Mir schmecken meine Fingernägel

Seitdem ich denken kann, beisse ich Fingernägel. Ich sehe es Ihnen an, was Sie sagen wollen: "Das kann noch nicht lange sein". Ich aber weiss, ich muss so um die zwei Jahre alt gewesen sein. Meine Mutter biss ihre Fingernägel und ich nahm mir daran ein Beispiel. Ein Ödibeisskomplex.

Nägelbeissen will gelernt sein. Es ist gar nicht so einfach und recht zeitraubend, seinen Nägel den Garaus zu machen. Ich erkläre warum. Jungfräuliche Nägel neigen dazu, sich zu widersetzen. Sie fühlen sich ob der Anvancen der Zähne geschmeichelt, fürchten aber verletzt zu werden. Geschickte Zähne wissen die Sorgen zu ersticken. Sie befeuchten die Nägel ausgiebig mit Speichel - und schon wird jeder Nagel weich. Nun gilt es die richtige Stelle am Rand zu finden, anzusetzen - und mit einem leisen *Klack* wird entnagelt.

Die meisten Anfänger beissen zu nah am Nagelbett. Die Folge? Bluttropfen im Bett. Mit der Zunge wischt man selbiges weg und ist schmerzlich berührt. Nicht am ganzen Nagel wird gebissen, sondern langsam an der natürliche Bruchlinie das Bruchstück gefühlvoll mit den Zähnen abgeschält. Ist das erste Mal bestanden, verschwindet die Ungeschicktheit, die Nervosität und die Lust beginnt zu steigen. Stellen an den Fingern werden gefunden, die man nie zuvor gesehen hat.

Nun gibt es die Sanften, die nur kauen. Die immer nur beim Vorspiel bleiben. Die nur andeuten, nie aber den ganzen Biss gehen.
Und dann gibt es die Wilden, die beissen durch, zerfetzen die Haut links und rechts vorm Nagel, oben und unten am Nagelrand. In einem wilden Gemetzel kletzeln sie alles am Finger abstehende mit den Beissern herunter. Die Nerven auf den Fingerkuppen liegen blank in der Luft. Und wenn sie könnten, dann würden sie durch das Fleisch bis auf den Knochen runterbeissen.

Ich gehöre zu den Wilden. Wie ein zu tief eingestellter und auffrisierter Rasenmäher fliegen meine Zähne über meine Finger. Auf der Suche nach frech aufgerichteten Nagelresten und Hautfetzen. Oft muss ich andere Tätigkeiten einstellen, weil ich über meine Nägel herfalle. Wie oft wurde ich angehupt, weil ich meine rechte Hand nicht vom Mund lösen wollte um einen Gang einzulegen - und zwei Grünphasen verpasste.

Als Nägelbeisser bin ich oft verächtlichen Blicken ausgesetzt. Das Erstaunen, den die Langnägel zeigen, wenn man vor ihnen mit deutlich sichtbaren Fingern unterschreibt und plötzlich dieses Poppen der Augen aus den Augenhöhlen vernimmt. Gefolgt von einem vor Wider knirschenden Mund. Demütigungen waren die Folge. "Froschfinger" nannten sie mich und das waren noch die mildeste Bezeichnungen. "Würschtelfinger!" "Saugnapfgrabbler!"

Psychologisch grösseren Schaden richten die wohlgemeinten Bemerkungen von Verwandten an. "So wirst Du aber nie einem Mädchen gefallen". Wenn ein Mädchen nur auf mein Äußeres Wert legt, dann brauche ich diese Tussi doch nicht. Was zählt sind doch die inneren Werte. Nur abgebissene Fingernägel geben diesen rohen, unrasierten Eindruck eines Mannes. Nagelklipper sind was für Weicheier.

