Mein Sommernachtstraum

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Wenn wir Schatten euch beleidigt, o so glaubt – und wohl ver­teidigt sind wir dann -: ihr alle schier habet nur geschlummert hier.
Shakespeare, Ein Sommernachtstraum

Minerva und ich diskutierten schon eine Weile über Wahrsage­rei.

„Glaub ich schon“, antwortete Minerva gerade auf meine Fra­ge, ob sie dachte, dass an der Wahrsagerei etwas dran wäre.
„Ich hatte selbst nie damit zu tun, aber einige Freundinnen von mir schon. Und viele davon sind überzeugt, dass das stimmt, was ihnen vorhergesagt wurde. Eine Freundin hat erlebt, dass die Wahrsagerin ihr Sachen aus ihrer Kindheit erzählte, die sie gar nicht wissen konnte. Was ist mit dir Nännchen? Schließlich arbeitest du für den Verein.“
Minerva war meine beste Freundin, und nur sehr langjährige Freundinnen durften mich Nännchen nennen.
Das war mein Spitzname, eigentlich hieß ich Anne. Minerva und ich kannten uns schon seit Kindergartentagen. Kaum zu glauben, also eine richtige Ewigkeit.
Und der „Verein“ den sie meinte, war eine Firma, die zu Minu­tenpreisen telefonische esoterische Beratungen vermittelte, au­ßerdem eine eigene TV-Sendung hatte und monatlich eine Astro-Zeitung herausbrachte.
Vor sechs Monaten hatte ich dort angefangen und seitdem be­kam ich die immer gleiche Frage gestellt. Ob ich daran glauben würde.

„Ich sitze nur im Callcenter und stelle die Verbindung von den Kunden zum Berater her. Das ist alles. Ich lege ja keine Karten oder so. Ein reiner Callcenterjob eben. Die Kunden jedenfalls glauben daran und manche sind extrem begeistert von Bera­tern. Manche wiederum beschweren sich massiv, dass die Bera­ter nur Mist reden würden. Früher, als ich jünger war, war ich auch mal auf dem Trip, Kartenlegen und so. Das war halt eine Phase. Die ist vorbei. Vieles hat einfach nicht gestimmt. Also glaube ich eigentlich nicht dran. Soll jeder selbst entscheiden, wie er dazu steht.“

„Vielleicht ist es so, es hilft manchen Leuten, daran zu glauben, damit sie ihr Leben besser in den Griff kriegen. Manche gehen lieber zu einem Therapeuten. Sowie mit Placeboprodukten. Der Glaube allein bewirkt schon vieles“, sinnierte Minerva, wäh­rend sie zerstreut meine Katze Hermia streichelte, die sich schnurrend auf ihrem Schoss dekorativ zusammen geringelt hatte und sich vertrauensvoll dem Wohlfühlerlebnis hingab.

Mir ging das alles allmählich auf den Keks. Immer musste ich über Glaubensfragen diskutieren, sobald jemand erfuhr, wo ich arbeitete. Es war eine stille Begleiterscheinung dieses Jobs, dass keiner der Mitarbeiter im Callcenter von sich aus kundtat, wo er arbeitete. Es war einfach zu ermüdend, ständig seine Meinung darüber erläutern zu müssen. Wir machten dort alle nur unseren unterbezahlten Job und genossen, wie alle anderen Werktätigen auch, unseren Feierabend.
Ich sah mich ein wenig gelangweilt in meiner Wohnung um. Das Zimmer war fast leergeräumt, die Umzugskisten dafür umso voller und im Schlafzimmer gestapelt, sodass ich inzwi­schen nur über eine freigelassene Schneise abends in mein Bett sinken konnte.

Minerva merkte, dass mich das Thema langweilte und fragte daher, ob ich schon einen Umzugstermin hätte.

