Mit den Augen der Kindheit

Morgana

Mitglied
Als ich ein Kind war, lag die kleine Stadt in der ich heute lebe weit, weit entfernt, außerhalb der Welt unseres kindlichen Lebensbereiches. Erreichbar war sie nur mit dem Auto und auch das nur zu besonderen Gelegenheiten, da Benzin sehr teuer war und meine Mutter uns alleine durchzubringen hatte. Heute ist der winzige Ort, in mitten der Alpen, in dem ich aufgewachsen bin, nur 30 km weit entfernt von meiner jetzigen Lebensumgebung, der kleinen, großen Stadt meiner Kindheit.

"Wir fahren in die Stadt!" pflegte meine Mutter zu sagen, wenn sie günstig Kleidung und Schuhe für uns Mädchen einkaufen wollte. Wir beiden Schwestern waren furchtbar aufgeregt, weil die Stadt ja so wunderbar und so weit weg war. Es war geradezu ein Festtag, wenn wir die Mutter in die Stadt begleiten durften. Hinten auf der Rückbank des alten Renault sitzend, drückten wir die Nasen an den Scheiben platt und schauten neugierig auf die vorbeifliegenden Landschaft, die wir nur die paar Kilometer weit kannten, die wir auf unseren Fahrrädern erkunden konnten. Bald schon befanden wir uns auf unbekanntem Terrain. Alleine, die seltene Gelegenheit auf der Autobahn zu fahren, war schon ein Erlebnis.

Wenn dann die Grenzen der Stadt erreicht waren, staunten wir über die vielen Autos. Zuerst musste man an der "Panorama-Kreuzung", wie sie im Volksmund heißt, an der Ampel stehen bleiben. Ich weiß nicht warum, aber diese Ampel scheint auch heute noch, immer auf Rot zu stehen, wenn ich in unsere Stadt hineinfahre. Als Kind war mir das nur recht, gab es mir doch Gelegenheit das "riesige" Einkaufszentrum zu bestaunen, von dem die Kreuzung ihren Namen bekommen hat. Das Einkaufszentrum steht noch heute da, nur heißt es heute anders und ist seit meiner Kindheit seltsam geschrumpft.

Weiter ging es die Kufsteiner Straße entlang. Lang, nachgerade endlos, zog sie sich damals ins Herz unserer Stadt, gesäumt von kleinen Läden, Kiosken und Tankstellen. Das Zentrum war und ist ein Gewühle von Autos, Parkplätzen und Geschäften. Staunend saßen wir im Auto und besahen uns die viele Menschen, die auch alle in die Stadt gefahren waren. Wir konnten uns damals einfach nicht vorstellen, das jemand in dieser wunderbaren Stadt lebte. Die Stadt - Das war ein Ort aus einer anderen Welt. Meine Mutter fuhr immer auf den selben, großen Parkplatz, den wir schon von früheren Besuchen kannten. Jedes Mal durften wir auf das Knöpfchen drücken, damit der Apparat einen Parkschein ausspuckte und die Schranke sich hob. Es war sozusagen ein Privileg und wir stritten uns darum, wer dieses Mal damit an der Reihe wäre. Der Parkplatz, hinter einem Fabrikgelände mit abweisenden, schmutzigen Ziegelmauern gelegen, war nichts Besonderes. Der Asphalt war gesprungen und löchrig, die Parkbuchten nur festgefahrene Erde, schlammig bei Regen und staubig bei Sonnenschein. Doch uns erschien dieser große Platz, mit seinen alten Bäumen und dem Geruch nach Straßenstaub, Abgasen und Gummireifen, auf dem unzählige Autos eine Raststätte fanden wie ein Basislager für große Abenteuer.

Zu Fuß ging es dann weiter, ermahnt von der Mutter, ja nicht zu dicht an der Bordsteinkante zu laufen, beim Überqueren der breiten, stark befahrenen Münchner Straße an die Hand genommen, die eine links die andere rechts, beide an der Hand der Mutter zerrend, weil es uns nicht schnell genug gehen konnte, die Bahnhofsstraße mit ihren vielen Geschäften zu erreichen. Die Innenstadt war damals noch nicht verkehrsberuhigt. Die große Fußgängerzone am Max-Josephs-Platz bis hinauf zum Mittertor, wo sich auch das Heimatmuseeum befindet, war damals noch nicht angelegt. Der Verkehr floß eingequetscht zwischen schmalen, belebten Bürgersteigen dahin und meine Mutter musste ihre Augen überall haben, wollte sie uns in dem Gedränge nicht verlieren.

