Meine Tochter

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vicell

Mitglied
Aus dem Hof dringt Lärm zu mir hoch. Ich schiebe die Gardinen etwas zur Seite und blicke auf meine kleine Tochter, die mal wieder ihren Unmut an ihren Spielkameraden auslässt. Breitbeinig steht sie da, ihre kleinen Hände zu Fäusten geballt, und schimpft auf sie ein. Irgendetwas scheint ihr wohl nicht zu passen.
Ein kleiner Junge nähert sich der Gruppe und gesellt sich schüchtern zu den etwas Größeren.
Meine Tochter beachtet ihn nicht, sondern schmeisst nun, vollends wütend geworden, ihren kleinen Plastikeimer in die Ecke des Sandkastens und marschiert davon.

Schließlich verschwindet sie aus meinem Blickfeld und ich trete behutsam vom Fenster weg. Ich will nicht, dass sie sich von mir beobachtet fühlt.
Müde lasse ich mich in meinen Sessel sinken und denke an mein kleine Tochter. So energiegeladen, so vital. Und so schwermütig manchmal.
Sie denkt viel nach, mein Tochter.

Neulich lauschte sie stundenlang einem blinden Geiger an der Strassenecke, der ihr wundersame Lieder spielte, bis schließlich ihre Augen brannten und sie hilflose Tränen weinte. Alles, was sie in Tasche dabei hatte, legte sie in den samtgefütterten Geigenkasten und der alte blinde Mann strich ihr kurz übers Haar.
„Passen Sie gut auf sie auf ... Sie ist etwas Besonderes, ihre Tochter ...“ , rief er mir mit heiserer Stimme hinterher.
O ja, das weiß ich nur zu gut.
Anders ist sie, so anders als ihre Brüder.
Und ihrer eigenen Mutter.

Ihre Haare fallen wirr ins Gesicht, die klugen hellblauen Augen werden ständig von einer widerspenstigen dunklen Haarlocke verdeckt. Ich habe Mühe, ihre Haare zu bändigen und noch größere Probleme, meine Tochter beim Haarekämmen zum Stillsitzen anzuhalten ... es hat meistens keinen Sinn.
Sie strampelt dann mit ihren Füßen und trifft mich dabei oft in den Bauch. Natürlich nicht grob, aber es schmerzt mich schon. Ich beiße meine Zähne zusammen und drücke sie dann fest an mich. Ungern läßt sie sich meine Umarmung gefallen, widerstrebend erduldet sie meine Berührungen und strebt dann wieder von mir los.

Es ist gut so.
Ich will sie nicht zwingen. Zu gar nichts.
Meine Tochter.
Meine Sanya.

Ich sehe ihre wunderschönen blauschwarzen Locken vor mir, ihre ernsten blauen Augen, die hohen Wangenknochen, die ihrem Aussehen etwas Tartarisches verleihen ... sie ist auf ihre Weise etwas ganz Besonderes.

Manchmal weine ich, wenn ich an Sanyas Zeugung denke.
Es war eine blauschwarze Nacht, als fremde Soldaten in mein Haus eindrangen, mich anbrüllten und ich etwas Hartes in mich hineindringen spürte ...

An manchen Tagen möchte ich glauben, dass ihre klugen Augen die blaue Schwärze aus meiner Erinnerung vertrieben habe.

Doch wenn ich mich allein weiss, dann spüre ich den Soldaten wieder in mir und hilflose Schreie dringen aus meinem Mund.

Oft, wenn die Nacht ins blauschwarze Nichts versinken zu droht, möchte ich mich am liebsten zu meiner Tochter ins Bett legen und ihr von ihrem Vater erzählen.
Wenn ich nur seinen Namen wüsste ...

Gemeinsam würde wir uns dann in der ruhigen Melodie der Nacht wiegen und gemeinsam der schwermütigen Stimme unseres Herzens lauschen.
Ganz still, ruhig und weich wäre sie dann in meinen Armen und um nichts in der Welt würde ich meine Sanya hergeben.

Unschuldig liegt sie nun heute nacht in meinen Armen und schaut mich unverwandt an, als ich ihr mit leiser Stimme das Märchen der Zwiebelprinzessin erzähle, von Kobolden, Hexen und Zauberern berichte.
Ganz groß und fragend werden ihre Augen.
Schließlich schläft sie müde ein.

Ich betrachte ihre unschuldigen Lider, die sich leise im Schlaf bewegen.
Was sie wohl träumt?

