Miriams Veränderung

3,00 Stern(e) 1 Stimme

Hale-Bopp

Mitglied
Regenschlieren liefen am Fenster herunter und ließen die Straßenlampen draußen zu fransigen Lichtkugeln zusammenschmelzen. Miriam saß mir gegenüber und zündete eine weitere Zigarette mit ihren langen, weißen Händen an, wobei sie das Rädchen und den Zünder des Feuerzeugs jeweils nur kurz antippte.
„Weißt du, da bin ich einfach ausgeflippt und hab ihr halt eine gescheuert. Klar, dass sie geblutet hat, tut mir auch Leid und so, aber…“ sagte sie und unterbrach sich um an ihrer Zigarette zu ziehen.
Ich wusste nichts zu erwidern und versenkte meine Gabel in die Marzipantorte vor mir. Dass Miriam einem anderen Mädchen die Nase blutig geschlagen hatte schien mir völlig unpassend für sie, aber ich hatte gehofft, sie könnte es mir wenigstens irgendwie erklären. „Ich bin ausgeflippt“ schien schwerlich überzeugend.
Der Kellner brachte mir einen Espresso und ich streute einige Zuckerstücken in das ebenholzfarbene Gebräu. Langsam rührte ich den Löffel im Kreis.
Sie lachte: „Da bist du sprachlos, wie?“
„Ja, schon irgendwie“, antwortete ich ehrlicherweise. „Ich meine, war sie so schlimm?“
„Nervtötend“ gab Miriam antwort und zwirbelte ihre Haare. „Ich bin in letzter Zeit häufig komisch drauf, weißt du? Ständig raste ich wegen irgendetwas aus“.
Das Thema wurde mir unangenehm und so fragte ich nach ihrer neuen Freundin, woraufhin ihre Augen vor Begeisterung glänzend wurden und sie, die Zigarette im Mundwinkel balancierend, von ihren zarten Händen erzählte, ihrer fein geformten Nase und ihrem Humor. Ich freute mich für sie, doch war mir zugleich unwohl. Ihre Sprache wirkte so derb und beim Erzählen verzog sie das Gesicht dauernd zu Grimassen, sodass ich Schwierigkeiten hatte ihr zu folgen. Ich begnügte mich damit, hin und wieder anerkennend zu nicken und mit dem Finger die letzen Krümel von meinem Kuchenteller zu lesen.

Als wir nach draußen gingen, bat ich sie um eine Zigarette, obwohl ich eigentlich Nichtraucher war. Aber Miriam hatte eine solch elegante Art ihr Feuerzeug zu bedienen und sog den Rauch mit einer so genießerischen Miene ein, dass ich es einfach versuchen musste.
Schon nach dem dritten Zug bekam ich Kopfschmerzen; der Rauch, obwohl verführerisch anzusehen, wie er so bläulich schimmernd durch die Luft waberte, schmeckte nach gar nichts und hinterließ ein grauenvolles Gefühl im Mund. Ich roch an meinen Fingern und sie stanken nach Aschenbecher. Missmutig schnippte ich das Ding in eine Pfütze. Miriam hatte meinen kläglichen Versuch beobachtet und lachte jetzt glockenhell und nur für einen kurzen Moment schien es mir, als ginge die alte Miriam neben mir, das süße, schüchterne Mädchen, das gerne Kunstgalerien besuchte, mit mir Äpfel von der Weide neben unserem Haus sammelte und Simon & Garfunkel auf der Gitarre zupfen konnte.
Ich erinnerte mich daran, wie ich das erste Mal bei ihr Zuhause gewesen war und sie mit ihrem kleinen Bruder erlebt hatte. Tobias hatte ihr unbedingt seine Zeichnungen zeigen wollen und es war einfach rührend gewesen, wie sie, ihn auf dem Schoß und die Blätter mit dem wirren Gekrakel vor sich, alle Bilder durchgegangen war und ab- und an „Ooh“ und „Aah“ gerufen hatte, während Tobias freudestrahlend die Bilder erklärte.
