Mit verbrannten Flügeln

3,50 Stern(e) 2 Bewertungen

Kyra

Mitglied
mit verbrannten Flügeln

Er wollte die Stadt nicht mehr sehen. Er lehnte sich mit geschlossenen Augen in seinem Flugzeugsitz zurück und versuchte die Übelkeit zu unterdrücken, die ihn jedesmal beim Start überkam.
Die Nachmittagssonne durchdrang seine Lider, ließ ihn in ein glutrotes Gleißen blicken. Er sehnte sich nach Stille.
Aber nicht die Art von Stille, die er gestern in dem Sterbezimmer seiner Mutter verlassen hatte.
Fast zwei Tage hatte er in diesem Raum verbracht, alleine mit seiner sterbenden Mutter, die er über zwanzig Jahre nicht mehr gesehen hatte. Bei ihrer letzten Begegnung davor, war sie bewußtlos und ihr Gesicht von Blutergüssen entstellt gewesen.
Als er vorgestern in der Stadt ankam, um dann sofort vom Flughafen zum Krankenhaus zu fahren, versuchte er, so wenig wie möglich aus dem Fenster des Taxis zu blicken. Hätte der Anruf der Stationsärztin nicht so dringend, fast flehend geklungen, er wäre nie wieder hierher zurückgekehrt. Er haßte seine Heimatstadt, er haßte seine Kindheit, die er hier verbracht hatte, er haßte die Menschen die hier lebten – das war ohne Zweifel ungerecht, denn gequält hatte ihn nur sein Vater - ließ sich aber nicht ändern. Er brauchte nur den bayerischen Tonfall zu hören, um sofort wieder alles Scheußliche lebhaft vor Augen zu haben.
Den Vater hatte er eigentlich zweimal das letzte Mal gesehen. Einmal, als er mit siebzehn blutend und vor Wut zitternd von Zuhause ausgezogen war. Und dann das andere Mal, an jenem Abend fünf Jahre später. Diese allerletzte Begegnung sah er noch deutlicher vor sich, als es ihm lieb war.
Damals. Er war gerade siebzehn geworden, ein heißer Junitag und er saß mit seinem Freund Pit in seinem Zimmer. Er massierte Pit den Rücken. Nicht nur wegen der Hitze hatten beide ihre Hemden ausgezogen. Sein Vater mußte schon eine Weile in der Tür gestanden und sie beobachtet haben. Erst als er begann, die Massage auf Pits runde Pobacken auszudehnen, stürzte der Vater sich auf ihn.
Schwule Sau, waren noch die harmloseren Beschimpfungen die von brutalen Schlägen begleitet wurden.
Sein Freund war barfuß, mit bloßem Oberkörper aus dem Haus geflohen. Ihn hat er nie wiedergesehen. Hätte sich die Mutter nicht dazwischen geworfen, hätte ihn der Vater noch schlimmer zugerichtet. Er hatte die schrille Stimme der Mutter noch deutlich im Ohr, bitte, bitte schlage ihn nicht mehr. Sven kann doch nichts dafür. Vielleicht, wenn er ein nettes Mädchen kennenlernt....
Er hatte zwar später viele Frauen kennengelernt, aber das änderte nichts an seiner Homosexualität. Jetzt lebte er schon seit vielen Jahren in Madrid und führte mit seinem Lebensgefährten ein gut sortiertes Antiquariat.
Er versuchte sich zu erinnern, was er seinem Vater zum Abschied gesagt hatte. Es war etwas sehr Wahres und Pathetisches etwas, das nur ein zutiefst gekränkter Junge sagen konnte. Der genaue Wortlaut wollte ihm nicht mehr einfallen, aber es begann bei den alten Griechen und endete bei Gott. Seine Mutter hatte weinend neben dem völlig stoischen Vater an der Haustür gestanden.
Er war noch am selben Tag ausgezogen, höchstens eine Stunde nach dieser Szene an deren Ende die Mutter fast ebenso zerschlagen in seinem Zimmer zurückblieb, wie er selber. Er hatte damals direkt beschlossen keine weitere Nacht mehr dort zu verbringen, obwohl er nicht wußte, wohin er gehen konnte. Schnell waren einige Dinge in seine große Sporttasche gepackt. Er hatte damals tatsächlich daran gedacht, die Wintersachen mitzunehmen, obwohl es Juni war. Als die Mutter dies bemerkte, wurde ihr Schluchzen verzweifelt. Nie wieder war er sich bei einer Entscheidung so sicher gewesen, wie an diesem Tag.
Seine sexuelle Veranlagung war ihm schon lange klar gewesen. Eigentlich seitdem er das erste Mal Lust gespürt hatte. Natürlich war ihm klar, der Vater würde so etwas nie akzeptieren können. Trotzdem hatte er gehofft, sich zumindest erklären zu können. Aus einem für ihn damals völlig unverständlichen Grund lag ihm viel daran, von seinem Vater nicht verachtet zu werden. Als Sven jetzt daran dachte, mußte er lächeln. Ein Gong und die Stimme des Kapitäns brachten ihn in die Gegenwart zurück. Die Stewardessen begannen, die Getränke auszuteilen. Er sah auf die Uhr - merkwürdig, erst vor achtundvierzig Stunden war er vor dem Krankenhaus aus dem Taxi ausgestiegen, um seine Mutter nach über zwanzig Jahren wiederzusehen. Und jetzt war sie tot.
