Mick II: Der Tod des Poeten

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Echoloch

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Mick ist tot. Der letzte Dichter ist von uns gegangen. „Er war ein Idiot“, würde er selbst vermutlich sagen, „sich dieses Zeug reinzujagen. Er war einer von den Guten, aber er war ein Idiot.“ Und dann würde er sich ein Guinness bestellen und einen Song singen, sein eigenes Totenlied. Und wie immer hätte er Recht gehabt, denn er war ein Idiot, sicherlich; niemand, der bei klarem Verstand ist, behandelt sich selbst so schlecht, quält sich dermaßen in verzweifelter Besessenheit. Aber darum geht es nicht. Denn er war auch mein Leuchtfeuer, meine größte Inspiration, mein einziger Freund in schweren Zeiten, der sich über diese Art von Pathos lustig gemacht hätte. Nur einmal, als wir zu traurig waren, um einander noch vertrauen zu können, hat er mir seine Lieder gewidmet, eine für sein Verständnis sehr plakative Form von Gefühlsausdruck. Ich habe es trotzdem nicht ganz verstanden, nicht damals, als ich mich daran klammerte zu vereinen, was nicht mehr zu vereinen war. Ich kann nicht einmal ausschließen, dass er mich von sich stieß, um mich zu retten. Das war seine Art zu lieben. Und so habe ich erst Jahre später verstanden, dass die Worte, die er mir von der Bühne aus zusang, darüber, dass das Leben manchmal weh tut, darüber, dass ich meinen Weg finden werde, auch wenn er mich nicht begleiten kann, und darüber, was für ein trauriges Gefühl die Liebe manchmal ist, dass diese Worte sein Abschiedkuss waren, der Kuss, mit dem er mich ins Leben entließ.
Mick war ein wirklich schwieriger Mensch, das ist wohl so bei den wahren Dichtern. Er war für mich da, als ich ihn brauchte, als ich jemanden brauchte; denn wir kannten uns kaum zu jener Zeit. Wie selbstverständlich nahm er mich auf, brachte mich zum Lachen, machte mir Mut. Erst viel später, als ich wieder sicher stand, hat er mich verbannt und uns aufgegeben. Jedes Wort, das ich sagte, war falsch; alles, was ich versuchte, machte ihn noch wütender. Seine Wut war grenzenlos, Wut auf ein Leben voller Gewalt, Wut auf Menschen, die nicht liebten. Um selbst zu lieben, war er zu verletzt. Aber das ging nicht nur ihm so. Eigentlich war es ganz einfach, hätte es nicht schwer sein müssen, ihn zu verstehen, wenn ich seinen einzigen Anspruch erkannt hätte: das eigene Leben zu leben. Er konnte es nicht ertragen, dass ich mich ihm unterwarf, ein klarer Betrug in seinen Augen, und so riss ich die Wunde ein, jedes Mal wieder ein kleines Stück, wenn ich versuchte, uns zu heilen. Heute kann ich ihn verstehen, heute bin ich fünf Jahre älter. Nächste Woche bin ich auf den Tag genau so alt, wie er war, als ich ihn das letzte Mal sah. Aber das nur am Rande.
Nun bin ich also wieder in Praia da Rocha, dem portugiesischen Paradies, in dem die Nacht nach Kampf riecht. Ich gehe die Wege, die ich mit ihm gegangen bin, und empfinde es als ungerecht, dass ich noch hier bin und er nicht. Ich laufe die Treppen hinunter, auf denen er einmal erschrocken stehen blieb und mich dann umarmte, als er erfuhr, dass ich nicht sterben würde. Nicht jetzt. Nicht ich. Ich darf noch hoffen aufzuwachen am nächsten Morgen und mich am Schlaf erfreuen. Ich darf mich noch über dumme Menschen empören. Ich darf noch die Luft dieses Ortes einatmen, der uns einst zusammenführte.
Und ich liebe das Meer, und ich liebe den Strand, und ich liebe die Felsformationen. Und vermutlich liebe ich sogar die Nacht, auch wenn sie Verderben bedeutet. Fast alle sind noch da, die mir wichtig waren, es ist ihnen gelungen, den Untergang zu vermeiden, sich eine Nische zu schaffen in der Tollwut, die diesen Ort im Sommer überfällt. Nur der Eine hat es nicht geschafft.
Brian sagt, dass Mick noch lebt. Dass er ihn spüren kann und dass das alles nur dumme Gerüchte sind. Brian ist auch Musiker und nicht gerade der intuitivste Mensch, der mir jemals begegnet ist. Ich muss beinahe lachen, als er mir erzählt, dass er weiß, dass Mick noch lebt, dass er noch singt in irgend einem Club in Dublin. Das ist Brians Art, die Dinge nicht an sich heranzulassen, es hat sich nicht viel geändert hier.
Trotzdem gelingt es ihm, eine heimliche Hoffnung in mir zu säen, die Hoffnung, dass doch nur alles ein albtraumhafter Spuk ist und dass nachher, wenn ich durch die Straßen ziehe, plötzlich Mick vor mir auftaucht, mich anlacht mit seinen funkelnden Augen und mir eine Zigarette gibt, die wir dann gemeinsam rauchen, ohne viele Worte.
Dann wieder denke ich, dass sein Tod auch eine Chance bedeutet, die Chance für seine Seele, in einen neuen Körper, ein neues Leben zu gelangen, in dem sie von Anfang an die Liebe erhält, die ihr zusteht. Und ich mag die Idee, dass ein neuer Mick heranwächst, einer, der sich entfalten darf und mit all seinen wunderbaren Qualitäten die Menschen berührt, ohne selbst daran zu zerbrechen.
Und dann im nächsten Moment möchte ich plötzlich in eine Kirche und eine Kerze für ihn entzünden, ein mir völlig fremdes Bedürfnis, an dem er seinen Spaß gehabt hätte. „Du brauchst keine beschissene Institution, um zu trauern“, hätte er gesagt, in der ihm eigenen Mischung aus Bestimmtheit und amüsiertem Wohlwollen. Aber dieses Mal hätte ich nicht nachgegeben und es für mich gemacht, und das hätte ihm gefallen.