„Aber, wer weiß, da ist kein Grund, warum sie das nicht immer noch tun sollte“ sagte ich zu mir selbst, aber mit einem Seitenblick auf ihre schwarz umrandeten Augen und die wirren Haarsträhnen, die ihr halb im Gesicht hingen, konnte ich mich mit diesem Bild einfach nicht anfreunden. So durch den nächtlichen Regen streifend, wirkte sie beinahe geisterhaft.

Wir kamen in ihrer Wohngegend an, einem Gewirr aus gleich erscheinenden Blöcken, mit breiten, von roten Rollläden verhangenen Fenstern. Miriams Wohnung lag neben einem Hinterhof, in denen sich Müllcontainer reihten, aus denen Abfall quoll.
Von innen war ihre Wohnung jedoch erstaunlich hübsch. Sessel aus rotbraunem Leder ruhten vor einer minzefarbenen Tapete und der Kleiderschrank war aus pechschwarzem Holz. Das Licht einer Leuchtreklame floss, durch die Streifen der Rollläden zerhackt, ins Zimmer und teilte Miriams Gesicht in zwei Hälften. Der Rauch ihrer Zigarette schimmerte durch die Lichtbänder und verlor sich in der untergeteilten Dunkelheit. Wir setzten uns auf das Sofa.
„…bin ich einfach ausgeflippt“, murmelte sie leise vor sich hin. „Hä?“, fragte ich.
Sie lächelte: „Das geschieht mir in letzter Zeit öfter“, sagte sie, ihre Aussage aus dem Cafe wiederholend.
Sie schaltete den Fernseher an, zappte durch die Programme und blieb bei einer Dauerwerbesendung stehen. Fragend blickte ich sie aus den Augenwinkeln an, doch sie starrte nur unverwandt auf den Bildschirm.
Die Verkäuferin präsentierte eine Salatschleuder und ließ sich lang und breit über seine spektakulären Eigenschaften aus. Und gerade als ich mich vorsichtig räuspern und vorschlagen wollte, doch vielleicht das Programm zu wechseln, bemerkte ich, dass Miriam völlig abwesend dasaß. Ihre Augen waren leer und glänzten, und ihr Körper wirkte verkrampft und starr. Beunruhigt überlegte ich, ob ich sie antippen sollte.

Da klopfte es an der Tür und Miriam sprang auf. Als sie sie öffnete, trat eine junge Frau in pflaumenblauem Kleid herein. Ihr Gesicht war länglich und die Nase floss in feinem Bogen zu den Lippen. Am Kragen trug sie eine altmodische ovale Brosche, in der ein elfenbeinerner Frauenkopf im Profil abgebildet war.
Sie reichte mir ihre Hand: „Hey, ich bin Theodora. Freut mich, dich endlich kennenzulernen“. Ich nahm ihre Hand und schüttelte sie. Ich war mir nicht sicher, was ich erwartet hatte, aber Theodora wirkte in jeder Hinsicht überraschend.
Wir setzten uns auf das Sofa und Theodora zog aus einer Schublade eine Schachtel hervor und füllte den Inhalt in eine Glasschale, mit der anderen Hand einen Halbkreis durch die Luft ziehend, der andeuten sollte, ich möge mich bedienen. Es waren Marzipanpralinen.
Miriam zündete sich eine Zigarette an und hauchte kleine Wolken über den Tisch.
„Vergiss es, Theodora; er raucht nicht“, warf sie ein, als Theodora mich mit fragend hochgezogener Augenbraue ansah. Sie zuckte mit den Achseln, zündete sich selbst eine Zigarette an und schaltete endlich das Fernsehprogramm aus. Miriam schien enttäuscht und rieb sich nervös mit einer Hand am Bein.
„Wie habt ihr euch noch mal kennengelernt?“ fragte ich.
„Oh, sie erschien bei mir auf der Arbeit. Und als ich ihre Nase gesehen habe, da war alles vorbei. Und diese Brosche erst“, sagte Miriam und tippte auf das Oval unterhalb von Theodoras Hals.
„Wusstest du, dass Marzipan während des Mittelalters zeitweise verboten war, weil es als zu sinnlich und luxuriös galt?“ fragte mich Theodora, während ich bedächtig kaute. Sie zwinkerte mir zu und beschrieb erneut den Halbbogen mit ihrer Hand. Ich nahm mir noch eine Praline.