Die Klinik lag am Stadtrand. Auf einer Wiese, ein Stück weit entfernt, gab es eine kleine Kirmes. Nur ein paar Buden, ein Autoscooter und eine Raupe. Leise klang die Musik hinüber. Nie konnte er diesen blechernen Discosound hören, ohne an seine Jahre als Schaustellergehilfe zu denken.
Wie stark hatte er sich gefühlt, als er damals mit seinen wenigen Habseligkeiten das Elternhaus verließ. Keine Gedanken an Morgen, an seine begrenzten Möglichkeiten. Als er die Straße hinunterging und den Blick des Vaters im Rücken fühlte, war seine einzige Sorge so aufrecht wie möglich zu gehen, sich nicht vom Gewicht der Tasche zur Seite ziehen zu lassen.
Den ganzen Tag war er dann ziellos durch die Stadt gelaufen, stolz und verzweifelt. Am Abend fand er sich auf einem Jahrmarkt wieder, der grade abgebaut wurde. Er ging gerade an der Raupe vorbei, da weckte ein Fluchen und Toben aus den eisernen Eingeweiden der Maschine seine Neugier. Er beugte sich zu der Stimme hinunter, die immer lauter und wütender wurde. Ein dicker Mann klemmte recht ungemütlich zwischen zwei verrutschten Eisenträgern. Als er unter die Planken kroch, um ihm zu helfen, faszinierte ihn der Geruch von Metall, Öl, schalem Bier und Schweiß. Es war nicht einfach gewesen, den Kerl aus seiner Lage zu befreien, aber er schaffte es ohne fremde Hilfe. Den Rest der Nacht hatte er mitgearbeitet beim Abbau, er wußte ja ohnehin nicht, wohin er gehen konnte.
Hier bekam er seinen ersten Job. Und die nächsten Jahre blieben die Jahrmärkte seine Heimat. Sie wären es vielleicht heute noch, wenn er nicht fast auf den Tag genau fünf Jahre später, wieder mit der Junikirmes in seine Stadt gekommen wäre. Am letzten Abend, sie hatten bereits abgebaut und würden im Morgengrauen losfahren, überkam ihn plötzlich eine große Lust, noch einmal durch die Straße seiner Kindheit zu gehen. Die Nacht war kühl, er zog die braune Lederjacke an, die ihm seine Mutter zu seinem siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Sie war extra für ihn angefertigt worden, die silbernen Knöpfe trugen seine Initialen.
Es war bereits nach zwölf, als er in die vertraute Gegend kam. Die kleinen Häuser hinter den totgepflegten Vorgärten waren Festungen des Anstandes. Kein Wunder, daß der Vater sich seiner geschämt hatte. Er war vor sein Elternhaus gekommen, das Licht in der Küche brannte noch. Aus einem Impuls heraus ging er auf die Haustür zu. Er trug den Schlüssel immer bei sich, wie einen Talisman – eine Erinnerung an die Zeit, als er noch nicht zum fahrenden Volk gehört hatte. Auf den Stufen zum Eingang lagen eine Schaufel und eine Axt. Sein Vater kümmerte sich also immer noch um den Garten. Leise öffnete er die Tür. Aus der Küche drangen aufgeregte Stimmen, dann ein gedämpfter Schrei und Gepolter. Er rannte zur angelehnten Küchentür. Was er dort sah, ließ gallige Übelkeit in ihm aufsteigen.
Der Vater stand schwer über den Küchentisch gelehnt, unter dem sich die Mutter verkrochen hatte. Er trat ohne hinzusehen immer wieder nach ihr. Die Mutter, bereits am Mund getroffen, versuchte ihr Gesicht mit den Händen zu schützen. Als sie den Kopf weg drehen wollte, traf sie sein Schuh mit voller Wucht an der Schläfe. Sie sackte bewußtlos zusammen. Sven drehte sich wortlos um und holte die Axt vom Treppenabsatz. Als er zurückkam, stand sein Vater noch immer tief über den Tisch gebeugt da. Er mußte die Schritte gehört haben, er drehte sich langsam um. Sven hatte dem Vater damals direkt in die Augen gesehen, dann schlug er ihm die Axt in den Schädel. Wenn er heute daran zurückdachte, verstand er immer noch nicht, wie er es geschafft hatte, so ruhig zu bleiben. Alles was er berührt hatte, wurde gründlich abgewischt. Dann verließ er das Haus – und wenige Stunden später die Stadt. Kurze Zeit war er noch bei den Schaustellern geblieben, um nicht aufzufallen. Aber schon nach vier Wochen war er in Spanien, um ein völlig neues Leben zu beginnen. Aber hätte er den Mut dazu gehabt, wenn ihm damals aufgefallen wäre, daß ein Knopf an seiner Lederjacke fehlte?
Heute erschienen diese Gedanken müßig – trotzdem ließen sie ihn nicht los.
Sven ließ sich von der Stewardeß einen Kaugummi geben, gegen das dumpfe Gefühl in den Ohren. Aber es nützte nichts, die Watte schien in seinem Gehirn selber zu sein.
