Mein Liebster auf dem Felde

Rafi

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Mein Liebster auf dem Felde

Die Sonne kroch über den Bergrücken und blendete Barticek. Er kniff die Augen zusammen, doch brannten sie dadurch nur noch mehr. Zu lange schon zum Starren aufgerissen, zu lange müde, rot, geschwollen. So gerne hätte er geschlafen. Sich hingelegt, sich in sich gefunden, dem Fallen hingegeben. Seit drei Tagen war er wach, vielleicht seit vier. Liegend zuerst und in die Dunkelheit starrend, sitzend dann und ins Tageslicht starrend. Reglos die meiste Zeit. Nicht zucken, nicht blinzeln, nicht die Brennnesselstacheln aus den Beinen schütteln. Am liebsten nicht atmen, doch gelang ihm dies nicht. Stein wollte er sein, wie einer empfand er schon. Jedoch ist im Stein kein Wollen und kein Fordern, keine Erwartung dringt ein in seine Poren und nichts, auf das er hofft. Das war es, was Barticek vom Dasein eines Steines noch unterschied: allein der Wunsch, zu metamorphieren, mineralisch zu werden, aus dem Kokon Mensch sich zu zwängen und Granit zu sein oder Basalt.

Sein Ziel war das Meer. Heilung erhoffte er sich dort und Erlösung. Vom Leibe brennen sollte die Sonne seine alte Haut, das Salz ihn noch einmal sein eigenes Fleisch schmecken lassen. Und dann, wenn er erst ein Neuer wäre, dann wollte er sich hineinwerfen und sinken lassen, schwer und schlafend auf den Grund taumeln, enden.

Barticek war 35 Jahre alt, und er konnte sich nicht erinnern, einen einzigen Tag glücklich gewesen zu sein. Ein stiller Junge, hatten seine Eltern gesagt, introvertiert ihn seine Lehrer genannt. Das eine war so richtig wie das andere, und doch traf keines die Wahrheit im Kern. Denn Traurigkeit war’s, die Barticeks Seele seit jeher ganz und gar erfüllte, tiefstes Verlorensein, das Empfinden düsterster Einsamkeit. Als Melancholiker wurde er bezeichnet, depressive Verstimmungen diagnostizierte man. Als er begann, Stein zu werden, verbanden sie ihm die aufgeschlitzten Unterarme und verschrieben ihm Tropfen. Sie pumpten die Schlaftabletten aus seinem Magen und therapierten ihn mit Gesprächen und mit Bildern, die er ihnen malen sollte. Sie überredeten ihn, von der Brücke zu klettern und wiesen ihm ein Zimmer ganz in Weiß, dessen Fenster vergittert und dessen Tür verschlossen war. Hatte er genug von alldem, bedachte er sie mit einem Lächeln, so falsch, dass sie es als ihren Erfolg nahmen. Dann ließen sie ihn gehen, erfreuten sich seines Händedrucks und seines Versprechens auf Stetigkeit und übersahen, geblendet vom Schein ihrer Herrlichkeit, die dunkle Wolke, die Barticeks Gedanken war, und aus der keine Tropfen und keine Bilder und keine Gitter ihn zu befreien vermochten.

Er selbst war es, der nun diesen einen Tag finden wollte, der ein glücklicher sein sollte. Im Wasser für die Dauer eines Lidschlags die Sonne erkennen, im Anhalten des Atems ein verborgenes Lachen zutage fördern, im Loslassen der Welt jene Sekunde Zufriedenheit erfahren, welche Leben heißt.
Sein letztes Streben war’s, im ersten Glück zu versteinern.

