Mein alter Vater

Ohrenschützer

Mitglied
Mein alter Vater oder
Er-Kenntnis

Er schleppte sich durch Raum und Zeit
Mehr tot schon als lebendig
Im Hirn den Alz, im Bein den Kalk
Es ging ihm hundselendig

Er winkte sich im Spiegel zu
Das ließ uns wieder hoffen
Als ob er jemand wiedersäh'
Den lang er nicht getroffen

Er hat wahrscheinlich justament
Sein Lebensglück verstanden
Doch dann erstarrte sein Gesicht
Und seine Kräfte schwanden

Er fiel zurück in Apathie
Man konnt' es ihm vergönnen
Wie viele Menschen gibt es, die
Sich nie erkennen können
 
Hi

der opa eines freundes ist an alzheimer gestorben.
ich habe dadurch vieles von dieser schrecklichen krankheit mitbekommen.
in diesem fall würde ich sagen ist das vergessen durchaus ein segen.
wäre ja nicht auszudenken was in so jemanden vorgehen würde, wenn er obwohl er nicht mehr selbstständig essen kann, noch etwas mitbekäme.
 
K

kaffeehausintellektuelle

Gast
zum thema alzheimer empfehle ich "small world" von martin suter. ein hinreißendes buch. gefühlvoll, witzig und wunderbar geschrieben.

die k.
 
K

Klopfstock

Gast
Lieber Ohrenschützer,
zuerst möchte ich sagen, daß Du Dein Gedicht handwerklich
einwandfrei geschrieben hast und dafür ALLE ACHTUNG.
Was ich zu bemängeln hätte ist das Gereimte. Irgendwie
verharmlost der Reim als solches diese Thematik.
Es wirkt alles so leicht, viel zu leicht für die Sache.
Mir fehlt hier die Schwere, denn es ist eine Tragik
an Alzheimer zu erkranken (welche ernsthafte Krankheit ist
keine Tragik?)
Na, ja, das ist auch das Einzige, das ich hier "zu Bemängeln" hätte. Also, nichts für ungut :)))

Wünsche Dir eine schöne Woche
und ganz liebe Grüße
 

Ohrenschützer

Mitglied
@Gonzo: Mhm. Vergessen und Nicht-Wahrnehmung grenzt an vorzeitige Erlösung.

@khi: Suter kennend, schließe ich mich Deiner Empfehlung an.

@Klopfstock: Danke für die ehrliche und interessante Kritik, und natürlich auch fürs Lob. Wenn ich dich richtig verstehe, erweckt der Reim bei dir einen verniedlichenden Eindruck. Von diesem Gefühl ausgehend (das ich jedoch so nicht nachempfinden kann) ist dein Einwand an sich berechtigt, allerdings handelt es sich um mehr als eine Darstellung von extremen Altersverfall. Mitten im Leid findet sich eine poetische Situation, wo sich ein malträtierter, kaum lebensfähiger Mensch zu einer leichtlebigen, oberflächlich sinnlos scheinenden Handlung hinreißen lässt: Er winkt sich selbst freundlich im Wandspiegel zu. Mich berührt das enorm, und zwar auf sehr zarte, poetische Weise, vielleicht gerade deshalb, weil der Kontrast zur brutalen Realität so stark ist. Auch dir eine schöne Woche

und schönen Gruß an Euch alle drei,
 
K

Klopfstock

Gast
Hallo, Ohrenschützer,
so habe ich das nicht betrachtet und Du hast mich voll
überzeugt. Weißt Du, auf jeden wirkt Geschriebenes anders
und man läßt sich einfach vom ersten Lesen leiten.
Jetzt nach Deiner Erklärung - und Du weißt ja über den
Verlauf der Dinge besser Bescheid, als Familien-Betroffener-
jetzt habe ich das Gedicht nochmals gelesen und sehe es
unter dem Eindruck Deiner Erklärung auch anders.
Somit bedanke ich mich dafür, daß Du mich etwas schlauer
gemacht hast :))) und wünsche Dir noch einen heiteren Tag
und eine gute Woche!!!

Liebe Grüße
 



 
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