Vorgestern hatte er etwas verlegen am Bett seiner Mutter gestanden. Ihre Augen waren geschlossen, aber sie atmete unruhig, bewegte die Lippen wie ein Fisch. Als hätte sie darauf gewartet, erwachte sie, nachdem die Schwester den Raum verlassen hatte. Ihr Blick war ohne Erstaunen gewesen, nur glücklich und erleichtert. Er war noch rechtzeitig gekommen. Dann sahen sie sich so lange schweigend in die Augen, bis er es nicht mehr ausgehalten und zu weinen begonnen hatte. Den Kopf in die weiße Krankenhausdecke geborgen, hatte er ihr was vorgeheult und sich von ihr trösten lassen.
Ein wenig schämte er sich jetzt dafür, da besuchte er seine todkranke Mutter und weint sich bei ihr aus. Wie alt sie geworden war, ob er sich auch so sehr verändert hatte? Er vergoß seine Tränen um sie und um sich selber. Erst hatte der lebende Vater zwischen ihnen gestanden, dann sein Tod. Solange er lebte, hatte die Mutter Angst vor ihm gehabt. Was mochte sie in den letzten zwanzig Jahren gemacht haben, ohne Furcht, aber auch ohne seinen Schutz? War sie glücklicher gewesen? Zwar hatte er ab und zu mit ihr telefoniert, aber diese Gespräche waren von einer bleiernen Befangenheit. Meist hatten sie so lange dem Atem des anderen gelauscht, bis die Mutter schließlich anfing, vom Grab seines Vaters zu sprechen oder von ihren Verwandten. Über das eine wollte er nichts hören, das andere interessierte ihn nicht. So war es eigentlich kein Gespräch, sondern nur ein Lebenszeichen.
Es hatte ihr nichts über sein Leben in Madrid erzählt, nicht einmal in der ersten Zeit, als es ihm recht dreckig ging. Er mußte damals betteln gehen, um zu überleben. Es dauerte eine Weile, bis er die Sprache beherrschte und eine Arbeit fand. In einer großen Buchhandlung, erst im Lager, später auch im Verkauf. Hier war er seinem Freund begegnet, einem Antiquar mit einer, für ihn damals befremdlichen Liebe zu Büchern. Er hatte ihn das Lesen gelehrt, das wirkliche Lesen. Das hatte nichts mit der oberflächlichen Lektüre gemeinsam, die er unter Lesen verstanden hatte. Es war das tiefe Eindringen in Texte, der Genuß einzelner Formulierungen ohne das Ganze aus den Augen zu verlieren. Es kam ihm zu Beginn wie studieren vor, er fand es anstrengend und langweilig. Es dauerte fast zwei Jahre, bis er seinen Lehrmeister verstand – und ihm damit auch sonst näher kam.
Dies war ihm alles durch den Kopf gegangen, während seine Mutter ihm mit fahrigen Händen über sein Haar strich. Als er sich ein wenig erholt hatte, hörte er sie leise sprechen.
Jedes Wort war ihr schwergefallen, er konnte kaum verstehen, was sie ihm ins Ohr flüsterte. Immer wieder sagte sie seinen Namen und wie gerne sie ihn schon viel früher gesehen hätte, aber nie gewagt habe, ihn darum zu bitten. Erst am nächsten Tag sollte er diese Worte verstehen – nachdem sie gestorben war.
Die Mutter baute sehr schnell ab, sie verfiel von Stunde zu Stunde mehr. Die ganze Nacht hatte er an ihrem Bett verbracht, ohne ein Wort mit ihr sprechen zu können. Sie war tief bewußtlos. Am Morgen erwachte sie noch einmal zu vollem Bewußtsein. Er wollte es ihr sagen, wollte endlich seine Seele von dem Druck befreien und beichten. Wenn er jetzt daran dachte, ekelte er sich vor seinem Egoismus. Er wollte die Sterbende tatsächlich noch mit einem Geständnis belasten. Aber sie legte ihm beim ersten Wort ihre zitternde Hand auf den Mund, als hätte sie eine Ahnung, was er ihr sagen wollte. Kurze Zeit später starb sie. Er hatte dann lange alleine in dem Zimmer gesessen und geweint. So einsam hatte er sich noch nie gefühlt, wie neben ihrem toten Körper. Aber die Zeit kennt nur eine Richtung. Er wurde von einer freundlichen Schwester aus seiner Trauer gerissen, die mit einer Schüssel lauwarmen Wassers und einem Waschlappen am Bett erschien. Sie erklärte, sie müsse die Tote jetzt waschen und ihr den Unterkiefer hoch binden. Sonst würde sie noch mit so weit geöffneten Mund im Sarg liegen. Zum Erstaunen der Schwester, bat er darum, das selber tun zu dürfen. Als er ihr vorsichtig das Krankenhaushemd absteifte, bemerkte er eine dünne Silberkette um ihren Hals. Neugierig sah er sich den runden Anhänger an. Es war ein Knopf. Ein Knopf mit seinen Initialen.
Das Flugzeug flog schon über das vertrocknete Land vor Madrid. Es hatte lange nicht mehr geregnet. Ihm war es, als sei er in den letzten beiden Tagen um Jahre jünger geworden. Er war nicht mehr nur ein alternder Schwuler, er war der Sohn seiner Mutter – auch wenn sie jetzt tot war.
 