„Ich weiß noch nicht, der Vermieter will mich diese Woche an­rufen und dann kann ich den Schlüssel abholen. Sobald ich den Umzugstag fest habe, sag ich dir Bescheid. Danke übrigens, dass du mithilfst. Ich kann jede freie Hand gebrauchen.“ In Ge­danken sah ich im Schlafzimmer die Millionen Kisten, eine schwerer als die andere, die nicht von mir allein bewältigt wer­den konnten. Einige Freunde hatten im Vorfeld schon zugesagt, doch erfahrungsgemäß sprangen 50 bis 70 Prozent der willigen Helfer kurz vorher ab, sodass ich in weiser Voraussicht mehr als benötigt benachrichtigt hatte.

Meine Wohnung war zu teuer geworden, Berlin-Mitte war für mich nicht mehr bezahlbar. Außerdem gab es kaum noch ge­bürtige Berliner. Der Stadtlärm und die zunehmenden Men­schenmassen hatten ein Übriges bewirkt, mich nach einer Woh­nung am Stadtrand umzusehen. Schließlich fand ich eine Woh­nung, die fast am Ende von Spandau lag, dort, wo es viel Grün und Wasser gab. Das versprach Ruhe und günstigere Mietprei­se. Der Vertrag war unterzeichnet und ich saß nun quasi auf­bruchbereit auf meinen viel zu vielen Kisten, bereit, in einer Wohnung untergebracht zu werden, die sonnig und hübsch ge­schnitten war, mit guter Verkehrsanbindung zu meinem Job.

Keine zwei Tage später erhielt ich den Rückruf vom Vermieter, holte den Schlüssel ab und am kommenden Wochenende zog ich ein. Wie vorausgesehen, hatte ein Teil der umzugsfreudigen Helfer abgesagt, wegen Rücken, Reise, zu viel Alkohol am Vorabend, Zeckenbiss, kranker Oma und dem üblichen Pollen­alarm. Wir Städter sind nun mal Weicheier, mich eingeschlos­sen.

Die nächsten zwei Wochen hatte ich Urlaub und genug zu tun, um meine neue Wohnung wohnlich zu machen. Ich tat es mit viel Energie und Spaß, den Sommer stundenweise auf dem großen Balkon, der zur Straße rausging, genießend. Genauer, zu einer Nebenstraße, die so ruhig im verschlafenen Sommer­licht dalag, als ob es ein paar Kilometer weiter keine Stadt gäbe.
Es war kein anonymes Haus, wie ich bereits in der ersten Wo­che feststellte. Es gab zwölf Mietparteien, alle gut bürgerlich und alle kamen ziemlich schnell mit mir ins Gespräch.

Wie sich herausstellte, wohnten auf meinem Flur noch zwei Singlefrauen, es gab drei Wohnungen pro Etage. Und ich war auf dem Flur die dritte Singlefrau, wir alle im gleichen Alter. Das gab von Anfang an viel Gesprächsstoff und ich erfuhr, dass mein Vormieter ein älterer Mann gewesen sei, der hier lange mit seiner Frau gewohnt hatte. Die dann irgendwann verstarb. Danach wurde er ein wenig seltsam, ging wenig raus, unterhielt sich auch nicht mehr viel, heizte im Winter nicht, wie meine Nachbarin dies regelmäßig an der kalten Wand bemerkte und später auch die Mieter über mir bestätigten, da es seitdem im­mer fußkalt gewesen wäre. Außerdem hatte er seinen Telefon­anschluss und die GEZ gekündigt. Ich musste diese also neu anmelden.

Ich liebte die Wohnung vom ersten Tag an. Ich mochte meine Mitmieter, die alle sehr gebildet, freundlich ruhig und arbeit­sam waren, also eigentlich ein ruhiges perfektes Leben in grü­ner Umgebung.

