Menschenkenntnisse

Lange Zeit war ich mir sicher, den Charakter meines Gegenübers anhand dessen bloßer Erscheinung zu kennen. Ein Blick ins Gesicht und schon wusste ich, wie es in seiner Wohnung aussieht, was für ein Auto er fährt, wie seine Kinder heißen und was für Musik in seinem Regal steht. Alles glasklar, Zweifel nicht drinne!

Letztens entdeckte ich, dass die moderne Technik mir eine Verifikationsmöglichkeit meiner Spontanpsychogramme bereit stellt - und zwar in der CD-Abteilung des Saturn-Elektromarktes. Hier kann man vor dem Kauf die Ware unter eine Lesevorrichtung halten und aus dem dazugehörigen Kopfhörer werden alle Nummern der CD als 30-Sekunden-Schnipsel vorgespielt. Ist man informiert über den Inhalt, verlässt man den Apparat Richtung Kasse bzw. Ausgang. Der Apparat aber, unwissend, dass man gar nicht mehr zuhört, spielt unbeirrt seine Hörproben weiter. Jetzt ist meine Stunde! Verlässt mein Studienobjekt die Testhör-Einrichtung schnappe ich mir den Kopfhörer und höre nach, ob ich mit meiner Musikgeschmackseinschätzung richtig lag und somit auch mit dem Rest (Wohnung, Kinder, Frisur des Partners, etc.).

Seit ich dieses Verfahren praktiziere hat sich mein Weltbild gedreht. In keinem der Fälle lag ich richtig. Bei Schminke-Tussis, die ich hundert Pro bei Bon Jovi oder Celine Dion eingeordnet hatte, liefen die Ärzte. Bei einem Punk war es Brahms und bei einem Mittvierziger in C&A-Kinderschänderhosen liefen die Smiths! Versteht ihr? The Smiths! Die Heiligen meiner Jugend! Die Quintessenz der Achtziger! Engelsmusik!

Vielleicht doch gut, dass ich kein Psychologe geworden bin!
 



 
Oben Unten