Michas neue Socken

EllenH

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Michas Socken können sprechen

Das ist Micha. Eigentlich heißt er Michael, aber so nennen ihn seine Eltern oder seine Großeltern nur, wenn er was ausgefressen hat. Micha hat sechs Tage vor Weihnachten Geburtstag. Dieses Jahr ist er sieben geworden. Er ist Abwehrspieler in der D-Jugend, klettert schneller auf Bäume, als sein Freund Basti gucken kann, sammelt die 3D-Harry-Potter-Karten in seinen Cornflakes-Packungen und kaut am liebsten grünes Kaugummi, das nach Apfel riecht.
Micha lebt in einem großen alten Haus, zusammen mit Mama und Papa, seinem kleinen Bruder Tommy, seiner großen Schwester Mareike, dem Baby Lukas und Oma und Opa.
Eigentlich ist Micha ein ganz normaler kleiner Junge, der in einer ganz normalen großen Familie lebt. Wenn, ja wenn, da nicht die Sache mit den Socken wäre ...
Und das kam so: Zu seinem Geburtstag bekam er von Oma ein Paar supertolle Socken geschenkt. Dunkelblau waren die, schön warm, und mit schwarz-weißen Fußbällen drauf, außerdem auf jeder Socke ein Tor. Micha packte sie aus und vergaß auf der Stelle all die anderen Geschenke: den ferngesteuerten Jeep, das Buch über Michel aus Lönneberga und sogar die Eishockey-Schlittschuhe, die er sich so sehr gewünscht hatte.
Er zog die neuen Socken an und verkündete, er würde sie nie mehr auszuziehen. An diesem Tag fand seine Familie das lustig. Ideen hat er, unser Micha!, sagten sie alle. Und Mama vergaß sogar, dass neue Anziehsachen für die Kinder immer erst einmal in die Waschmaschine müssen, bevor man sie anziehen darf. Das fand Micha sehr nett von ihr.

Am nächsten Tag zog er die Socken in der Schule an. Auch da sagte Mama nichts. Bestimmt wollte sie ihm die Freude nicht verderben. Außerdem war es der letzte Schultag vor den Weihnachtsferien, und es herrschte eine Menge Aufregung. Da fiel es überhaupt nicht auf, wenn ein Kind keine frische n Socken anhatte.

Auch am ersten Ferientag trug Micha voller Freude seine neuen Socken. Er hatte sie am Abend vorher gar nicht erst ausgezogen, aber das hatte Mama nicht gemerkt. Die war mit Plätzchenbacken und mit dem Baby beschäftigt und richtig froh, dass die Großen sich allein wuschen, die Zähne putzten und ins Bett gingen. Sie kam erst, als sie schon im Bett lagen, zum Geschichte vorlesen und gute Nacht sagen. Micha versteckte seine Füße mit den Fußballsocken ganz tief unter der Bettdecke.

Als er am nächsten Morgen zum Frühstück nach unten kam, sagte Mama, heute müssen wir waschen, Micha, bring mal gleich deine schmutzige Wäsche in den Keller. Dass die neuen Socken nicht dabei waren, fiel ihr gar nicht auf. Mama war im Weihnachtsstress, wie jedes Jahr.