Wenn nicht, und das Gefühl beschlich mich, nachdem ich ein wenig mehr Zeit hatte, meine neue Wohnung zu genießen, wenn ich nicht oft die Empfindung gehabt hätte, ich wäre nicht allein in der Wohnung. Ich konnte es ja nicht an irgendetwas festmachen, es war einfach so, dass ich manchmal meinte, ich hätte einen Schatten gesehen, von jemand, der an mir vorbei­gelaufen wäre. Während ich mit irgendetwas beschäftigt war. Manchmal sah ich mich plötzlich um, weil ich das sichere Gefühl hatte, jemand stand neben mir. Doch es war nie jemand anderes da außer mir und meiner Katze.
Tagsüber war alles auch immer völlig normal, es begann erst, wenn es dunkel wurde.
Dazu kam, dass meine Katze Hermia, wenn sie bei mir lag und so etwas passierte, jedes Mal erschrocken aufsprang und aus dem Zimmer lief.

Ich hatte die Ahnung, ich würde hier – und da war ich mir nach wenigen Wochen sicher – nicht alleine wohnen, sondern mit je­manden, der noch in der Wohnung in einer Form herumwan­derte, die ich nicht verstand. Es ängstigte mich niemals, es irri­tierte mich lediglich.
War das eine Art von Klabautermann, der umging – so eine Art Pumuckl, den man vielleicht mit Leim fangen konnte?
Ich kam nicht weiter, fand es allerdings sehr aufschlussreich, als Martina aus der Etage über mir nach mehreren Wochen beichtete, dass der ältere Herr, der vor mir hier wohnte, allein in der Wohnung verstorben wäre. Man hatte ihn Tage später ge­funden.
Es hatte mir niemand erzählen wollen, weil ich so sympathisch wirkte und man mir nicht einen Schrecken einjagen wollte. Vielleicht hätte ich die Wohnung dann nicht genommen.

Die Wohnung hatte bereits ein halbes Jahr leer gestanden. Nie­mand wollte einziehen. Der Vermieter erzählte den Bewerbern anfänglich von dem Toten in der Wohnung, hörte aber auf da­mit, als er merkte, dass die Wohnung so nicht vermietbar war.

Na, das war ja ne schöne Kiste, die ich jetzt mit mir rum­schleppte. Ich musste also annehmen, dass der Geist des älteren Knaben sich noch hier in meiner Wohnung aufhielt oder was? Und das mir, die ich nicht an Spuk glaubte. Der muss sich jetzt echt wohlfühlen, alles neu tapeziert und gestrichen und auch noch ein Teppichboden, damit er ruhiger umherwandern kann und die Dielen nicht zum Knarzen bringt. Abends kann er sogar noch mit mir fernsehen, nachdem er meine süße Hermia verscheucht hat.

Okay, überlegte ich. Das Gute ist, dass er nicht mein Essen aus meinem Kühlschrank klaut, wenn ich nicht da bin, was meine Mitbewohner in meiner alten WG des Öfteren getan hatten. Schlecht ist, dass er nicht im Haushalt hilft. Gut ist, dass er mich nicht voll quatscht, wenn ich müde vom Job komme, schlecht ist, dass ich als Singlefrau nichts wirklich mit ihm un­ternehmen kann. Und – überhaupt, er wohnt noch hier und zahlt keine Miete? Ich war empört. Das ging nun mal gar nicht.

Ich beschloss ihn anzusprechen, wenn ich wieder das Gefühl hätte, er sei in meiner Nähe.
Als ich seine Anwesenheit wieder bemerkte, in Form eines Schattens, der eindeutig an mir vorbei schlich – manchmal warf er inzwischen sogar meine Wohnungsschlüssel vom Ha­ken herunter – sprach ich ihn an. Doch ich spreche die Geist­wesensprache nicht und war daher nicht sicher, ob er mich ver­stand. Ich sagte ihm, dass er hier nicht mehr wohne, schon seit langem nicht mehr. Vielleicht wüsste er es nicht, aber er wäre bereits seit über einem halben Jahr eindeutig tot. Ich wäre so­gar bereit, seine Sterbeurkunde anzufordern, wenn ihm das ir­gendwie weiterhelfen würde.
Die Reaktion war eindeutig. Er ließ mich mehrere Tage in Ruhe. Dann fielen plötzlich Bücher aus meinem Regal, was ich bemerkte, als ich von meinem Job müde nach Hause kam und diese aufsammeln musste. Außerdem waren die Türen meiner Kleiderschränke geöffnet und viele der Kleider lagen mit den Bügeln auf dem Boden.
Innerhalb der nächsten Tage wurden dann Blumentöpfe die be­vorzugte Zielscheibe des anscheinend etwas durchgeknall­ten, nicht sichtbaren Mitbewohners. Die Blumenerde lag groß­zügig verteilt überall in der Wohnung.