Das Herrlichste war es, wenn wir nachdem die Einkäufe in den großen Kaufhäusern erledigt waren, noch die Münchener Straße entlang gingen um auf dem "Brückenberg" zu stehen und den Zügen bei der Abfahrt zu zusehen. Dieser "Berg" ist eigentlich keine Erderhebung, wie man vermuten könnte, sondern eine große Überführung über die viele Gleise, die sich zu beiden Seiten des Bahnhofes erstrecken. Es war ein berauschendes Gefühl dort hoch über der Gleisanlage, auf dem Bürgersteig zu stehen, und hinunter zu blicken auf das Gewirr der Stahlschienen und Hochspannungsleitungen und hinter sich die vielen Autos zu hören, die unablässig dieses Nadelöhr zwischen der Münchnerstraße und der Äußeren Münchnerstraße passierten. Ein Hauch der großen, weiten Welt schien dort für ein kleines, 8-jähriges Mädchen zu wehen, das naseweise der Jüngeren erklärte, warum dort ein gelbes Schild mit einem roten Blitz angebracht war. Wenn uns das Glück besonders hold war, dann durften wir mit unserer Mutter anschließend noch den gerade neu eröffneten McDonalds besuchen und jede bekam einen Hamburger, für mehr reichte das Geld meist nicht, doch uns erschien es wie die wunderbarste Köstlichkeit.

Einmal, daran kann ich mich noch erinnern, hatte meine Mutter auf einer Behörde zu tun. Ich habe vergessen um was es ging, was ich jedoch nicht vergessen habe, ist der Eindruck, den das Rathaus auf mich machte. Ein wuchtiger Bau aus rotem Ziegel, eine große Halle hinter den massive Türen. Ich kam mir unendlich klein vor in diesem großen und wichtigen Haus. Meine Mutter erklärte mir das es früher einmal der Bahnhof gewesen sei und daß das seltsame, halbrunde Gebäude auf der anderen Straßenseite, das dort jetzt recht heruntergekommen stand, früher die Garage der Lokomotiven gewesen sei. Ich konnte mir das einfach nicht vorstellen, das Bild des modernen Bahnhofes vor Augen, erschienen mir diese Gebäude viel zu vornehm und zu nobel um einem so profanen Zweck zu dienen. Heute wirkt auch die Königsstraße, an der viele Behörden und Ämter gelegen sind auf mich klein, doch damals war es das, was ich mir vorstellte, wenn ich im Radio oder Fernsehen den Begriff "Regierungsviertel" hörte. Wie seltsam doch die Welt erscheint, wenn man sie als Erwachsener einmal mit den Augen der Kindheit betrachtet.
 

Morgana

Mitglied
Treffer....

versenkt....*grins*
Freut mich das ich es so beschrieben haben, das Du es erkannt hast. *lächel*

Bright Blessings

Morgana
 

Frank Zimmermann

Junior Mitglied
Schön

Ich habe die Stadt zwar nicht erkannt - weil ich zu weit weg lebe und sie noch nie gesehen habe - aber ich habe mich an einigen sehr gelungen Formulierungen erfreut, so z.B. der vom "geschrumpften Einkaufszentrum".
Danke für den Beitrag zur Schreibaufgabe.
 

selene

Mitglied
Rosenheim!
Mann, habe ich gegrübelt :)
Wo ich doch seit kurzem wieder in der Nähe von Rosenheim wohne.
Auf jeden Fall hat mir der Text auch sehr gut gefallen!
Lieben Gruß,
selene
 

Morgana

Mitglied
Vielen Dank....

für die freundlichen Worte Frank und Selene.
Ich merke das mein Stil dank der tatkräftigen Hilfe hier auf der LL verbessert und das freut mich kolossal.

@Selene: Du wohnst in der Nähe von RO? Das ist ja höchstinteressant! Wo?

Bright Blessings

Morgana
 

selene

Mitglied
München, aber damit keine falschen Vermutungen auftauchen, mein Text in der Schreibaufgabe geht über die Stadt in der ich für zwei Jahre lebte. Ich bin erst vor kurzem wieder nach München gezogen.
Ich war auch schon mal in Rosenheim, bin aber leider doch nicht draufgekommen, dafür kenn ich die Stadt einfach zu wenig.

Lieben Gruß,
selene
 
Liebe Morgana,
mein Kompliment für diese schön geschilderten Kindheitserlebnisse. Ich habe dich in Gedanken begleitet und konnte deine Eindrücke gut nachempfinden. Der Text gefällt mir.
Stimmt, die Formulierungen sind schon wesentlich besser geworden. Am Ball bleiben lohnt also.
Es grüßt dich lieb
Willi
 

Morgana

Mitglied
Danke für das Lob,

lieber Willy. Ja, dranbleiben lohnt sich wirklich, und kann ich nicht gibts nicht.... *lächel*

Bright Blessings

Morgana
 



 
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