Ein Holzkreuz, schlicht aus zwei Leisten zusammengezimmert, lenkte Barticeks Augenmerk auf sich. An der Leitplanke stand es, Blumen davor in einem blauen Plastikeimer. Zu bunt, dachte er, zu billig. Wertloses Ende von jemandem, dessen Zeit zu knapp gewesen. Doch ein Andenken immerhin.
Er lenkte den Wagen zu einer Raststätte. Der Tank war fast leer, und ein Kaffee sollte die Müdigkeit aus seinen Augen spülen.
Als er gerade am Automaten einen Kaffee gezogen hatte, sprach sie ihn an: „Nimmst du mich mit?“
Jung war sie, jünger als er, ihr geflochtener Zopf bedeckte dunkelblond ihr Dekolleté. Unter der mit Blüten bedruckten Batikbluse standen die Brüste kaum größer als Apfelsinen und schienen erfreut darüber, von nichts gehalten zu sein. Rot lackierte Zehennägel, in Sandalen steckend, lugten unter einem weiten Rock hervor wie Erdbeeren, die im Frühsommer nach dem Licht der Sonne streben. Frische strahlte sie aus, Unbekümmertheit, Freiheit in einer Art, die im stetigen Jetzt existiert und jegliches Später sich zu Eigen macht.
„Wohin?“, fragte Barticek und wendete den Blick ab, weil er nicht sehen wollte und nicht reden.
Sie jedoch ließ sich nicht wegblinzeln und sagte: „Egal. Irgendwohin.“
„Irgendwohin? Irgendwo ist nirgendwo“, meinte Barticek.
Er überlegte, ob es ihm gefallen würde, Gesellschaft zu haben. Ein kleines Stück vielleicht nur, bis sie genug von ihm haben würde oder er von ihr. Gerade so weit, dass man einander erzählen konnte, wie das Wetter sich entwickeln würde oder in welch für einem Haus man aufgewachsen war. So lange nur, bis man die Platitüden losgeworden war, die sich stets in den Vordergrund drängen, wenn zwei Fremde, die einander nichts zu sagen haben, glauben, sich etwas sagen zu wollen. Ja, vielleicht würde ihm das die Zeit verkürzen. Oder verlängern, was machte das schon?
„Ich will zur Küste, ans Meer.“
„Das ist gut“, sagte sie und nahm den zerschlissenen Rucksack auf, der neben ihren Erdbeerzehen auf dem Boden stand. „Das Meer ist irgendwo und überall.“

Einige Zeit fuhren sie schweigend. Sie hatte ihre Sandalen ausgezogen und den Sitz zurückgestellt, sich eingerichtet. Zunächst ließ sie schweigend all das Draußen an ihrem Blick vorbeihuschen, es zum Drinnen werden. Dann begann sie zu singen. Leise und mit schöner Stimme Worte in Französisch.
„Es ist ein altes Lied von einem Bauernmädchen, das hinaus aufs Feld geht zu seinem Liebsten“, sagte sie. „Das Mädchen sieht die goldenen Ähren des reifen Korns, den Wald, der in vollem Saft steht, die schweren Kühe auf den Weiden und den klaren Bach, der ihr zuruft, welch ein Geschenk das Leben ihr macht.“
„Das Mädchen hat Glück. Es muss ein glückliches Mädchen sein“, stellte Barticek fest.
„Ihr Name ist Marie. Auch ich heiße Marie. Darum ist es mein Lieblingslied.“
„Marie im Glück. Ihr Liebster muss ebenfalls sehr glücklich sein.“
Sie fragte ihn, ob auch er ein Lied wüsste, das seinen Namen trüge.
„Nein. Ich heiße Adrian, und mein Name wird von niemandem besungen.“

Die Sonne stand hoch, und Marie meinte, dass an solchen Tagen, die voll des Lichts seien, die Wirklichkeit sich hinter einem Glanz verberge, der wie der Schleier der Scheherazade sei, nur im umgekehrten Sinne. „Um das Geheimnis ihrer Schönheit zu bewahren“, sagte sie, „verhängte Scheherazade ihr Antlitz mit Gaze. Und um nicht jedes Wesen in Verzweiflung zu stürzen beim Anblick ihres wahren Gesichtes, verhüllt die Wirklichkeit bisweilen sich in Licht. Ein Kleid trägt sie, gewebt aus Schein.“

