Mitten in der Nacht

storyteller

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Mitten in der Nacht

Ich bin müde. Ich bin so müde, dass ich zu müde bin, um einfach ins Bett zu schlurfen. Geschweige denn zu gehen. Aufrecht schon mal gar nicht mehr.
Ich stelle mir vor, ich stehe auf. Ganz langsam. Ich öffne für einen Moment die Augen, um mich zu orientieren. Dann will ich mich bewegen, mich aufraffen und schaffe es auch. Mehr oder weniger. Ich setze einen Fuß vor den anderen und fühle mich unendlich schwer. Wer hat mir nur diese Gewichte auf die Schultern gelegt? Ich habe dieser drückenden Last nichts entgegenzusetzen und klappe nach vorne.
Aber ich falle nicht vorne über. Ich bin zu müde um zu verstehen, dass ich jetzt wohl vorne über auf den Boden fallen müsste. Auch wenn ich ja nur in Gedanken fallen würde, ja nur in Gedanken aufgestanden bin und gerade mal einen Fuß vor den anderen gesetzt habe.

Gedanken, Gedankenfetzen, die lautlos vorbeischauen. Ich sehe Bilder, kann sie nicht festhalten. Schon sind sie wieder weg. Sie verflüchtigen sich nicht, sondern sind einfach nicht mehr da. Habe ich sie mir nur eingebildet? Neue Bilder, neue Gedanken und ich habe keine wirkliche Kontrolle über sie.
Die Müdigkeit, meine Müdigkeit, stellt sich mir in den Weg. Die Gedanken kommen unaufgefordert, fragen nicht erst, ob sie erwünscht sind. Sie halten es offenbar nicht einmal für nötig, mit mir ins Gespräch zu kommen. Wortlos sind sie. Und auch schon wieder weg.
Ich bin noch da. Und diese Müdigkeit auch. Wir sind ein gutes Team. Wenn ich mich einmal leer fühle, kraftlos bin, dann steht mir meine Müdigkeit bei. Darauf ist Verlaß und ich lächele.

Ich lächele ihr zu. Zum Abschied. Denn nun hat die Müdigkeit ihres dazugetan, dass ich jetzt schlafen werde. Für jetzt räumt die Müdigkeit ihren Platz. An ihre Stelle rückt der Schlaf. Aber irgendwann wird sie wieder da sein. Meine Müdigkeit. In der Zwischenzeit werde ich schlafen, aufwachen, aufstehen, essen und trinken, dies und das machen, erleben, sehen und fühlen. Und dann wird sie wieder da sein. Mal mehr, mal weniger. Vielleicht auch nur mal auf einen Sprung. Zwischendurch. Aber auf die Müdigkeit ist Verlaß. Ein stiller Begleiter.

Während ich dies schreibe, sehe ich kurz auf die Uhr. Sie tickt. Es ist mitten in der Nacht. Der Mond steht weit oben am Himmel und leuchtet warm. Ein schönes Bild. Und dennoch.
Ich würde jetzt viel lieber schlafen. Endlich einschlafen. Ich hatte überlegt, wenn ich ein wenig schreibe, dann werden mir die Augen schon bald zufallen. Und sie fallen mir auch zu. Nur, schlafen kann ich immer noch nicht.
Ich schreibe nicht, an Schlaf ist nicht zu denken. Im Gegenteil. Ich sehne mich nach Schlaf. Nur, die Müdigkeit möchte wohl selbst noch ein wenig länger verweilen. Und so leiste ich ihr Gesellschaft. Mitten in der Nacht.

Große, dicke Wolken ziehen hoch oben am Mond vorbei. Der Wind lässt nach. Der Zug der Wolken gerät ins Stocken und sie versperren die Sicht auf den Mond. Mir kommt in den Sinn, was dem Mond die Wolken, das ist mir meine Müdigkeit. Unaufgefordert bleibt die Müdigkeit und ich verbringe hier unten zusammen mit ihr die Nacht.

Aber ich bin zuversichtlich. Irgendwann wird sich die Müdigkeit schon zurückziehen. Und dann werde ich mich schlafen legen. Ich schaue auf die Uhr. Oder ich werde dann aufstehen. Aufstehen müssen. Und mit mir zusammen dieses Verlangen nach Schlaf. Und irgendwann am Tage machen wir es uns dann gemütlich. Nur der Schlaf und ich.

Doch jetzt widme ich mich erst einmal wieder meiner Müdigkeit. Ich habe ihr eben vielleicht zu sehr geschmeichelt, dass sie mich jetzt gar nicht loslassen möchte. Ich schmunzele. Vielleicht zahle ich es ihr heim. Ich werde Kaffee trinken. Einen Becher nach dem anderen. Und so die Müdigkeit vertreiben. Zumindest vorübergehend.

© 2005 Ralf Weidel
 



 
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