Micha trug jetzt schon den vierten Tag seine neuen Socken und fand sie immer noch total cool. Er lag ausgestreckt auf Omas kuscheligem Wohnzimmerteppich und spielte Autorennen mit Tommy. In Michas Auto saß Schumi, der unbedingt dieses Rennen gewinnen musste, sonst war es vorbei mit dem Weltmeistertitel. Die letzte Minute des Rennens brach gerade an.
„Wo sind denn deine Hausschuhe, Micha? Hast du die wieder irgendwo ausgezogen und liegen lassen?“
Das war Oma. Micha gab keine Antwort. Schumi stand 26 Sekunden vor dem entscheidenden Sieg.
„Micha, hörst du nicht, wo sind deine Hausschuhe?“
Erwachsene! Die hatten Sorgen! Micha schob schnell den roten Ferrari über die Ziellinie. Tommy zog einen Flunsch und begann zu weinen.
„Nie darf ich mal gewinnen“, jammerte er. „Immer nur du.“
„Michael!“ Oma war aus ihrem Sessel aufgestanden und näherte sich der Rennstrecke.
„Ja, ja, ist ja schon gut!“
Micha sprang auf, sauste hinters Sofa, tauchte mit den Hausschuhen wieder auf und zog sie so schnell über die Füße, wie Schumi gerade ins Ziel gefahren war.
Oma sah ihn kopfschüttelnd an.
„Junge, du machst dir nur wieder die Socken kaputt!“
Sie wollte sich gerade abwenden, als sie die schwarz-weißen Fußbälle erblickte, die über den Rand der Hausschuhe hinausragten.
„Das sind wirklich schöne Socken, die ich dir geschenkt habe, nicht?“, sagte sie sehr zufrieden mit sich.
Tommy jammerte immer noch, weil er das Rennen verloren hatte und jetzt kein Weltmeister sein durfte. Vize-Weltmeister
wollte er nicht sein. Das Wort war ihm viel zu schwer, und doof
war es auch. Micha überlegte, womit er ihn trösten könnte. Oma mochte nämlich Streitereien nicht gut leiden, so was regte sie immer ziemlich auf. Opa nicht, der stellte dann einfach sein Hörgerät aus, so wie jetzt, und las weiter Zeitung.
Während Micha noch nachdachte, sah Tommy auf die
Fußballsocken.
„Darf ich die auch mal anziehen? Oooch bitte, Micha!“
Oma sah schon wieder von ihrem Strickzeug auf. Das konnte ja nicht gut gehen!
„Sag mal, Micha, hat Mama die Socken überhaupt schon gewaschen?“
„Klar, vorgestern“, antwortete Micha ohne zu zögern und zog seinen kleinen Bruder in Richtung Tür.
„Die nicht“, sagte er zu Tommy, „aber meine anderen, die mit den kleinen Teddybären drauf, darfst du haben, o.k.? Komm, wir holen sie!“
Zu spät. Oma stand schon wieder auf.
„Michael, vorgestern war Sonntag, da wäscht Mama nicht.“
Micha schob Tommy zur Tür raus und beeilte sich, hinterherzukommen.
„Dann eben vor-vor-gestern“, rief er Oma über die Schulter zu und flitzte die Treppe hinauf in sein Zimmer. Jetzt hatte er erst mal einen Vorsprung. Schnell holte er die Teddybärsocken aus der Schublade, drückte sie Tommy in die Hand, legte mit Verschwörermiene einen Finger auf die Lippen und zog sich ein paar einfarbige blaue Socken über die Fußballsocken.
Schon hörten sie Oma unten an der Treppe rufen.
„Miiichael, wenn Mama die Socken vorvorgestern gewaschen
hat, müssen sie aber heute Abend wieder in die Wäsche.
Socken trägt man immer nur einen Tag, hast du gehööört?“
„Klar, Oma!“ flötete Micha von oben, „ich zieh sie sofort aus und bring’ sie in den Wäschekorb!“
Oma war’s endlich zufrieden und verschwand wieder in ihrer Wohnung. Seufzend ließ Micha sich auf sein Bett fallen. Tommy
sah ihn an und sagte vorwurfsvoll „Wir dürfen doch nicht lügen!“
„Natürlich nicht“, antwortete Micha schnell, „das war auch nur
eine Notlüge, weißt du!“
Sein kleiner Bruder legte die Stirn in Falten.
„Was ist eine Notlüge?“
„Ja, also, das ist so,“ sagte Micha. „Wenn man nicht will, dass einem was Schlimmes passiert, wenn man die Wahrheit sagt, dann sagt man eben nicht ganz die Wahrheit. Nur einen Teil davon, verstehst du. Das ist nicht wirklich gelogen, das ist eine Notlüge.“
Tommy machte große Augen.
„Aber du hast doch gar nicht die Wahrheit gesagt, nicht mal einen Teil. Du hast die Fußballsocken doch noch an!“
Micha wurde ärgerlich. Kleine Brüder konnten einen wirklich nerven!
„Also, wenn du mich bei Oma verpetzt, dann darfst du nie wieder meine Teddybärsocken anziehen!“ sagte er drohend.
„Ist ja schon gut, nun sei doch nicht gleich sauer. Dann war das eben keine echte Notlüge, sondern eine falsche.“
Für Tommy schien die Sache erledigt. Micha atmete auf.
„Spielen wir noch mal Autorennen?“
„Ja, aber nicht mehr bei Oma, sondern hier oben“, grinste Micha mit einem Blick auf seine Füße.