Maries Worte drangen tief in Adrian Barticek. Ihr Klang ließ seine Seele erzittern, als wäre sie ein Glöcklein, das von einem Hämmerchen aus Perlmutt angeschlagen wurde. Ein Vibrieren war mit einem Mal in ihm, ein Schaudern, wie man es empfindet, wenn man sich an den ersten, unschuldigen Kuss erinnert oder an den Duft einer exotischen Blume, die man zwischen Unkraut fand. Ihm schien, als erbebe etwas in ihm. Leicht, ganz leicht, gerade genug, um den Staub abzuschütteln, der grau und schwer auf seinen Emotionen gelegen. Last löste sich und flog davon; Wärme drängte Kälte hinaus; ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, so wahr, dass es die Welt des Adrian Barticek veränderte.
„Wo bist du nur gewesen in all den Jahren?“, fragte er, und sie antwortete, sie sei stets am falschen Ort gewesen, zur falschen Zeit, im falschen Sein.
„Doch nun“, sagte sie und sah dabei hinaus auf die Wiesen und die Felder und die Häuser, „nun bin ich richtig.“
„Komm“, sagte Adrian, den Rhythmus ihres Sprechens annehmend, „wir wollen diese Straße verlassen, die uns doch nicht weiterbringt und uns einen Platz suchen zum Feiern. Essen will ich mit dir, Marie, und trinken. Dein Lachen will ich hören, wenn es sich mit dem meinen vereint, deine Augen allein will ich mit den meinen sehen, die Luft will ich atmen, die deinen Lungen entströmt!“
Nun blickte sie ihn an, lange und tief, und sagte: „Ja.“

Die Straße führte sie zu einer Stadt, die schöner und pittoresker wurde, je näher sie ihrem Zentrum kamen. Protzten außen noch Burgen aus Beton wie Stein gewordene Bienenwaben, so duckten sich innen rotgedeckte Häuschen mit kleinen Fenstern zwischen hübsch geschmückten Fachwerk; bestand der Rand noch aus viel befahrenem Asphalt, so schmiegte sich im Kern ein Kopfsteinpflaster an die Füße derer, die es betraten; Kindergesichter, die blass waren und ihnen mit hohlen Augen hinterherstarrten, wurden getauscht gegen faltige Gesichter mit rosigen Wangen, die ihnen entgegenblickten.
„Hier ist ein guter Ort“, stellte Adrian fest, „hier können wir sein.“
„Hier wie überall“, sagte Marie. „Solange nur deine Mitte die meine ist.“

Sie saßen im Schatten einer Linde und aßen Brot und Oliven und Tomaten, tranken Wein dazu und hatten einander so viel zu sagen, dass sie die meiste Zeit schwiegen. Spürten sie doch, dass jedes zuviel gesagte Wort den Zauber dieser Augenblicke zerstören würde wie ein Hagel die junge Saat auf dem Feld. Denn selbst das zärtlichste unter ihnen kann zum Fallbeil werden, wird es ohne tiefste Aufrichtigkeit gesprochen. Ich liebe dich zu sagen heißt, den anderen in ein samtenes Kissen zu betten – oder ihn in Sicherheit zu wiegen, bis das Gift seine Wirkung zeigt.
Marie erzählte, dass sie auf dem Weg einen kleinen See in einem Waldstück gesehen hätte, auf dem die Sonne tanzende Sterne malte. Einsam gelegen, verschwiegen wie eine geheime Quelle. „Gar nicht weit zurück, nur ein kurzes Stück.“
„Dann lass uns dorthin fahren“, sagte Adrian. „Wir wollen mit den Sternen tanzen!“