Murmel

Mitglied
Hallo Kyra,
deine Geschichte liegt schwer im Magen- ich versuche trotzdem meinen ersten Eindruck zu Papier zu bringen (ausserdem motiviert es unheimlich, wenn jemand antwortet, gell?). Sicher muss man sie öfter lesen, um auch alles mitzubekommen. Er hat seine Mutter zwanzig Jahre nicht gesehen, ist geprägt von dem prügelnden Vater und von der (Verzeihung!) duldenden Mutter, mich würde interessieren, zu welcher Art Beziehung er fähig ist? ich könnte mir vorstellen, dass er gerade als Homosexueller besonders sensibilisiert ist, was das Verhältnis zur Familie, zum Partner, zum Umfeld usw. betrifft.
Kann er aufarbeiten, jetzt wo sie tot ist, verstehen und sich damit ein Stück von seiner Vergangenheit lösen?
Ich suche noch nach der Botschaft, vielleicht kannst du mir ja einen Tip geben
deine "leichte Feder" hat mir gefallen!
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
also,

hut ab, kyra! zum heulen schön, deine geschichte. eine echte perle. kommt natürlich in meine sammlung. ganz lieb grüßt
 

Mäuschen

Mitglied
Servus =)

Auch wenn es schon ein paar Jährchen her ist, will ich hier öffentlich kundtun, dass mir die Geschichte gefällt ^^
Vielleicht ein wenig lang, aber sie hängt nirgends durch.

"Erst hatte der lebende Vater zwischen ihnen gestanden, dann sein Tod." Gefällt mir sehr gut.


Liebe Grüße,
Christine
 



 
Oben Unten