Milgram-Experiment

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Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Milgram-Experiment

Breite feuchte Elektroden legen sich um meine Hände
und ich sitze auf dem Hocker, mich umgeben weiße Wände.

In das Zimmer treten alte wohlbekannte Professoren,
und es hat ein unbekannter junger Herr sich herverloren.

Und der Leiter des Versuches schiebt die Brille auf die Stirne,
und er sagt: "Sie werden sehen, wie ein Stromstoß im Gehirne

anwirft rege Denkprozesse, wie durch einen Druck des Knopfes
und durch gute Wahl der Spannung steigt die Leistung eines Kopfes."

"Bitte, lernen Sie hier kennen unsre neuesten Versuche,
wie ein Stromschlag hilft beim Lernen dieser Texte aus dem Buche,

das auf diesem Tische lagert, schlagen Sie die zweite Seite
auf, da finden Sie die Fragen, und der Schieber hier der breite

dient zur Regelung der Spannung. Wollen Sie uns unterstützen?
Ja? ... dann kommen sie ganz ruhig her, mein Freund, es möge nützen,

denn Sie sind jetzt hier der Lehrer und Sie stellen hier die Fragen.
Wenn die Antwort falsch ist, bitte drücken Sie den Knopf. Ertragen

wird der Bernd das ganze sicher, freiwillig ist er erschienen
um als Schüler hier zu wirken und der Wissenschaft zu dienen."

2
"Zwanzig Volt ist wirklich wenig, Bernd, so sagen Sie mir bitte,
hier sind Zahlen auf den Würfeln. Welche davon zeigt die Mitte?"

Und ich blicke, doch ich sehe alle Zahlen nur verschwommen,
und ich rate: "Das wird Fünf sein!" -- "Hätten Sie doch drei genommen!"

Und schon drückt er auf den Kopf drauf und ich rucke leicht und zucke,
und er blickt zu seinem Chef auf: "Ist das nicht gefährlich? Gucke,

wie er ruckt und wie er zittert?" -- "Nein, das ist schon ganz okey,
und es tut, wie ich schon sagte, ihm ganz sicher fast nicht weh!"

3
"Sagen Sie, in welchem Lande liegt die Quelle denn vom Nile?"
"Nein, ich weiß nicht, bitte bitte!" -- "Gut, dann führt gewiß zum Ziele,

wenn die Spannung ich erhöhe!" -- Und ich zucke und ich schreie,
und er sagt, das waren fünfzig und jetzt folgen nochmal dreie.

Und er dreht die Spannung weiter und ich rucke und ich zucke
und mir quellen beide Augen raus, wenn ich nach vorne gucke.

"Achzig, hundert, hundertfünfzig - Sage mir, wie backst du Kuchen?"
Und ich wackle mit dem Stuhle: Wird er denn noch mehr versuchen?

Und er schaltet auf vierhundert und ich fall in mich zusammen,
und er sagt: "Begreife endlich! Und jetzt reiße dich zusammen!"

Und da tritt der Professor vor und er spricht: "Es ist zu Ende,
ziemlich weit bist du gegangen, viel zu weit, jetzt kommt die Wende.

Schaue: Bernd trägt keinen Schaden, unter den Versuchspersonen
warst du selber, denn wir wollten wissen, wieviel würden schonen

und wieviele würden töten. Das Ergebnis ist: fast alle
würden Spannungen verwenden, die, wie auch in deinem Falle,

statt zum Wissen nur zum Tode führen würden, keiner wäre
in der Lage, dass man -- wie auch -- ihm bei voller Spannung lehre,

wenn sein Herz schon stille stände!" Und der Professor blickt traurig
durch die tiefgesenkte Runde und die Stimmung rings wirkt schaurig.
 

presque_rien

Mitglied
Hallo Bernd,

Das Milgram-Experiment als Lyrik? Und dann auch noch in so klassischer Form, so gar nicht expressionistisch (was vielleicht naheläge)?

Das ist sehr gewagt, dachte ich.