Der See, kaum mehr als ein Teich, lag so, wie Marie ihn beschrieben. Schon warfen die ringsum stehenden Bäume ihre Schatten auf das Wasser, das grün war und ruhig. Doch blitzte hier und da noch die Sonne durchs Laubwerk und zauberte silberne Inseln aufs Wasser, die wirkten, als seien sie Träumen entsprungen.
Adrian und Marie hielten einander bei der Hand, sie standen am steinigen Ufer, ließen ihre Blicke den Schatten folgen, und er sagte nichts, und sie sagte nichts, und es war gut.
Dann wandte sie ihm ihr Gesicht zu, schaute in seine Augen, so tief, so erkennend, dass es ihn schreckte. Ihre Augen sind wie das Meer, dachte er. Man gleitet hinein und man sinkt, die Luft wird einem knapp.
„Nach dir habe ich gesucht“, wisperte der Wind im Laub des Waldes, wie Adrian meinte, doch war es Maries Stimme. „Für immer zusammen, ein Leben lang, und am Ende werden wir eins. Nur du, nur ich, ein gefüllter Krug, aus dem in zwei Gläser eingeschenkt wird.“
Adrian sah, und er roch, und er hörte, und er fühlte. Die Welt in Marie, die Erde und das Harz, ihre Worte, ihre Haut. Wie erbärmlich ein Stein doch ist, dachte er, der dieses Empfinden nie zu kosten vermag.
Im Abendlicht, welches dem See ein rotes Laken überzog, krochen sie aus ihren Kleidern wie zwei Puppen aus dem Kokon. Nun erkannten sie einander wahrhaftig, denn keine Maske war mehr, die etwas verstecken, kein Schleier, der etwas verbergen konnte.
Einander bei den Händen haltend wateten sie ins Wasser, das kühl war und frisch. Sie verloren den Boden unter den Füßen und schwammen hinaus zur Mitte, wenige Züge nur, die befreiten und hinter sich ließen, was war. Dort, weit oberhalb des Grundes, umarmten sie einander, hielt einer sich am anderen, gaben und nahmen sie Wärme im gerechten Spiel der Häute.
„Ich will dich“, flüsterte Marie zwischen zwei Küssen, „ganz und gar.“
Am Ufer betteten sie sich auf ihre Kleider, umschlangen einander, wurden zu Forschern, die mit ihren Händen und mit ihren Lippen fremdes Terrain erkundeten. Eroberer wurden sie, Despoten, Sklaven, Märtyrer und Missionare. Wie kostbar waren doch die Härchen in Maries Achselhöhlen, wie unbezahlbar der Herzschlag unter ihrer Haut am Halse, da, wo sie am verletzlichsten ist. Die Knospen ihrer Brüste wurden zu Edelsteinen, die Bewaldung ihrer Scham zum Dschungel. Ihre Erdbeerzehen schmeckten süß, ihre Kniekehlen wie geräucherter Wein und ihr Rücken salzig wie das Meer. Und als sie voneinander genug gekostet hatten, spreizte sie die Beine und ließ Adrian in das Tal gleiten, in dem er, dem Adler gleich, über Höhen und Tiefen dahinschwebte, Schwerelosigkeit trank und Unendlichkeit aß. Unter sich den Abgrund und über sich den Weltenraum, verlor sich der Mann in der Frau und gab sich dem Schmerz hin, welcher der verlockendste ist. Und sie nahm gierig in ihrem Geben, was er ihr schenkte, wurde erblühende Rose auf felsigem Grund, empfing, spendete Leben und raubte es zugleich.
Nie zuvor hatten sich zwei Wesen so wie diese geliebt. Die Erde hielt inne in ihrem endlosen Kreisen, der Wald verstummte, und der See tauchte ein in die Nacht, die erfüllt war von Gold und von Schreien und von Lust. Adrian biss Maries Lippen blutig, und sie ritzte ihm ihren Namen in die Haut. Löwe war er und sie Antilope, ehe sie zum Orkan wurde und er zum welkenden Ahornblatt.
„Dies ist unsere Geburt“, sagte Marie, als sie nebeneinander lagen und die Sterne über sich blickten, die im Tanz verharrten.
„Unser nie endendes Leben“, sagte Adrian und fasste ihre Hand, die auf seinen Lenden ruhte.

