Mittagspause

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Mittagspause

„Mahlzeit!“, tönt es wie ein Jagdsignal durch den Raum.

Nur mit geteilter Aufmerksamkeit schnippt mein Blick auf die rechte untere Ecke des Bildschirms: 11:34 Uhr.
Tatsächlich schon höchste Zeit, sonst müssen wir in der Kantine wieder so lange anstehen. Nur der frühe Vogel fängt die Wurst…

„Mahlzeit!“, hallt es in mir mahnend wider, während ich mechanisch auf „Speichern“ klicke.
Ist das nicht falsch geschrieben?
Treffender wäre doch: „Malzeit!“ oder noch besser „Mal Zeit!“

Mein Blick löst sich so mühevoll vom Monitor, dass ich ein reißendes Geräusch vermisse. Die Augen suchen sich eine Lücke zwischen den Fensterlamellen vor mir, um ihre Brennweite wieder auf „Ferne“ zu schrauben. Ich spüre förmlich das Quietschen der Linsen im Kopf. Nur langsam sickern die leicht verschwommenen Bilder der Umgebung in mein Bewusstsein.

Die Sonne scheint und der Himmel wirkt fast greifbar nah, durch sein schon kitschig anmutendes dunkles Blau.
Lautlos saust ein ICE auf seinen unsichtbaren Gleisen vorüber. Nur vier Lamellenspalten weit kann ich ihn begleiten. Wohin mag er fahren?


Wie lange ist es eigentlich noch bis zum Urlaub? Vielleicht sollten wir im Sommer doch ans Meer fahren? Egal an welches. Hauptsache, es rauscht und hat einen guten Ruf bei den Möwen, kennt Sonne und Wind, …

„Kommst du heute nicht mit?“, fragt Christopher hinter mir leise.
Erschrocken fahre ich herum.

„Doch, doch, ich komme.“, antworte ich verwirrt und schüttle schnell die Laborlatschen von den Füßen, um in die Pumps zu schlüpfen.
Mit dem gewohnten Griff zum Betriebsausweis, wende ich mich zum Gehen und frage ihn, „Sag mal, hast du eigentlich Kinder?“
Ein überraschter Blick trifft mich.

„Mal Zeit“, denke ich befreit und lächle ihn erwartungsvoll an
 

Gandl

Mitglied
Hi Kerstin,
mit leichter Hand hast du da eine bildhafte Szene federleichst hingetupft
(... oh! ... ich weiß aber um die Arbeit, die dahinter steckt!).
Wunderschöne Formulierungen, bei denen mir mein Herz aufgeht: „ ... hat einen guten Ruf bei den Möwen“.
Schön! Wenn dann morgen, ab 11.34 oder so, Das Signal erschallt, denk ich an diese Geschichte. Bei der Gelegenheit werd ich Sandra mal fragen müssen, ob ... – aber das gehört jetzt nicht hierher. Aber danke, dass du mich erinnert hast.
Gruß
Gandl
 
S

Sandra

Gast
Hallo Kerstin,

es gibt ja so einiges, was langsam "mal Zeit" wäre. Schön, dass du daran erinnerst. Dieser kurze Blick zwischen die Lamellen sollte eigentlich immer eine Unterbrechung wert sein. Die wunderbare Geschichte, die du darum gebaut hast, erinnert mich daran, mal öfter wieder in Kurzprosa reinzuschauen.

Schön zu lesen und wie Gandl gesagt hatte, stimmungsvolle Formulierungen, die mir viel Freude bereitet haben.

LG
Sandra
 
S

Stoffel

Gast
Hast Du Mahl-zeit?

...dann bin ich da!
Esse so gerne:)

Ja, flott geschrieben,liest sich gut.
Den Spruch mit dem "frühen Vogel" kannte ich noch nicht.

Letzte Zeile..würd ich witzig finden
"Gib mir Mahl Zeit" denke ich...:)

lG
Stoffel
 
S

Sandra

Gast
Lieber Kerstin,

nach ein bisschen "Sacken lassen", dachte ich nochmals über deinen Text nach.
Der letzte Satz, ganz klar eine gute Pointe, ist mir doch ein wenig "zu viel des Guten".
Christopher ist ein Arbeitskollege von ihr, sie wird - wenn sie denn an ihm interessiert ist - wissen, ob er verheiratet ist und Kinder hat.
Wo sich diese Frage ja eigentlich auf sie selbst als Partnerin bezieht, ist mir die Nachfrage direkt nach Kindern ein wenig zu weit gegriffen.
Würde es nicht reichen und wäre es zudem nicht realistischer, wenn die letzten Sätze so aussehen würden?

"Sag mal, hast du eigentlich eine Freundin?"
"Nee, warum?"
„Mal Zeit“, denke ich und lächle ihn erwartungsvoll an.

Lieben Gruß
Sandra
 
Keine Anmache ...

Lieben Dank für die tollen Kommentare.
Es ist ein netter Gedanke, dass sich für Gandl dieses übliche Mittagssignal vielleicht mit dieser kleinen Schilderung verbinden könnte.
Tatsächlich ziehen ja mit der Zeit doch einige Geschichten in den eigenen Alltag ein und manchmal lächelt man über Bezüge, die man gar nicht ohne große Erklärungen mit anderen teilen kann.

Liebe Stoffel, über deinen Vorschlag habe ich echt gegrübelt, weil ich ihn nicht verstanden habe. Erst Sandras Erklärungen brachten mich auf den Hintergrund deines Haderns mit dem Abschlusssatz.

Liebe Sandra. Die Geschichte ist viel braver gemeint, gedacht, ja auch erlebt.
Eigentlich ist das Ende ganz weit entfernt von einem partnerschaftlichen Interesse am Kollegen Christopher.
Sie dreht sich tatsächlich nur um das Thema „Mal Zeit“ zu haben, sie sich zu nehmen – für sich selbst und auch, um seine Umgebung genauer wahrzunehmen.
Wie viel weiß man wirklich von seinen Nachbarn oder eben Kollegen?
Wie wenig nimmt man wahr von ihrem Leben, ihrem Umfeld, ihren Sorgen oder Freuden.

Christopher steht nur stellvertretend für viele Kollegen, mit denen man über Jahre zusammenarbeitet, ohne sie eigentlich zu kennen. Der Job ist hektisch, alle sind im Stress und leben nur nebenher. Das ist ziemlich kalt.
Die Fotos auf den Schreibtischen sind das einzige Signal über ihre Privatsphäre. Gerade hier im Ländle herrscht eine enorm harte Trennung zwischen Beruf und Privatleben.

Ich fände es sehr schön, wenn man sich mehr Zeit füreinander nehmen würde.

Liebe Grüße
Kerstin
 



 
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