Es erweckte allmählich den Eindruck, dass der Geist mich nicht besonders mochte. Ich beschloss Minerva anzurufen, die ja Freundinnen kannte, die schon Erfahrungen mit Wahrsagern hatten. Minerva konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Ich dachte, an so was glaubst du nicht. Gerade du. Du sitzt doch an der Quelle. Lass dich doch beraten.“ Ich sah sie förm­lich durchs Telefon grinsen.

„Wenn du dich fertig amüsiert hast, könntest du dich eventuell wieder dem Thema widmen und mir sagen, wen ich da zu Rate ziehen kann. Dieser verstorbene Alte ist echt bös. Der weiß wahrscheinlich noch nicht mal, dass er tot ist. Er denkt sicher, ich wäre ein unerwünschter Fremdkörper in seiner Wohnung und will mich raus treiben.“

Als Minerva sich beruhigt hatte, so nach gefühlten zehn Minu­ten Belustigung auf meine Kosten erwähnte sie eine Wahrsage­rin. Bei der war eine Freundin von ihr oft gewesen. Sie würde die Freundin mal anrufen und mir die Telefonnummer über whatsapp schicken.
Währenddessen hörte ich sie weiterhin unterdrückt kichern. Mir war es inzwischen egal, Hauptsache ich bekam die Tele­fonnummer.
Als ich diese dann auch hatte, rief ich die betreffende Wahrsa­gerin an und war zwei Tage später bei ihr. Sie wohnte irgendwo in Schöneberg, in einem Haus, das schon bessere Tage gesehen hatte.
Als ich klingelte, ließ mich eine übergewichtige Frau mit dun­kel gefärbtem Haar und viel zu vielen Sch´s (Schmuck, Schminke, schwarze Katze, schwabblig, schräg) ein. Sie sah nicht besonders sympathisch aus – aber nun war ich schon mal da und hatte ein Anliegen, das ich so schnell wie möglich gelöst haben wollte.
Sie bat mich erst mal in die Küche, fragte, ob ich lieber einen Kaffee oder einen Tee wolle, stellte sich als Annabelle vor und ließ sich von mir genau berichten, was in meiner Wohnung los war.
Mit meiner Tasse Kaffee in der Hand machten wir uns auf ins Wohnzimmer. Auf ihrem Tisch lagen mehrere Kartendecks.

„Dazu muss ich überhaupt keine Karten legen. Es ist ganz ein­fach. Die verstorbene Seele wohnt noch in deiner Wohnung, weil sie nicht weiß, dass sie verstorben ist“, antwortete sie mir.
„Warte bis zum nächsten Vollmond, der ist in fünf Tagen. Stelle 42 Kerzen im Wohnzimmer auf und zünde sie an, sobald es dunkel ist. Dann kannst du den Verstorbenen sehen. Nimm sei­ne Hand, führe ihn auf den Balkon und stoße ihn über das Ge­länder. Danach ist er frei und im Reich der Toten. Deine Woh­nung gehört somit wieder dir.“
42 Kerzen? Dachte ich. Ist das die Antwort auf alle Fragen?
Die Sitzung war zu ende. Ich zahlte viel zu viel von meinem sauer verdienten Geld. Wahrscheinlich würde ich es bereuen, für mich klang das alles etwas wirr.