Sie schliefen ein, zum ersten Mal, und kein Traum störte ihren Schlaf. Die Leiber ineinander verschlungen, wirkten sie im Blau der Nacht wie eine Wurzel; zum Lichte strebend, doch mit der Erde verwachsen. Wer hätte sie nun noch als Menschen erkannt, als zwei, die nicht schon immer eins gewesen?
Sie erwachten, noch ehe der Tag sich erhob und liebten einander wieder mit jener Leidenschaft, die nur das Neue zu geben imstande ist.
Als die Sonne sich anschickte, über die Baumwipfel zu kriechen, fanden sie Beeren und einen Apfelbaum, dessen Zweige sich schwer von Früchten zu Boden bogen. Sie ernteten und setzten sich nieder, diese Geschenke anzunehmen.
„Lass mich den Apfel teilen“, sagte Marie. „Von nun an wollen wir alles teilen.“
Aus ihrem Rucksack holte sie ein Messer. Groß war es und scharf, und Adrian fragte, wozu sie es mit sich führe. „Brauchst du es zur Abwehr?“
„Nein.“
„Wenn du angegriffen wirst?“
„Nein.“
„Ist es zum Äste schneiden?“
„Nein.“
„Dann kann es nur zum Töten sein. Ein Messer ist’s, das einem Schlachter zu Gesichte stände!“
„Nein, Liebster, nein!“, rief Marie. „Für mich habe ich es, nur für mich!“
Adrian drang nicht weiter in sie. Sie aßen und sahen einander dabei zu. Schweigend und in den Bewegungen des anderen Antworten findend, auf die es keine Fragen gab.
Als sie ihr Mahl beendet hatten, spürten sie eine Kühle. Wolken türmten sich, kreisten den Himmel ein und tropften Schatten hinab. Wind kam auf, und Marie meinte, dass die Sonne, bräche sie an solchen Tagen wieder durch die Wolken, wie eine Wunde wirke. „Dann wird ein Strahl von ihr zu Blut, mit dem sie die Erde tränkt.“
„So schenkt sie Leben“, sagte Adrian. „Mit ihrem Blut.“

Marie fragte, ob er weiter wolle ans Meer. „Du warst auf diesem Weg, als du mich fandest.“
„Ja, ans Meer wollte ich und noch weiter, tiefer. Dorthin, wo nur noch Schatten ist und Dunkelheit und Kälte. Marie, ach Marie! Du warst es doch, die mich fand. Mich, der ich zeitlebens suchte, der ich mich verirrt hatte von Anbeginn in der Dämmerung. Kein Licht war da, an das ich mich hätte halten können, keine Stimme, in der ich Trost gefunden hätte. Allein war ich, stets allein, und keine Hand gab’s, in die ich mich mit Vertrauen hätte geben dürfen. Der, der ich war, wollte ich nicht länger sein, weil ich den nicht kannte. Fremd war ich mir selbst ein Leben lang. Jemand, der jemandes Leben betrachtet wie ein Zuschauer im Theater den Akt auf der Bühne. Stets war ich so weit entfernt von mir, dass ich mich selbst aus den Augen verlor. Und nun fragst du mich, ob ich weiterhin ans Meer will, Stein sein und sinken? Du hast mir mich geschenkt, durch dich, Marie, bin ich!“
Und dann gestand er ihr all die Sünden, die er an sich selbst begangen. Sprach von der einzigen Liebe, dem einzigen Traum, der einzigen Sehnsucht, die stets in ihm geglüht: „Den Tod wollte ich, Marie, nur den. Schien er mir doch um so vieles wertvoller als das Leben.“
„Und nun, Adrian – wie ist es nun?“
Er nahm ihre Hände und drückte sie an seine Brust. Den Schlag seines Herzens sollte sie spüren, all das junge Leben in ihm. „Nun will ich wissen, wie es ist, glücklich zu sein. Mit dir will ich das Licht finden und die Wärme und die Liebe. Das Glück will ich, Marie, das Glück! Sag, willst du mit mir diesen Weg gehen?“
Voller Zuversicht blickte er sie an. In sich verspürte er Frieden. Der Krieg war beendet, in dem er sein eigener Feind gewesen, die Waffen ruhten, die er gegen sich selbst gerichtet. Zukunft lag vor ihm wie ein Feld goldener Ähren, durch die er an Maries Hand schreiten wollte für alle Ewigkeit.

