Miguels Zuhause ist die Nacht

„Nachts schlafe ich nicht. Ich lege mich erst morgens schlafen. In der Nacht fühle mich einfach besser. Nachts auf der Straße zu sein, bedeutet fast ein richtiges Glück.
Wenn ein Kind meines Alters in einem Haus wohnt, in einer Familie, kann es die Nacht nicht kennen lernen: seine Eltern lassen es nachts nicht raus. Es hat alles, was ich nicht habe, aber ich besitze die einzige Sache, die ihm fehlt: die Freiheit, die Nacht zu erleben.

Tagsüber bin ich ein Straßenkind, nachts bin ich ein Kind der Nacht. Ich weiß nicht genau, wie ich das erklären soll, es ist ein großer Unterschied. Augen schauen mich anders an und Münder sprechen anders mit mir. Die Augen und Münder des Tages – sie sind mein größtes Problem.

Am Tag beschimpft man uns Straßenkinder, man droht uns, und was noch schlimmer ist, man hält uns Moralpredigten. Wenn mal jemand vorbeigeht ohne uns zu beachten, danken wir Gott dafür! ‚Verdufte, sobald fremde Augen deine Augen kreuzen' – das ist die Devise. Die Blicke legen sich auf uns wie auf Ratten. Es endet immer damit, dass wir uns selber mit diesen Blicken anschauen. Unsere heruntergekommenen Klamotten, unsere Dreckschicht, unsere Wunden, all das tut
weh im Blick der Augen.

Nachts sind all die feinen Typen freundlich, sie sind voll, sie betrachten uns als richtige Kinder. Wir sammeln ganz schön viel Kohle ein. Sie werfen die Knete, die sie tagsüber pingelig zusammenhalten, nachts mit vollen Händen raus. Und dann gibt es noch die viele Nutten mit ihren hautengen Kleidern. Sie sprechen mit uns, reden uns mit unseren richtigen Namen an; dann geht ein wohliger Schauer durch meinen Körper.

Ich weiß, dass am nächsten Tag alles wieder schwer und kompliziert sein wird. Die Nacht ist die fröhliche Revanche. Mein Zuhause, es ist der umgekehrte Tag. Verdreht wie mein Leben."
 



 
Oben Unten