„Ich mochte ihre Art Zigaretten zu rauchen“, sagte Theodora und imitierte Miriams Antippen von Rad und Zünder.

„Zeig ihm deine Gemälde!“ sagte Miriam mit einem Male. Ich blickte Theodora fragend an.
„Ja, ich male ein bisschen. Nicht besonders gut, aber wir haben mir einen kleinen Raum dafür eingerichtet.“
Miriam erhob sich und ich wollte ihr folgen, da hielt Theodora uns zurück. Sie öffnete erneut die Schublade des Tisches, holte ein silbernes Etui hervor und nahm eine längliche braune Zigarette heraus, die sie mir reichte. „Ich rauche doch nicht“, erwiderte ich. „Das ist keine Zigarette“, gab sie zur Antwort. „Ein Joint?“, fragte ich und nahm die Zigarette. Ich betrachtete sie in meiner Hand und roch daran. Ein strenger, erdiger und in keiner Weise an Cannabis erinnernder Geruch stieg von der Zigarette auf.
„Etwas viel besseres“ lachte Theodora und gab mir Feuer.
Wir gingen aus der Wohnungstür und hielten dann unmittelbar an einer Tür zu unserer rechten. Was ich bislang für eine andere Wohnung gehalten hatte, entpuppte sich nun als einzelner Raum, über und über mit Bildern behangen. In der Mitte ruhte eine Staffelei, welche von durch das Fenster fallendem, Straßenlicht wie aus der Dunkelheit ausgeschnitten wirkte.
Das Bild auf der Staffelei zeigte eine nächtliche Landschaft; um einen See standen mehrere Pappeln. Die Wolken am Himmel formten sich an einigen Stellen zu gesichtsähnlichen Konturen.
„Den See hat sie in Frankreich gesehen“ sagte Miriam und blickte bewundernd auf das Bild und dann zu ihrer Freundin.
Ich blickte umher auf die anderen Bilder. Die meisten zeigten ähnliche Szenen wie das auf der Staffelei; Landschaften auf denen sich Wolken zu Gesichtern formten, oder Felsen zu in den Himmel ragenden Händen. Eine wenige Bilder waren Porträts, darunter ein großes von Miriam. Es zeigte ihr Gesicht über den Großteil des Bildes ausgebreitet, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht. Im Hintergrund war der Nachthimmel zu sehen, eingeschnitten von Streifen von Morgendämmerung. Miriams Gesichtsausdruck erinnerte mich so sehr an das Mädchen das sie früher gewesen war, dass ich schon nachfragen wollte, wann das Bild gemalt worden war. Doch ich verkniff es mir.
Ich hatte die bräunliche Zigarette mittlerweile bis zur Hälfte aufgeraucht, als sich mit einem Kitzeln ein sehr angenehmes Gefühl von Wärme in meinem Körper ausbreitete. Ich wollte Theodora fragen, was das denn nun war, was sie mir da gegeben hatte; ich hatte mich bereits zu ihr umgedreht und meinen Mund geöffnet, da schloss ich ihn wieder. Es schien mit einem Mal einfach nicht wichtig. Kribbelnd stieg die Wärme weiter in mir auf.
An der unteren rechten Ecke von Miriams Porträt fehlte ein Stück der Leinwand und ich bückte mich um meinen Finger in die leere Stelle zu bohren.
„Das Bild ist blöderweise kaputtgegangen“ bemerkte Theodora und hockte sich neben mich. „Ich werde es noch mal malen; also nicht genau dasselbe, aber ein anderes Porträt von Ihr“
Ich blickte nach links und sah einige Bilder, welche mit Tüchern verhangen, gegen die Wand lehnten. „Die sind noch nicht fertig“ bemerkte sie.
Miriam stand halb in der Tür und drehte eine Zigarette über Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand. Sie blickte auf ihr eigenes Porträt, als suche sie nach etwas; einem Makel auf der Haut ihres Ebenbilds möglicherweise. Dann schien mir ihr Blick völlig ins Leere zu starren; wie einen Gegenstand fixierend, der in ihrem Inneren lag.