Als Micha den sechsten Tag die neuen Socken trug, war endlich Heiligabend. Am Nachmittag kam Mama mit frischen Sachen in sein Zimmer: Unterwäsche, Socken, Hose, lange Unterhose, warmer Pullover. Schließlich war es kalt draußen. Dass es im Haus eine Heizung gab, vergaß Mama immer.
„Zieh dich um, Schatz, dann kannst du mit Mareike und Tommy zu Oma fernsehen gehen, bis die Bescherung beginnt.“
In der Tür drehte sie sich noch einmal um.
„Was riecht denn hier so? Ich glaube, du musst mal lüften.“
Zehn Minuten später saß Micha mit Oma, Opa, Mareike und Tommy bei Oma vor dem Fernseher und guckte „Wir warten aufs Christkind“.
Oma sah sich im Zimmer um.
„Was riecht denn hier so?“
„Bestimmt Tommy!“ sagte Micha.
„Du Blödmann“, schimpfte Tommy. „Ich hab mich gewaschen, sogar die Ohren.“
„Ja, aber nur, weil Weihnachten ist“, sagte Mareike und guckte böse. Kleine Brüder sind eine Plage, wenn man schon 11 ist.
„Hast du denn saubere Sachen angezogen, Tommy?“ fragte Oma streng.
„Na klar, was denkst du denn!“
Tommy war entrüstet. Sie hielten ihn immer noch für ein Baby, dabei war er schon vier!
„Jetzt seid doch mal still, man versteht ja gar nichts!“ maulte Micha. Oma sah ihn an, sagte aber nichts.
„Ich hab’ auch saubere Sachen angezogen“, sagte Micha, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.
Tommy sah ihn zweifelnd an, aber das störte Micha gar nicht. Schließlich hatte er zum Teil die Wahrheit gesagt, nämlich bei Unterwäsche, Hose und Pullover, nur nicht bei den Socken und der langen Unterhose. Es war also eine echte Notlüge.

Eine halbe Stunde später am Kaffeetisch fragte Papa „Was
riecht denn hier so?“
„Bestimmt das Baby“, sagte Opa.
„Das hab ich gerade erst gewickelt“, sagte Mama.
Oma stand auf, öffnete ein Fenster und schaute ärgerlich in die Runde. Am Ende dachten noch alle, in ihrer Wohnung würde es riechen!
Opa stand auch auf, ging schnell zum Plattenspieler und legte die Platte mit „O du fröhliche!“ auf. Das tat er jedes Jahr, wenn Streit in der Luft lag.
Während der Bescherung rümpfte Mareike die Nase und sagte „Also, ihr könnt sagen, was ihr wollt, aber es stinkt hier!“
Oma freute sich, dass es nicht nur in ihrer Wohnung roch, und Mama guckte böse. Sie hatte alles auf Hochglanz geputzt, und jetzt so was!
Papa holte Gläser und machte schnell eine Sektflasche auf. „Nun vertragt euch doch, Kinder, es ist Weihnachten.“ Das sagte er jedes Jahr, wenn Streit in der Luft lag.