Das ist äußerst beeindruckend, denke ich. Mir lief's beim Lesen eiskalt den Rücken runter. Und das zweite Mal noch mehr. Insbesondere die Perspektive ist toll gewählt. Dein Gedicht lässt einen nicht mehr so schnell los...

LG,
presque
 

lintschi

Mitglied
lieber bernd,
ich bin voller bewunderung.
ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, dass ich ein bissl herumversucht hab.
kein milgram, hoffe ich ...

liebe grüße
lintschi

ps: das mit verdammen gefällt mir auch nicht besonders, aber vielleicht doch besser als zweimal "zusammen"?
zum ausdruck kommt ja doch auch, was passiert.




Milgram-Experiment

Breite feuchte Elektroden legen sich um meine Hände
und ich sitze auf dem Hocker, mich umgeben weiße Wände.

In das Zimmer treten alte wohlbekannte Professoren,
und auch ein junger Unbekannter hat sich heute her verloren

Und der Leiter des Versuches schiebt die Brille auf die Stirne,
und er sagt: "Sie werden sehen, wie ein Stromstoß im Gehirne

anwirft rege Denkprozesse, wie durch einen Druck des Knopfes
und durch gute Wahl der Spannung steigt die Leistung eines Kopfes."

"Bitte, lernen Sie hier kennen unsre neuesten Versuche,
wie ein Stromschlag hilft beim Lernen dieser Texte aus dem Buche,

das auf diesem Tische lagert, schlagen Sie die zweite Seite
auf, da finden Sie die Fragen, und der Schieber hier der breite

dient zur Regelung der Spannung. Wollen Sie uns unterstützen?
Ja? dann kommen Sie ruhig her, junger Freund, es wird uns nützen

denn Sie sind jetzt hier der Lehrer und Sie stellen hier die Fragen.
Wenn die Antwort falsch ist, drücken Sie den Knopf. Ertragen

wird das Ganze sicher, Bernd, der höchst freiwillig erschienen
um als Schüler zu fungieren und der Wissenschaft zu dienen."

2
"Zwanzig Volt ist wirklich wenig, Bernd, so sagen Sie mir bitte,
hier sind Zahlen auf den Würfeln. Welche davon zeigt die Mitte?"

Und ich blicke, doch ich sehe alle Zahlen nur verschwommen,
und ich rate: "Das wird Fünf sein!" -- "Hätten Sie doch drei genommen!"

Und schon drückt er auf den Knopf drauf und ich rucke leicht und zucke,
und er blickt zu seinem Chef auf: "Ist das nicht gefährlich? Gucke,

wie er ruckt und wie er zittert?" -- "Nein, das ist schon ganz okey,
und es tut, wie ich schon sagte, ihm ganz sicher fast nicht weh!"

3
"Sagen Sie, in welchem Lande liegt die Quelle denn vom Nile?"
"Nein, ich weiß nicht, bitte bitte!" -- "Gut, dann führt gewiß zum Ziele,

wenn die Spannung ich erhöhe!" -- Und ich zucke und ich schreie,
und er sagt, das waren fünfzig und jetzt folgen nochmal dreie.

Und er dreht die Spannung weiter und ich rucke und ich zucke
und mir quellen beide Augen raus, wenn ich nach vorne gucke.

"Achzig, hundert, hundertfünfzig - Sage mir, wie backst du Kuchen?"
Und ich wackle mit dem Stuhle: Wird er denn noch mehr versuchen?

Und er schaltet auf vierhundert und ich falle ins Verdammen
Doch er sagt: "Begreife endlich! Und jetzt reiße dich zusammen!"

Da tritt der Professor vor und er spricht: "Es ist zu Ende,
ziemlich weit bist du gegangen, viel zu weit, jetzt kommt die Wende.

Schau: Der Bernd trägt keinen Schaden. Unter den Versuchspersonen
warst du selber. Der Versuch hieß, wieviel würden and're schonen

und wieviele würden töten. Das Ergebnis ist: fast alle
würden Spannungen verwenden, die, wie auch in deinem Falle,

nur zum Tode führen könnten, statt zum Wissen. In der Lage wäre
keiner, dass mit voller Spannung irgend jemand ihm was lehre

wenn sein Herz schon stille stände!" Der Professor blickte traurig
auf die Köpfe, tiefgesenkt, und die Stimmung rings wirkt schaurig.
 