„Ich bereite schon mal das Essen vor“, sagte sie und hastete aus dem Raum.
Ich erhob mich und blickte ihr nach. Von der plötzlichen Bewegung wurde mir schwindelig und ich überlegte ob ich vielleicht zu viel von dieser seltsamen Zigarette geraucht hatte. Mein ganzer Körper kribbelte und von meinem Bauch stieg stoßweise ein schwebendes Glücksgefühl über meinen Körper, das mich zum Grinsen brachte.
„Was ist denn los mit Miriam?“ fragte ich und drehte mich um: „Ich meine…früher war sie nicht so nervös.“
Theodora schaute mich mit ihren großen klaren Augen an und ein Lächeln saß mit zarten Taubenfüßen auf ihren Lippen: „Sie ist verliebt“ sagte sie. „Sie ist zum ersten Mal richtig verliebt.“
„Sie war auch vorher schon verliebt“ antwortete ich.
„Nein, nicht richtig“ widersprach sie und blickte mich weiter auf diese Art an: „Sie war vorher nie verrückt, diesmal ist sie verrückt. Ich habe ihr den Verstand ausgesaugt wie Gift aus einer Wunde“.
Sie kniete sich erneut vor Miriams Porträt und strich sachte mit einem Finger über die Wange der Gemalten. Das Straßenlicht von draußen strich über die obersten Haare ihres Kopfes und erwirkte den Anschein einer Krone aus Licht.
„Wovon redest du?“ fragte ich irritiert und zerdrückte die Zigarette an einer freien Stelle an der Wand. „Und was war jetzt eigentlich in diesem Ding“?
Theodora blickte einen Moment weiter auf das Porträt, dann wandte sie den Kopf zu mir. Ihre Augen glänzten weiterhin, aber das Lächeln war verschwunden.
„Miriam ist hier drin“ sagte sie ruhig und deutete auf das Bild, „Sie ist ein Traum, verstehst du? Sie kann nicht hier draußen leben. Für sie wäre das Aufwachen der Tod.“
Mir war entsetzlich schwindelig und ich hatte das Gefühl, ich könnte nichts von dem verstehen, was sie sagte verstehen. Langsam setzte ich mich wieder hin.
Draußen fuhr ein Auto vorbei und die Scheinwerfer glitten über das Fenster. Mit einem Mal schien das Zimmer wie in ein Kaleidoskop getaucht; Lichtpunkte tänzelten glitzernd über die dunklen Wände und der Raum schien sich zu drehen, schien Bilder, Gesichter, Landschaften und Lichter um mich herum zu wirbeln, mit nur Theodoras leuchtenden Augenkugeln als festen Mittelpunkt. Dann war das Auto vorbeigefahren.
Mein Herz raste und noch immer kribbelte mein Körper, dennoch raffte ich mich auf und kroch zu den mit Tüchern verhängten Bildern in der Ecke.
„Was machst du da?“ fragte Theodora und zum ersten Mal klang ihre Stimme unsicher.
Ich hob eines der Tücher ab. Das darunterliegende Bild zeigte den Vollmond, der sich im Meer spiegelte.
Ich hob ein zweites Tuch und blickte in mein eigenes Gesicht. Mein Porträt blickte mit einem zuversichtlichen Blick am Betrachter vorbei und auf meinen Lippen hatte sie die Andeutung eines Lächelns gemalt.
Wo mein linkes Auge hätte sein sollen, klaffte jedoch ein Loch in der Tapete. Wie bei Miriam bohrte ich meinen Finger in die Tapete und überlegte fieberhaft. Plötzlich überlief mich ein Schauder und ich rutschte auf den Knien zurück zu der Stelle, wo ich zuvor gesessen hatte.
Theodora saß an der Wand gelehnt, die Beine angewinkelt und von ihren Armen umschlossen, und betrachtete mein Treiben nun mit einer Miene völliger Gleichgültigkeit.
Mit zitternden Fingern klaubte ich den zerdrückten Rest der Zigarette vom Boden auf, riss das Papier ab und entrollte es. Von aschernen Brandspuren umrandet blickte mir mein eigenes angekohltes Auge entgegen, den Blick sehnsüchtig am Betrachter vorbeigeworfen.