Was bleibt, ist der Wunsch, für ihn dazusein. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass jemand ihn hielt, als er starb. Und immer wieder der Gedanke, dass er vielleicht gar nicht wusste, wie sehr ich ihn liebe, ein armseliges Klischee, schon klar, aber ich kann mich noch nicht davon befreien, schließlich bin nicht ich diejenige ohne Pathos. Und dann ist da noch dieser andere Gedanke, wieder ein Wahrzeichen einer Institution und wieder völlig unerwartet, plötzlich keine leere Floskel mehr, plötzlich der einzig sinnvolle Wunsch, der Wunsch, dass er im Tod findet, was ihm im Leben versagt blieb: Mick ist tot. Der letzte Poet hat uns verlassen. Möge seine Seele in Frieden ruhen.
 
hallo echoloch,

auch die Fortsetzung ist dir sehr gelungen, obwohl
ich sie als privater empfinde als den ersten Teil,
und mich frage, ob mein Urteil eine Gratulation zum
Leiden ist...

Und in einem hast du, glaub ich, unrecht:
Der letzte Poet ist er nicht, es gibt ja noch dich!

Liebe Grüße

black sparrow
 
M

Minouche

Gast
Klasse !

Hallo Echoloch !

Ich möchte mich gern black sparrow anschließen in meiner Meinung.

Du schreibst wirklich sehr eindringlich, sehr gefühlvoll und rutscht dabei keine einzige genüßliche Lesesekunde in Kitsch ab. Das war jedenfalls mein Empfinden.

Ich fand den ersten Teil etwas stärker geschrieben, dieser hier war leiser und, das hat black sparrow schon geschrieben, privater. Klasse !
Danke !

Liebe Grüße
Minouche
 

Echoloch

Mitglied
Hallo Ihr Zwei, ich habe mich an dieser Stelle noch gar nicht für Eure Kommentare zum Tod des Poeten bedankt, was ich hiermit nachholen möchte.
Es freut mich sehr, dass auch dieser Text, der in der Tat und völlig offensichtlich beinahe grenzgängig privat ist, auf Lob stößt.

Viele liebe Grüße von Maja
 



 
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