Später am Abend lag Micha müde in seinem Bett, konnte aber nicht einschlafen. Was hörte er da bloß? Vielleicht war Tommy noch wach? Micha stand auf und schlich leise zu Tommy rüber. Nein, der schnarchte leise.
Micha ging zurück in sein Bett. Nach einer Weile hörte er wieder etwas. Vielleicht lief bei Mareike der Fernseher? Er stand auf und öffnete leise die Tür zu ihrem Zimmer. Nein, alles still.
Seufzend legte Micha sich hin und zog sich die Decke über den
Kopf. Da war es wieder! Vielleicht die Erwachsenen unten im Wohnzimmer? Micha tappte die Treppe hinunter und lauschte.
Nein, nichts zu hören.
Er legte sich wieder hin, drehte sich auf die Seite und
beschloss, zu schlafen, Geräusche hin oder her.
Micha!
Was war das?
Da rief jemand seinen Namen. Er hörte es jetzt ganz deutlich.
Mit einem Schlag war er hellwach. Er sprang auf, griff nach der Taschenlampe und leuchtete unter sein Bett. Nichts zu sehen.
Er legte sich wieder hin und wartete.
Micha!
Er schmiss die Bettdecke weg und lugte unters Kopfkissen. Micha!
Er sah ungläubig an sich hinunter.
Micha!
„Ich glaub’, mich laust der Affe!“ brummte Micha. Was da mit ihm sprach, war kein Gespenst. Es war auch keine Hauselfe. Auch kein grünes Glibber-Monster. Es waren ... seine Socken!
Er starrte sie an und wartete.
Micha! sagten sie wieder, und die Fußbälle wippten dabei rauf und runter.
Micha, wir müssen dir was sagen!
Micha starrte mit offenem Mund auf seine Füße.
„Und was?“ brachte er krächzend heraus.
„Wir wollen in die Waschmaschine! Bitte bring uns in die Waschmaschine! Wir wollen nicht riechen!“
Micha traute seinen Ohren nicht.
„Ihr wollt nicht riechen?“
„Nein, wir wollen frisch und sauber sein.“

Als Mama mitten in der Nacht aufwachte, weil sie eine Tür quietschen gehört hatte, schickte sie Papa in den Keller, zum
Nachsehen. Papa bemerkte Licht unter der Tür zur Waschküche, öffnete sie vorsichtig und staunte nicht schlecht: Da hockte Micha, barfuss, seine Fußballsocken in der Hand, und studierte die Tafel mit den Waschanleitungen.
„Was hast du vor, Sohnemann?“ fragte Papa schlaftrunken und fuhr sich durch die Haare.
„Meine Socken waschen“, sagte Micha, „kannst du mir sagen, bei wie viel Grad?“

Fünf Minuten später saßen Papa, Micha und Mama auf dem großen Bett im Schlafzimmer und unterhielten sich im Flüsterton, um das Baby nicht zu stören.
„Und deine Socken haben wirklich gesagt, sie wollen in die Waschmaschine?“ fragte Mama.
„Ja“, sagte Micha traurig, „und was mache ich jetzt, ohne meine schönen neuen Socken?“
„Ich weiß was“, sagte Mama und lächelte. „Mach mal die unterste Schublade vom Kleiderschrank auf.“
Micha kam mit fünf Paar Fußballsocken, die genauso aussahen wie die in der Waschmaschine, zum Bett zurück.
„Wie bist du denn auf die Idee gekommen, Mama?“ fragte er mit großen Augen.
Mama zwinkerte Papa zu.
„Ich verrate dir ein Geheimnis, mein Schatz“, sagte sie zu Micha. Dann nahm sie ihn ganz fest in die Arme und flüsterte ihm ins Ohr „Mit mir haben sie heute Morgen auch gesprochen. Da habe ich Papa losgeschickt, noch ein paar kaufen.“
In dieser Nacht schlief Micha selig zwischen Mama und Papa, mit einem neuen Paar Socken an den Füßen und vier Paar neuen Socken in der Hand.
 



 
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