 

Hale-Bopp

Mitglied
Regenschlieren liefen am Fenster herunter und ließen die Straßenlampen draußen zu fransigen Lichtkugeln zusammenschmelzen. Miriam saß mir gegenüber und zündete eine weitere Zigarette mit ihren langen, weißen Händen an, wobei sie das Rädchen und den Zünder des Feuerzeugs jeweils nur kurz antippte.
„Weißt du, da bin ich einfach ausgeflippt und hab ihr halt eine gescheuert. Klar, dass sie geblutet hat, tut mir auch Leid und so, aber…“ sagte sie und unterbrach sich um an ihrer Zigarette zu ziehen.
Ich wusste nichts zu erwidern und versenkte meine Gabel in die Marzipantorte vor mir. Dass Miriam einem anderen Mädchen die Nase blutig geschlagen hatte schien mir völlig unpassend für sie, aber ich hatte gehofft, sie könnte es mir wenigstens irgendwie erklären. „Ich bin ausgeflippt“ schien schwerlich überzeugend.
Der Kellner brachte mir einen Espresso und ich streute einige Zuckerstücken in das ebenholzfarbene Gebräu. Langsam rührte ich den Löffel im Kreis.
Sie lachte: „Da bist du sprachlos, wie?“
„Ja, schon irgendwie“, antwortete ich ehrlicherweise. „Ich meine, war sie so schlimm?“
„Nervtötend“ gab Miriam antwort und zwirbelte ihre Haare. „Ich bin in letzter Zeit häufig komisch drauf, weißt du? Ständig raste ich wegen irgendetwas aus“.
Das Thema wurde mir unangenehm und so fragte ich nach ihrer neuen Freundin, woraufhin ihre Augen vor Begeisterung glänzend wurden und sie, die Zigarette im Mundwinkel balancierend, von ihren zarten Händen erzählte, ihrer fein geformten Nase und ihrem Humor. Ich freute mich für sie, doch war mir zugleich unwohl. Ihre Sprache wirkte so derb und beim Erzählen verzog sie das Gesicht dauernd zu Grimassen, sodass ich Schwierigkeiten hatte ihr zu folgen. Ich begnügte mich damit, hin und wieder anerkennend zu nicken und mit dem Finger die letzen Krümel von meinem Kuchenteller zu lesen.

Als wir nach draußen gingen, bat ich sie um eine Zigarette, obwohl ich eigentlich Nichtraucher war. Aber Miriam hatte eine solch elegante Art ihr Feuerzeug zu bedienen und sog den Rauch mit einer so genießerischen Miene ein, dass ich es einfach versuchen musste.
Schon nach dem dritten Zug bekam ich Kopfschmerzen; der Rauch, obwohl verführerisch anzusehen, wie er so bläulich schimmernd durch die Luft waberte, schmeckte nach gar nichts und hinterließ ein grauenvolles Gefühl im Mund. Ich roch an meinen Fingern und sie stanken nach Aschenbecher. Missmutig schnippte ich das Ding in eine Pfütze. Miriam hatte meinen kläglichen Versuch beobachtet und lachte jetzt glockenhell und nur für einen kurzen Moment schien es mir, als ginge die alte Miriam neben mir, das süße, schüchterne Mädchen, das gerne Kunstgalerien besuchte, mit mir Äpfel von der Weide neben unserem Haus sammelte und Simon & Garfunkel auf der Gitarre zupfen konnte.
Ich erinnerte mich daran, wie ich das erste Mal bei ihr Zuhause gewesen war und sie mit ihrem kleinen Bruder erlebt hatte. Tobias hatte ihr unbedingt seine Zeichnungen zeigen wollen und es war einfach rührend gewesen, wie sie, ihn auf dem Schoß und die Blätter mit dem wirren Gekrakel vor sich, alle Bilder durchgegangen war und ab- und an „Ooh“ und „Aah“ gerufen hatte, während Tobias freudestrahlend die Bilder erklärte.
