wobei er den Blick tunlichst auf mich heftet. Die Nervosität, die er mir mit jeder seiner plumpen Bewegungen vermittelt, ist fast physisch greifbar.
Als er sich bis auf einen Abstand von einer knappen Elle zur mir vorgearbeitet hat, holt er tief Luft und fragt noch einmal: „Ich ... mich würde interessieren, was Sie mit Ihrem Ausflug auf den Balkon bezwecken, Miss, ich fragte doch nur -“
Meine Hand schnellt vor, packt den aufquiekenden Alex im Nacken und beugt ihn über das Geländer des Balkons, soweit sein hervorquellender Bauch es erlaubt. Unten, vor dem Aufgang zu Livs pompöser Wohnung, hat sich eine kleine Menge nach oben stierender Menschen versammelt.
„ ... was sie mit fliegen meinte, ich weiß“, zische ich leise und ich spüre ihn unter meiner Hand erzittern. „Verstehst du das denn nicht, Pflaumenhirn? Liv ist geflogen. 23 Stockwerke weit.“
 



 
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