Doch bis zum nächsten Vollmond hatte ich die Kerzen einge­kauft und überhaupt, immerhin sah das bestimmt sehr roman­tisch aus, 42 Kerzen im Zimmer, auch wenn es sonst sicher nichts bringen würde.

Vollmond. Der dicke saftige gelbe Mond schien ins Fenster. Ich zündete ohne große Erwartungen brav alle Kerzen an. Meine Fingerkuppen würden am nächsten Morgen mit Hornhaut auf­stehen, dachte ich, als sich allmählich das Muster des Feuer­zeugrädchens in diese abzeichnete.
Doch es brachte einen unverhofften Erfolg.

Es machte Plopp, ein Plopp, als ob man einen Korken aus einer Flasche ziehen würde.
Und vor mir stand – nicht der verstorbene Vormieter. Sondern eine ältere, kleine dicke Frau im Nachtgewand mit Locken­wicklern im Haar, ziemlich verschlafen. Sie schaute mich mür­risch an.
„Was soll das jetzt? Ich habe mich gerade hingelegt, geht’s dir noch gut, mich einfach zu wecken? Du hast sie wohl nicht alle“, wies sie mich unsanft zurecht.

Also, damit hatte ich ja nun nicht gerechnet. Eigentlich eher mit gar nichts, aber wenn mit irgendwas, dann doch bitte schön nicht mit solch einer alten Dame.
Sie baute sich vor mir auf, stemmte die Hände in die Hüften und wetterte los:
„Stehle mir nicht meine Zeit, dummes Ding. Ich habe wahrlich besseres zu tun. Immer diese Irren, die Seancen abhalten, um sich einen Spaß mit uns armen Geistern zu machen. Weißt du eigentlich, wie das ist, wenn man aus seiner Welt raus gerissen wird, weißt du das überhaupt? Natürlich weißt du Dummjan das nicht, hast ja keine Ahnung. Du findest das einfach nur toll, sicher.
Ich sag dir jetzt mal, wie das ist. Bist grad dabei, etwas zu tun und plötzlich geht ein irrsinniger Schmerz durch dein körperlo­ses Sein, weil sich so ein Körper drüber stülpt, der schon lange nicht mehr passt, richtig weh tut das. Aber dir ist das ja völlig egal, du hirnloses Geschöpf. Und dann, wenn du vor Schmerz gekrümmt in irgendeinem fremden Raum stehst, wollen alle mit dir dumm labern: „Wie ist das so im Jenseits, geht es dir da gut? Was machst du da so? Gibt es da auch Gras und Himmel? Seht ihr echte Engel?“ Dieser ganze Scheiß Habt ihr auf der Erde sonst nichts Besseres zu tun heutzutage?
Ich habe das echt satt, also komm zur Sache, damit ich wieder zurück kann. Wenn ich dich dummes Ding bei mir wiedertref­fe, dann setzt es was, das sag ich dir.“

Autsch. Klang nicht wirklich gut, da hatte jemand anscheinend schlechte Laune.
Ich setzte gerade zu einer einschmeichelnden Entschuldigungs-Erklärung an, doch ich kam gar nicht zu Wort.

„Wooh, das hätte ich jetzt nicht gedacht.“ Das garstige Etwas sah sich im Raum um.
„Sieht aus wie meine alte Wohnung, lass mich mal schauen, ach schön, hier hab ich doch gewohnt, meine alte Wohnung, wirklich.“
Sie schwebte an mir vorbei, mich völlig ignorierend und wan­derte durch die Räume, während ich ihr schweigend und etwas verwirrt folgte. Nachdem sie alles in Augenschein genommen hatte, glomm ein zufriedenes Licht in ihren schwarzen Augen auf.
„Sieht gut aus, hast was gemacht aus der Wohnung. Nicht schlecht, muss ich schon sagen. Viel besser und gemütlicher als früher. Hut ab. Hätte ich nicht gedacht, von so einem dussligen Menschen wie dich.“