„Aber, wer weiß, da ist kein Grund, warum sie das nicht immer noch tun sollte“ sagte ich zu mir selbst, aber mit einem Seitenblick auf ihre schwarz umrandeten Augen und die wirren Haarsträhnen, die ihr halb im Gesicht hingen, konnte ich mich mit diesem Bild einfach nicht anfreunden. So durch den nächtlichen Regen streifend, wirkte sie beinahe geisterhaft.

Wir kamen in ihrer Wohngegend an, einem Gewirr aus gleich erscheinenden Blöcken, mit breiten, von roten Rollläden verhangenen Fenstern. Miriams Wohnung lag neben einem Hinterhof, in denen sich Müllcontainer reihten, aus denen Abfall quoll.
Von innen war ihre Wohnung jedoch erstaunlich hübsch. Sessel aus rotbraunem Leder ruhten vor einer minzefarbenen Tapete und der Kleiderschrank war aus pechschwarzem Holz. Das Licht einer Leuchtreklame floss, durch die Streifen der Rollläden zerhackt, ins Zimmer und teilte Miriams Gesicht in zwei Hälften. Der Rauch ihrer Zigarette schimmerte durch die Lichtbänder und verlor sich in der untergeteilten Dunkelheit. Wir setzten uns auf das Sofa.
„…bin ich einfach ausgeflippt“, murmelte sie leise vor sich hin. „Hä?“, fragte ich.
Sie lächelte: „Das geschieht mir in letzter Zeit öfter“, sagte sie, ihre Aussage aus dem Cafe wiederholend.
Sie schaltete den Fernseher an, zappte durch die Programme und blieb bei einer Dauerwerbesendung stehen. Fragend blickte ich sie aus den Augenwinkeln an, doch sie starrte nur unverwandt auf den Bildschirm.
Die Verkäuferin präsentierte eine Salatschleuder und ließ sich lang und breit über seine spektakulären Eigenschaften aus. Und gerade als ich mich vorsichtig räuspern und vorschlagen wollte, doch vielleicht das Programm zu wechseln, bemerkte ich, dass Miriam völlig abwesend dasaß. Ihre Augen waren leer und glänzten, und ihr Körper wirkte verkrampft und starr. Beunruhigt überlegte ich, ob ich sie antippen sollte.

Da klopfte es an der Tür und Miriam sprang auf. Als sie sie öffnete, trat eine junge Frau in pflaumenblauem Kleid herein. Ihr Gesicht war länglich und die Nase floss in feinem Bogen zu den Lippen. Am Kragen trug sie eine altmodische ovale Brosche, in der ein elfenbeinerner Frauenkopf im Profil abgebildet war.
Sie reichte mir ihre Hand: „Hey, ich bin Theodora. Freut mich, dich endlich kennenzulernen“. Ich nahm ihre Hand und schüttelte sie. Ich war mir nicht sicher, was ich erwartet hatte, aber Theodora wirkte in jeder Hinsicht überraschend.
Wir setzten uns auf das Sofa und Theodora zog aus einer Schublade eine Schachtel hervor und füllte den Inhalt in eine Glasschale, mit der anderen Hand einen Halbkreis durch die Luft ziehend, der andeuten sollte, ich möge mich bedienen. Es waren Marzipanpralinen.
Miriam zündete sich eine Zigarette an und hauchte kleine Wolken über den Tisch.
„Vergiss es, Theodora; er raucht nicht“, warf sie ein, als Theodora mich mit fragend hochgezogener Augenbraue ansah. Sie zuckte mit den Achseln, zündete sich selbst eine Zigarette an und schaltete endlich das Fernsehprogramm aus. Miriam schien enttäuscht und rieb sich nervös mit einer Hand am Bein.
„Wie habt ihr euch noch mal kennengelernt?“ fragte ich.
„Oh, sie erschien bei mir auf der Arbeit. Und als ich ihre Nase gesehen habe, da war alles vorbei. Und diese Brosche erst“, sagte Miriam und tippte auf das Oval unterhalb von Theodoras Hals.
„Wusstest du, dass Marzipan während des Mittelalters zeitweise verboten war, weil es als zu sinnlich und luxuriös galt?“ fragte mich Theodora, während ich bedächtig kaute. Sie zwinkerte mir zu und beschrieb erneut den Halbbogen mit ihrer Hand. Ich nahm mir noch eine Praline.