Doch was war das? Sie entzog ihm ihre Hände, befreite sich von seinem Halt. Ihr Blick, zum See hin gerichtet, war der einer Verlorenen, die suchte. Wonach? Wonach denn nur? Hatte sie denn nicht gefunden?
„Sag doch, Marie – was ist mit dir?“
Ihr Schweigen schrie, sie trat zurück. Weit, so weit! „Sprich doch mit mir! Was hab ich falsch gemacht? Hab ich ein Wort zuviel gesagt? Dann will ich verstummen von jetzt an und für immer! Hat meine Hand dich bedrängt? Dann will ich fortan nur noch hinter dir im Schatten geh’n! War das, was ich mir von dir wünschte, zu unverschämt? Dann will ich niemals wieder etwas verlangen und dir stattdessen schenken, was immer mein ist!“
„Ach, Adrian – nein, das ist es nicht.“ Sie senkte den Blick und atmete schwer. „Es ist das Glücklichsein, von dem du sprichst. Wir sind einander gleich, du und ich, viel gleicher als du ahnst. Und doch trennt uns die Zeit. Jene Tage, Wochen, Jahre, die du bereits gegangen bist. Auf einer Straße durch die Dunkelheit, an deren Gabelung du nun stehst. Hier breitet sie sich weiter aus ins Nichts, dort führt sie dich ins Licht. Du darfst dich nun entscheiden – doch ich noch lange nicht.“
„Dann folge mir doch! Nimm meine Hand und lass dich führen!“
„Wenn das so einfach wäre. Du bist mir voraus und wirst es immer sein. Was vor mir liegt, hast du schon hinter dir.“
„Vor uns, Marie! Vor uns liegt doch das Glücklichsein!“
Und wieder nahm er sie und drückte sie und hielt sie fest. Was, so dachte er, soll diese Kraft, die gerade erst in mir gewachsen, wenn nicht ihr sie geben? Gewachsen bin ich doch erst durch sie; soll sie mich nun auch groß sehen. Für immer, hatte sie gesagt, für immer und ein Leben lang.
Adrian erinnerte Marie an ihre Worte. „Waren sie denn Lüge, nur so dahingesagt?“
Wie ein Vogeljunges ins Nest, so schmiegte sie sich in seine Umklammerung. „Für immer zusammen, ein Leben lang“, flüsterte sie unter Tränen. „Und am Ende werden wir eins. Sag mir, Liebster – ist es wirklich das, was du dir aus tiefstem Herzen wünschst?“
„Nur das, Marie, nichts anderes!“

In der Ferne grollte Donner. Ein Regentropfen fiel zwischen ihre Gesichter und rann zur Hälfte an Adrians, zur Hälfte an Maries Wange hinab.
„Ich weiß einen Ort“, sagte Marie und schaute wie befreit zum Himmel hoch, „an dem sind die glücklichsten Wesen der Welt.“
„Lass uns dorthin gehen.“ Adrian lachte. „Wenn alle da so glücklich sind, dann ist’s wohl ein guter Ort, an dem wir abwerfen können, was unglücklich gemacht. An einem solchem Platz, einem glücklichen, können wir für immer zusammen sein, ein Leben lang. Und am Ende werden wir eins.“