K

Klopfstock

Gast
Und da tritt vor der Professor und er spricht: "Es ist zu Ende,
ziemlich weit bist du gegangen, viel zu weit, jetzt kommt die Wende.

Schaue: Bernd trägt keinen Schaden, unter den Versuchspersonen
warst du selber - wir woll'n wissen, wieviel davon würden schonen

und wieviele würden töten. Das Ergebnis ist: fast alle
würden Spannungen verwenden, die, wie auch in deinem Falle,

statt zum Wissen nur zum Tode führen würden, keiner wäre
in der Lage, dass man -- wie auch -- ihm bei voller Spannung lehre,

wenn sein Herz schon stille stände!" Der Professor blickt ganz traurig
durch die tiefgesenkte Runde und die Stimmung rings wirkt schaurig.

Hallo, Bernd,
wenn man erst einmal den Rhythmus und die Melodie
gefunden hat (nach mehrmaligem Lesen) gibt es nichts
zu verbessern.
Außer in dem Absatz oben, dort bin ich an einigen
Stellen nicht mehr so ganz in den Rhythmus gekommen.
Blau anstreichen konnte ich es nicht, denn die Zeilen
sind zu lang und der Text fiele auseinander.
Deswegen sage ich, in welchen Zeilen Du das Original
mit meiner Verschlimmbesserung vergleichen könntest.
In der ersten oben, in der vierten und der neunten.

Ansonsten ein hervorragender Text - man muß
schon musikalisch sein, um den Rhythmus durchzuhalten,
aber dann flutscht es;)

Liebe Grüße
Klopfstock
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo, Lintschi und Klopfstock,
danke für die Kommentare.

Es war eines der für mich schwierigsten Gedichte der letzten Zeit. Ich bin mir auch nicht klar, ob es herausgekommen ist, dass der scheinbaren Versuchsperson nichts passierte.

Von dem Experiment soll es eine Verfilmung gegeben ahben mit William Shatner in der Hauptrolle.

Milgram ist ein amerikanischer Wissenschaftler, der durch dieses Experiment berühmt wurde. Er hat es erweitert und verfeinert, weil er wissen wolte, unter welchen Bedingungen ganz normale Menschen so weit gehen würden.

Es zeigte sich: Autorität, eine ehrwürdige Universität, eine "wissenschaftliche" Umgebung, eine gute Verpackung, Anwesenheit der Autorität, Abstand zum Opfer, langsame Eskalation und Beschwichtigung, sowie die Auffassung, "Gutes" zu tun erhöhen die Bereitschaft.

Wenn das Experiment in einem als dubios angesehenen Institut oder unter Leitung junger Studenten oder unter telefonischer Anleitung durchgeführt wurde, gingen wesentlich weniger soweit.

Der eigene Verstand "der stirbt: da kann ich ihm nichts beibringen" - war eben weitgehend ausgeschaltet.

Auf dem originalen Pult standen auch die Wirkungen mit drauf. (Na ja, Lesen musste man schon können.)

---

Viele Grüße von Bernd
 

lintschi

Mitglied
lieber bernd,

ich für meinen teil kannte das milgram-projekt natürlich. und ich habe auch einmal etwas gesehen, ob das ein film war, weiß ich allerdings nicht mehr.
und ich fand es auch toll, wie du das hingekriegt hast.
für mich kam auf jeden fall raus, dass der "andere" die versuchsperson war. und ich glaube nicht nur deshalb, weil ich den versuch kannte.
wie gesagt, es hat mir nur an einigen stellen geholpert, oder ... na ja, als außenstehender kann man da manchmal besser den finger drauf legen, wo einen die worte vom rhythmus oder verstädnis her, stutzig machen.

für mich war es auf jeden fall ein gutes hirn-training. ich habe mich "gern" damit auseinandergesetzt. ich für meinen teil würde wahrscheinlich noch einige zeit daran herumfeilen.
(aber klapphornia ruft ....)

viel liebes dir!
lintschi
 



 
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