„Ich mochte ihre Art Zigaretten zu rauchen“, sagte Theodora und imitierte Miriams Antippen von Rad und Zünder.

„Zeig ihm deine Gemälde!“ sagte Miriam mit einem Male. Ich blickte Theodora fragend an.
„Ja, ich male ein bisschen. Nicht besonders gut, aber wir haben mir einen kleinen Raum dafür eingerichtet.“
Miriam erhob sich und ich wollte ihr folgen, da hielt Theodora uns zurück. Sie öffnete erneut die Schublade des Tisches, holte ein silbernes Etui hervor und nahm eine längliche braune Zigarette heraus, die sie mir reichte. „Ich rauche doch nicht“, erwiderte ich. „Das ist keine Zigarette“, gab sie zur Antwort. „Ein Joint?“, fragte ich und nahm die Zigarette. Ich betrachtete sie in meiner Hand und roch daran. Ein strenger, erdiger und in keiner Weise an Cannabis erinnernder Geruch stieg von der Zigarette auf.
„Etwas viel besseres“ lachte Theodora und gab mir Feuer.
Wir gingen aus der Wohnungstür und hielten dann unmittelbar an einer Tür zu unserer rechten. Was ich bislang für eine andere Wohnung gehalten hatte, entpuppte sich nun als einzelner Raum, über und über mit Bildern behangen. In der Mitte ruhte eine Staffelei, welche von durch das Fenster fallendem, Straßenlicht wie aus der Dunkelheit ausgeschnitten wirkte.
Das Bild auf der Staffelei zeigte eine nächtliche Landschaft; um einen See standen mehrere Pappeln. Die Wolken am Himmel formten sich an einigen Stellen zu gesichtsähnlichen Konturen.
„Den See hat sie in Frankreich gesehen“ sagte Miriam und blickte bewundernd auf das Bild und dann zu ihrer Freundin.
Ich blickte umher auf die anderen Bilder. Die meisten zeigten ähnliche Szenen wie das auf der Staffelei; Landschaften auf denen sich Wolken zu Gesichtern formten, oder Felsen zu in den Himmel ragenden Händen. Eine wenige Bilder waren Porträts, darunter ein großes von Miriam. Es zeigte ihr Gesicht über den Großteil des Bildes ausgebreitet, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht. Im Hintergrund war der Nachthimmel zu sehen, eingeschnitten von Streifen von Morgendämmerung. Miriams Gesichtsausdruck erinnerte mich so sehr an das Mädchen das sie früher gewesen war, dass ich schon nachfragen wollte, wann das Bild gemalt worden war. Doch ich verkniff es mir.
Ich hatte die bräunliche Zigarette mittlerweile bis zur Hälfte aufgeraucht, als sich mit einem Kitzeln ein sehr angenehmes Gefühl von Wärme in meinem Körper ausbreitete. Ich wollte Theodora fragen, was das denn nun war, was sie mir da gegeben hatte; ich hatte mich bereits zu ihr umgedreht und meinen Mund geöffnet, da schloss ich ihn wieder. Es schien mit einem Mal einfach nicht wichtig. Kribbelnd stieg die Wärme weiter in mir auf.
An der unteren rechten Ecke von Miriams Porträt fehlte ein Stück der Leinwand und ich bückte mich um meinen Finger in die leere Stelle zu bohren.
„Das Bild ist blöderweise kaputtgegangen“ bemerkte Theodora und hockte sich neben mich. „Ich werde es noch mal malen; also nicht genau dasselbe, aber ein anderes Porträt von Ihr“
Ich blickte nach links und sah einige Bilder, welche mit Tüchern verhangen, gegen die Wand lehnten. „Die sind noch nicht fertig“ bemerkte sie.
Miriam stand halb in der Tür und drehte eine Zigarette über Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand. Sie blickte auf ihr eigenes Porträt, als suche sie nach etwas; einem Makel auf der Haut ihres Ebenbilds möglicherweise. Dann schien mir ihr Blick völlig ins Leere zu starren; wie einen Gegenstand fixierend, der in ihrem Inneren lag.
„Ich bereite schon mal das Essen vor“, sagte sie und hastete aus dem Raum.