Sie fuhren eine andere Straße als jene, auf der sie gekommen waren. Marie erzählte von der Stadt, die an einem Fluss lag, über den eine Brücke ging. „An Abenden wie diesem“, sagte sie, „findet man dort das größte Glück, das nur denkbar ist. Wenn Himmel und Erde einander küssen, wenn es warm ist und feucht, wenn der volle Mond scheint nach einem Gewitter, dann steigen sie empor. Millionen tauchen auf aus dem Fluss, entfalten ihre Flügel und schwärmen aus. Trunken von diesem einen Augenblick suchen sie einander, finden sie einander, werden sie eins.“
„Wer sind sie?“, fragte Adrian, und Marie erzählte, es seien Insekten. Fliegen, die nur einen einzigen Tag lebten und nur zu einem einzigen Zweck: „Zueinander zu finden, sich zu paaren, eins zu werden. Wenn ihnen das gelungen ist, eine jede den gefunden hat, der ihr bestimmt war von Anbeginn, dann sinken sie hinab und sterben. Dieser eine Tag jedoch, an dem sie gelebt haben, wirklich gelebt, ist ein glücklicher. Warum also sollten sie noch länger leben? Schon der nächste könnte sie ins Unglück stürzen.“

Der Regen nahm zu. Blitze glühten auf dem Asphalt der Straße. Leise, ganz leise begann Marie wieder zu singen. Adrian erkannte die Melodie, doch schienen ihm die Worte diesmal andere. Er fragte, ob es wieder jenes Lied sei von der glücklichen Marie.
„Ja, es ist die letzte Strophe. Doch ist es kein Lied über eine glückliche Marie. Denn bald verdorren die Ähren auf ihrem Weg, der Wald verliert sein Laub. Die Kühe verenden unter Schreien und der Bach färbt sich rot wie Blut. Ihr Liebster, ihr Liebster, zu dem sie wollte, ist auf dem Feld gestorben. Sie kam zu spät, die arme Marie. Ein Schlachtfeld im Kriege war’s und er Soldat …“

Adrian war erschüttert. So ist denn Elysium doch nichts als Illusion?, fragte er sich. Heißt das wahre Sein denn wirklich Hades? Aber sie beide, Marie und er, sie zeigten doch, dass anderes auch möglich war. Liebe, die so tief war und so rein, ließ sich am Ende doch durch nichts zerreißen. In jeder Pore seiner Haut spürte er, dass er stets an Maries Seite sein wollte, sie stets verehren, lieben, küssen und begehren. Was könnte jemals stärker sein als das? Nichts! Nichts, nicht einmal der Tod, der doch in weiter Ferne lag. Bis dahin wollten sie zusammen sein – ein Leben lang.

Der Regenvorhang riss abrupt, silbern schob der Mond die Wolken beiseite und besah, was das Gewitter mit der Erde getan. Aufgewühlt hatte es sie und erneuert. Er schien zufrieden mit dem, was er sah, denn nun blies er den Himmel zur Gänze klar. „Jetzt“, sagte Marie, „jetzt steigen sie auf.“
„Ist es noch weit? Werden wir zur rechten Zeit ankommen, um dieses Glück zu erleben?“ Aufgeregt war Adrian. Denn das, was vor ihm lag in dieser Nacht, schien größer ihm als alles. Und das, was vor ihm lag in diesem Leben, schien ihm, wozu er geboren.
„Es ist nicht mehr weit, Liebster. Bleib nur auf dieser Straße, folge dem Mond, er weiß den Weg. Und sorge dich nicht. Uns ist alle Zeit der Welt geschenkt.“
Ja, so ist es, dachte Adrian. Alle Zeit der Welt.

In der Ferne sahen sie Lichter. Marie sagte, nun seien sie bald da, Adrian solle nur dem Fluss folgen. „Eine Straße führt an seinem Ufer entlang. Und dann, nach einem kleinen Stück, siehst du die Brücke, von der ich sprach. Da hinauf musst du fahren.“
Er fand die Straße, er folgte ihr. Links war der Fluss, der nicht breit war und der im Mondlicht schimmerte wie flüssiges Silber.
„Du musst schneller fahren“, sagte Marie, „schneller.“
„Ich sehe kaum etwas.“
„Fahr schneller, Liebster!“
Adrian drückte das Pedal. „Da, ich seh’ die Brücke schon.“
„Schneller, Liebster!“
Er schaute nicht links, schaute nicht rechts, bog ein auf den Weg zur Brücke. „Wir sind zu schnell, Marie.“
„Nicht schnell genug! Fahr schneller, Liebster!“
Der Bogen war steil, an seinem Ende glitzerte die Stadt. Und dann sah er die Schwärme!