Vielleicht träumt sie ja von ihrem Vater, ihrem Helden, dem sie nie begegnen wird ... ich werde ihr keine Heldengeschichten erzählen.

Ich werde es zu verhindern wissen.

Dieser tröstenden Gedanke begleitet mich in die Nacht und endlich kann ich schlafen.
Ohne Träume.
Ohne die blaue Schwärze in mir, die sich in ein wohltuendes Nichts auflöst ...
 
K

Kasoma

Gast
Liebe vicell,

Diese Geschichte ist der Hammer. Ich habe sie mit 10 Punkten bewertet, nicht weil ich glaube, dass sie handwerklich so toll gemacht ist, sondern weil sie mich mitten ins Herz trifft!
Die Liebe, die diese Frau für ihre Tochter empfindet, trotz aller Umstände...
Du kannst ganz große Gefühle in Deinem Leser wecken, das ist grandios!!!

Alles Liebe wünscht Kasoma
 

knychen

Mitglied
eine sehr traurige geschichte, betroffenheit weckend.
aber was würde die protagonistin über den "vater" erzählen? welche rolle spielt in diesem speziellen fall der name? diesen einen absatz finde ich etwas mißglückt. ansonsten klasse. gruß knychen
 

vicell

Mitglied
Ihr Lieben,

ich danke euch beiden für euren Kommentar.
@Kasoma: 10 Punkte? Wow. Musste ich erstmal verarbeiten.Ich bedanke mich erzlich dafür!!!
Handwerklich ist es übrigens eher in Kurzprosaform angelegt, keine klassische KG meiner Meinung nach...wie du schon sagtest, mein Schwerpunkt hier liegt in der Ambivalenz der eigentlich unerträglichen Situation, mit der ja so viele Frauen konfrontiert sind, dem Schmerz einer Vergewaltigung und der verzweifelten Liebe zum unschuldigen gezeugten Kind.
..meine Protagonistin macht hier einen schmerzvollen Prozess durch, sie ist hin und hergerissen und dennoch liebt sie ihr Kind, ihr eigenes Fleisch und BLut, über alles.
Ich persönlich bezeichne diese Einstellung als wahren Mut zum Leben.
Ich freue mich natürlich sehr, dass meine Intentionen angekommen sind!

@Knychen: Dies waren meine Ambitionen in dieser etwas herben und spröden Geschichte, in der ich nicht beschönigen, aber auch nichts verschweigen wollte. Ich wollte hier nur erzählen. Ich habe deine Anmerkung beherzigt und die Geschichte etwas abgerundet. Welchen Absatz meintest du jetzt genau?



Lieben Nachtgruß,
vic
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hey,

du kannst wohl nicht anders, was? wieder so eine supergeschichte! auch von mir ne 10.
ganz lieb grüßt
 
K

Kasoma

Gast
Hallo vicell,

Ich will ja nicht nörgeln, nur, was hast Du gemacht, abgerundet? Die erste Version war am Ende irgendwie besser: kühler, sachlicher...? Leider weiß ich nicht genau, was Du verändert hast, würde gern beide Versionen vergleichen, aber das geht ja nicht?!

Lieber Gruß von Kasoma
 
H

Harald

Gast
Hallo Vic!

Deine Geschichte ist sehr berührend. Für mich hebt sich besonders die Szene mit dem Straßenmusikanten ab:
„Neulich lauschte sie stundenlang einem blinden Geiger an der Strassenecke, der ihr wundersame Lieder spielte, bis schließlich ihre Augen brannten und sie hilflose Tränen weinte. Alles, was sie in Tasche dabei hatte, legte sie in den samtüberzogenenen Geigenkasten und der alte blinde Mann strich ihr kurz übers Haar.“

(War der Geigenkasten nicht mit Samt ausgelegt?) Aber das ist völlig sekundär.

Die Faszination des Kindes und seine hilflosen Tränen im Erleben der Musik spiegeln sich in der besonderen Zuneigung der Mutter zu diesem unerwarteten, ungewünschten Kind und die Aufklärung des Lesers hinsichtlich der Zeugungsdetails wirkt zwar erschreckend, kann den Grundton der Liebe zwischen den beiden aber in keinem Moment in Frage stellen. Sie ist von Beginn weg spürbar und hält die Spannung klingend wie die Sexte im Themenbeginn des Dvorák-Konzerts.

Wirklich lesenswert!
Harald
 



 
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