Ich erhob mich und blickte ihr nach. Von der plötzlichen Bewegung wurde mir schwindelig und ich überlegte ob ich vielleicht zu viel von dieser seltsamen Zigarette geraucht hatte. Mein ganzer Körper kribbelte und von meinem Bauch stieg stoßweise ein schwebendes Glücksgefühl über meinen Körper, das mich zum Grinsen brachte.
„Was ist denn los mit Miriam?“ fragte ich und drehte mich um: „Ich meine…früher war sie nicht so nervös.“
Theodora schaute mich mit ihren großen klaren Augen an und ein Lächeln saß mit zarten Taubenfüßen auf ihren Lippen: „Sie ist verliebt“ sagte sie. „Sie ist zum ersten Mal richtig verliebt.“
„Sie war auch vorher schon verliebt“ antwortete ich.
„Nein, nicht richtig“ widersprach sie und blickte mich weiter auf diese Art an: „Sie war vorher nie verrückt, diesmal ist sie verrückt. Ich habe ihr den Verstand ausgesaugt wie Gift aus einer Wunde“.
Sie kniete sich erneut vor Miriams Porträt und strich sachte mit einem Finger über die Wange der Gemalten. Das Straßenlicht von draußen strich über die obersten Haare ihres Kopfes und erwirkte den Anschein einer Krone aus Licht.
„Wovon redest du?“ fragte ich irritiert und zerdrückte die Zigarette an einer freien Stelle an der Wand. „Und was war jetzt eigentlich in diesem Ding“?
Theodora blickte einen Moment weiter auf das Porträt, dann wandte sie den Kopf zu mir. Ihre Augen glänzten weiterhin, aber das Lächeln war verschwunden.
„Miriam ist hier drin“ sagte sie ruhig und deutete auf das Bild, „Sie ist ein Traum, verstehst du? Sie kann nicht hier draußen leben. Für sie wäre das Aufwachen der Tod.“
Mir war entsetzlich schwindelig und ich hatte das Gefühl, ich könnte nichts von dem, was sie sagte verstehen. Langsam setzte ich mich wieder hin.
Draußen fuhr ein Auto vorbei und die Scheinwerfer glitten über das Fenster. Mit einem Mal schien das Zimmer wie in ein Kaleidoskop getaucht; Lichtpunkte tänzelten glitzernd über die dunklen Wände und der Raum schien sich zu drehen, schien Bilder, Gesichter, Landschaften und Lichter um mich herum zu wirbeln, mit nur Theodoras leuchtenden Augenkugeln als festen Mittelpunkt. Dann war das Auto vorbeigefahren.
Mein Herz raste und noch immer kribbelte mein Körper, dennoch raffte ich mich auf und kroch zu den mit Tüchern verhängten Bildern in der Ecke.
„Was machst du da?“ fragte Theodora und zum ersten Mal klang ihre Stimme unsicher.
Ich hob eines der Tücher ab. Das darunterliegende Bild zeigte den Vollmond, der sich im Meer spiegelte.
Ich hob ein zweites Tuch und blickte in mein eigenes Gesicht. Mein Porträt blickte mit einem zuversichtlichen Blick am Betrachter vorbei und auf meinen Lippen hatte sie die Andeutung eines Lächelns gemalt.
Wo mein linkes Auge hätte sein sollen, klaffte jedoch ein Loch in der Tapete. Wie bei Miriam bohrte ich meinen Finger in das Bild und überlegte fieberhaft. Plötzlich überlief mich ein Schauder und ich rutschte auf den Knien zurück zu der Stelle, wo ich zuvor gesessen hatte.
Theodora saß an der Wand gelehnt, die Beine angewinkelt und von ihren Armen umschlossen, und betrachtete mein Treiben nun mit einer Miene völliger Gleichgültigkeit.
Mit zitternden Fingern klaubte ich den zerdrückten Rest der Zigarette vom Boden auf, riss das Papier ab und entrollte es. Von aschernen Brandspuren umrandet blickte mir mein eigenes angekohltes Auge entgegen, den Blick sehnsüchtig am Betrachter vorbeigeworfen.
 



 
Oben Unten