Ich nahm das einfach mal als Kompliment und versuchte einen Dialog, denn ihr Monolog ging mir allmählich ein wenig auf den „Geist“.
„Ähem, ich bin wohl nicht so gut im Herbeizaubern Verstorbe­ner und es ist auch nicht persönlich gemeint, also eigentlich wollte ich dich gar nicht herbeirufen, obwohl, sicher, du bist ja wirklich sehr faszinierend, richtig sympathisch. Eigentlich wollte ich den Verstorbenen hier finden, der immer noch in der Wohnung herumgeistert. Weil ich nicht will, dass der hier wei­ter umherwandert, das irritiert mich. Ich wollte ihn bitten, mich in Ruhe zu lassen.“

„Hier wandert niemand rum. Mein Gott, wie dumm die Men­schen sind. Saublöd.“
Sie furchte ihre Stirn und lauschte. „Hörst du es nicht, das ist doch nur Shakespeare. Der will nichts von dir. Wie eingebildet du bist, Mädchen. Als ob Shakespeare an dir interessiert wäre, also wirklich.“ Sie begann zu lachen, ein merkwürdiges La­chen, dass sich im Raum ausbreitete wie ein galoppierendes wieherndes Pferd.
„Shakespeare. Und du denkst, nein, wirklich.“

Langsam kam ich mir vor wie ein Trottel. Vielleicht interessier­te sich Shakespeare nicht für mich, weil ich so schlechte Ge­schichten schrieb und er ein großartiger Schriftsteller gewesen war? Das konnte ich verstehen. Wäre ich Shakespeare gewe­sen, ich hätte mich auch ignoriert. Aber immerhin, er könnte mir vielleicht ein paar Tipps geben, was Schreiben anging.

„Naja, dass Shakespeare sich nicht für mich interessiert, also damit kann ich leben. Nur nicht mit ihm in meiner Wohnung. Das nervt ein wenig.“

„Liegt an der Katze“, sagte sie versonnen, während sie die Dru­cke von Miro, die an der Wohnzimmerwand hingen, betrachte­te.
„Miro mochte ich auch immer sehr, du hast einen guten Blick für Kunstwerke. Ich weiß noch, in Paris hatte ich Bilder von ihm gesehen, einfach fantastisch. Genial. Man denkt, sie sind simpel, dabei sind sie verspielt. Oder man denkt, sie sind ver­spielt, dabei sind sie simpel. Gar nicht so einfach, seine Bilder und seinem Gedankengang zu folgen.“

„Ja, sicher, ich bin auch der Meinung, jeder sollte einen Miro zuhause haben. Gibt nix drüber. Aber um auf das Thema zu­rück zu kommen. Was kann ich machen, um Shakespeare, ob­wohl ich seine Werke über alles liebe, ich habe seine gesam­melten sogar in meinem Bücherschrank, also, obwohl ich ihn sehr verehre. Was kann ich machen, um ihn loszuwerden?“

Sie gluckste vor sich hin.
„Shakespeare hat sicher niemals geschrieben, wie könnte er auch, er ist ja nur ein Hauskater“, erwiderte sie abwesend, Bleu I von Miro studierend.
„Er hat sich in deine Katze Hermia verliebt, dieser Rumtreiber. So war er schon immer. Ein kleiner Don Juan. Unser Shakes­peare. Immer allen süßen Katzen hinterher jagen. Ja, er war schon ein echter Draufgänger. Entsorge deine Katze, dann bist du ihn los.“

Meine süße Hermia entsorgen? War sie irre? Ach ja, doch, war sie. Nicht von dieser Welt. Und völlig unemphatisch, was le­bende Wesen anging, wie ich bereits feststellen musste. Ob wir alle nach unserem Tod so wurden?
Ich erklärte ihr, dass das keine Lösung für mich war. Das meine Katze vorhatte, erst dann entsorgt zu werden, wenn sie einen natürlichen Todes gestorben wäre. So wie wir das hier in der Menschenwelt allgemein favorisieren, wenn sie sich noch erin­nern könne.