Neben dem Psychoterror, dem Fingernagelgourmets ausgeliefert sind, gibt es auch handgreifliche Attacken. Eltern schmieren Kindern ekelhaft schmeckende Giftstoffe auf die Fingernägel. Auf die Finger klopfen wird immer noch als allgemein akzeptierte Zurechtweisung gegen unsere Minderheit. "Jetzt beisst Du schon wieder?" *Patsch*
Dabei sollten sich die Nagelstudiofaschisten gerade an unserer Sanftmütigkeit ein Beispiel nehmen. Wir richten unsere Aggressionen gegen uns selber und nicht gegen wehrlose Bleistifte oder unschuldige Zahnstocher.

Mir schmecken meine Fingernägel. Und was nur Wenige wissen: abgebissene Fingernägel ihre Vorteile. Ich muss mir keine Fingernägel putzen. Ich brauche kein Arsenal an Nagelpflegemitteln. Ich muss nichts feilen, abklipsen und mit Nagelscheren und Zangen an mir herumwerken. Ich widerstehe den Überredungsversuchen der Nagelstudio-Nazis und nutze natürliche Ressourcen. Und sollte ich einmal entführt und gefoltert werden: mir kann man keine Fingernägel ausreissen. Die wahnsinnigen Schmerzen beim Beissen - oder schlimmer - beim Abreissen eines abstehenden Nagels mit den Fingern - haben mich abgehärtet.

Ich geb's zu. Einige ganz wenige Male war ich clean. Ich war ein Langnagel. Plötzlich erreichte ich juckende Stellen an meinen Körper, ohne herumliegende, spitze Gegenstände zweckentfremden zu müssen. Ich konnte Etiketten ablösen, ohne sie mit einer Schere abzuschaben. Und Nasenbohren wurde einfach. Zu einfach. Jedes Nasenbemmerl war mir-nichts-dir-nichts ausgekratzt. Versuchen Sie mal, mit einem Fussball ein Etikett abzuschaben. Zeitraubend. Sisyphus schau oba. Aber mit langen Nägeln? Der Thrill, zu lange zu bohren und dabei erwischt zu werden, verschwand. Ein anspruchsvoller Zeitvertreib wurde zu einer durchorganisierten Serviceleistung.

In diesen cleanen Momenten gab's auch Überraschungen. Meine Finger waren nicht mehr die sanften, kindersicheren Tappser, sie wurden zu rasiermesserscharfen Killermaschinen. Mario mit den Scherenhänden. Mein Gesicht war voll von Schnitten. Meine Finger und Arme übersät mit Blutkrusten.
"Hast Du einen Unfall gehabt?"
"Nein, ich habe mich nur gekratzt."
Ein nervöser Habitus wurde mir eigen. Das Klappern mit den langen Fingernägeln auf glatten Oberflächen. Klappklapp hier, klappklapp da, klappklapp die ganze Zeit. Auch zeigten meine Langnägel Eigenschaften, die Zeit kosteten. Sie verschmutzten. Und weil wir ungeübt sind, verschmutzen sie rascher als bei den Fingernägelabstinenzlern.

Diese Irrungen waren aber nur kurz. Seither bin ich viel selbstbewusster. Ich stehe hocherhobenen Hauptes zu meinen Nagelresten. Ich bin stolz ein Nägelbeisser zu sein. Die Schmerzen härten ab. Die Herausforderungen bereiten einen für die Enttäuschungen des Lebens vor. Und wer ist ohne Fitnessstudio so gelenkig wie wir Nägelbeisser? Weil wir es jahrelang trainiert problemlos schaffen, 20 Minuten Nägel zu beissen - an allen unseren Zehen.
 

Retep

Mitglied
Gekonnt geschrieben und beschrieben! Prima Schluss!
Habe über manche "Weisheiten" herzlich gelacht.

Gruß

Retep
 
H

Heidrun D.

Gast
Köstlich, lieber Marius, mit Attacken in verschiedenste Richtungen ...

Mein Lieblingssatz:

Ich widerstehe den Überredungsversuchen der Nagelstudio-Nazis und nutze natürliche Ressourcen. :D
Ach, und dann der Schluss!

Begeisterte Grüße
Heidrun
 



 
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