Im Scheinwerferlicht taumelten Millionen, wie Marie es gesagt, stiegen auf bis zum Mond, waren Wolke, Wand und Schleier. Wie ein einziges Wesen waberten die Massen, schlossen sich zusammen zum undurchdringlichen Meer. Ein Zucken war’s aus geflügelten, blitzenden Leibern, ein Gewirr, das die Sinne zerriss und in den Augen schmerzte. Überall waren sie, schwirrten hoch aus dem Wasser, küssten und umtanzten einander, Leib an Leib gepresst verharrten sie vor dem Himmel – und fielen zurück als wären’s Schneeflocken. Ihr Sterben war überall; in der Luft, im Fluss, auf der Straße. Glückliches Sterben. Zu Myriaden bedeckten ihre toten Leiber bereits den Asphalt, zuckten hier und da noch im eigenen Saft und in der Nässe des Regens und im Tau der Nacht.
„Schneller, Liebster, schneller!“, rief Marie. Ihr Gesicht zeigte einen Glanz wie im Fieber.
„Die Straße ist glatt von toten Fliegen!“, rief Adrian.
„Von glücklichen“, sagte sie und griff nach hinten. „Von den Glücklichsten, die nur einen Tag gelebt, wirklich gelebt.“

Er sah das Messer blitzen. Zwei Schnitte tat Marie, den einen links, den anderen rechts. Fast schwarz schoss es aus ihr heraus in Fontänen. Rhythmisch, dem Herzschlag folgend, floss ihr das Leben aus den aufgeschlitzten Adern.
„Was tust du denn, Marie? Warum?“
„Für immer zusammen, ein Leben lang“, sagte sie und beugte sich zu ihm. „Und am Ende sind wir eins.“
Sie drückte ihm das Messer in die Brust. Sanft, ganz sanft und so zart, als würde sie ihn streicheln. Der Wagen, viel zu schnell und ohne Halt auf dem Geschmier, brach aus, zerschmetterte das niedrige Brückengeländer.
Einen Augenblick lang oder eine Ewigkeit sah Adrian sich schweben. Er spürte Maries Umklammerung, die Kapriolen, die der Wagen schlug wie eine Möwe, die sich hinab in die Fluten des Meeres stürzt. Den Stahl jedoch spürte er nicht, Schmerz war da keiner. Erstaunen nur und Liebe und Zufriedenheit.
Nun sank er, in seinen Armen lag Marie. Nicht Stein war er am Ende, sondern Mensch. Ein glücklicher für einen Tag.
 

Vasco

Mitglied
Hallo Rafi,
vorneweg: Ich kann Texte nicht leiden, bei denen mit dem freiwilligen Tod gespielt wird. Wer diesen sucht, hat ein ernsthaftes Problem, eine Krankheit der Seele.

Bei der Liebesgeschichte fehlt mir das Schlüsselerlebnis. Warum sollte sich das Mädchen in einen Kerl verlieben, der seit 4 (!) Tagen scheinbar nicht geschlafen hat. Unterstellt, er habe auch vier Tage auf Körperhygiene verzichtet, muss es schon einen richtig guten Grund dafür geben.

Außerdem arbeitet die Geschichte zu geradlinig auf das Finale zu, das leider schon ab Textmitte unschwer zu erahnen ist. Gerade vor einer solch schweren Entscheidung wären doch einige Kurven, Windungen, Holzwege zu erwarten.

Gruß,
Vasco
 



 
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