„Richtig, so ist das bei euch, ihr seid so dumm. Wenn ihr wüss­tet, wie das ist, in der anderen Welt zu leben, ihr würdet euch alle sofort freudvoll umbringen. Aber lassen wir das, du wirst es eh erst verstehen, wenn du in meiner Welt bist. Meine Fres­se, soviel Blödheit sollte mit weiteren 100 zusätzlichen Jahren Leben in eurer Welt bestraft werden.
Eigentlich würde ich Shakespeare noch hier lassen, aber weil du nicht die üblichen saublöden Fragen darüber gestellt hast, wie das Leben nach dem Tod ist und weil du mich in meine alte Wohnung gebracht hast, an denen auch ich früher viele Drucke von Miro an den Wänden hatte, nehme ich Shakespeare mit.
Ich habe es sehr genossen, mal wieder Werke von ihm zu se­hen.“
Wenigstens das, dachte ich. Wenn ansonsten schon anscheinend meine Anwesenheit so störend und unerbaulich gewesen war.

Dieses alte kleine brummige Wesen pfiff einmal laut, was wie ein Wolfsheulen klang und mir durch Mark und Bein ging. Ich hatte noch nie so ein schreckliches und lautes Wolfsheulen ge­hört.

Da sah ich ihn. Shakespeare. Ein schattengleiches Wesen auf vier Pfoten, die Schnurrhaare leuchteten, seine Umrisse waber­ten einer Welle ähnlich ins Zimmer hinein und sprangen in die Arme der Frau, die aus dem Jenseits gekommen war. Als er weich gelandet war, hörte ich ein Schnurren, dass wie ein Wal-Echolot aus der Tiefe klang.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte ich, als ich bemerkte, wie sie und Shakespeare sich allmählich auflösten.

Es klang wie ein Windhauch, sie zerflossen beide langsam ins Nichts, als ob es sie nie gegeben hätte. Ein Seufzen flüsterte kaum wahrnehmbar: „Titania, adios du Esel.“

Leute, an diesem Abend war ich noch lange wach, bevor ich in einen traumlosen Schlaf versank. Völlig erschöpft von zu vie­len Eindrücken. Als ich wach wurde, war schon mittags vorbei. Ich machte mich nach meinem üblichen Kaffee und meiner Du­sche auf, um einkaufen zu gehen. Carola, meine Nachbarin, fing mich im Treppenhaus ab.

„Anne, hast du das auch gehört? Das Wolfsheulen letzte Nacht? Es gibt Wölfe hier. Unglaublich.“
Die Nachbarn hatten sich schon ausgetauscht und allen war klar, die Wölfe sind nach Berlin gezogen. Das Pfeifen der klei­nen überirdischen sauertöpfischen Frau, einem Wolfsgeräusch täuschend ähnlich, hatte nicht nur mich erschreckt, sondern auch viele in meinem Haus und sogar in der Nachbarschaft. Denn, wie sich herausstellte, hatte es ein Echo in die umliegen­den Häuser gegeben. Im Sommer sind die Fenster nachts bei fast allen offen, daher wurden unzählige Leute durch dieses Heulen geweckt. Eindeutig ein langgezogenes Heulen eines einsamen Wolfs. Hier. In Berlin. Ein Wolf in der Großstadt.

„Ich habe keinen Wolf gehört. Wölfe gibt es hier nicht. Muss was anderes gewesen sein. Jedenfalls, sorry, bin ein wenig in Eile. Katzenfutter kaufen. Hermia soll ja nicht verhungern und in den Katzenhimmel kommen. Wer weiß, auf wen sie da trifft.“
Ich machte mich auf den Weg. Wer an so einen Blödsinn glaubt, ist selbst schuld. Ich muss das wissen. Schließlich ar­beite ich fast täglich auf dem Schlachtfeld der Esoterik.
 



 
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