Momentaufnahmen

Auf Reisen sind wir empfänglicher für das Besondere. Der Alltag hat uns losgelassen, unser Bewusstsein wird schärfer. Was wir dann aufnehmen, sind oft Bruchstücke aus einem größeren Zusammenhang, den wir nicht kennen. So bleiben die Bilder in unserem Kopf Fragmente von Geschichten. Wir erinnern uns später oft an sie, aus Neugierde. Wir wüssten noch immer gern, wie es damals weiter gegangen ist.

FRANKFURT UM 1980: Mein Zug steht im Hauptbahnhof, abfahrbereit. Ich blicke hinaus auf den Bahnsteig. Das übliche Gewimmel, die Routine von Abfahren und Ankommen. Plötzlich nimmt das Auge zwei stark beschleunigte Bewegungen wahr, es lösen sich zwei Einzelpersonen aus dem Chaos der Objekte. Ein junger Mann rennt, schlägt Haken und verschwindet blitzschnell in einer Unterführung. Ihm setzt ein anderer nach, schreiend. Er ist gerade bestohlen worden. Wird er den Dieb einholen? Oder ein anderer diesen festhalten? Ich werde es nie erfahren. Mein Zug fährt pünktlich ab.

WÜRZBURG 2001: Ich stöbere in einer großen Buchhandlung. Plötzlich spricht mich von der Seite eine junge Frau an und fragt mit slawischem Akzent: "Haben Sie Arbeit für mich? Oder kennen Sie jemand, der Arbeit hat?" Ich verneine beides und sie verschwindet rasch zwischen den anderen Kunden. Welche Art Arbeit sucht sie? Warum hat sie gerade mich angesprochen? Wie wird ihr weiteres Schicksal sein?

FRANFURT 1979: Auch diesmal sitze ich in einem abfahrbereiten Zug und schaue hinaus. Auf dem Gleis gegenüber steht ein Zug in die DDR. Eine nicht mehr junge Frau zögert vor einer Wagentür mit dem Einsteigen und blickt unruhig den Bahnsteig entlang. Indem der Zug abfährt, kommt ein Mann angelaufen - zu spät. Die Frau schreit - Stimme und Gebärde ganz griechische Tragödin -: "Hans, Hans!" Beide lassen sich wie vernichtet auf eine Bank fallen. Warum scheint es eine Katastrophe für sie zu sein, diesen Zug verpasst zu haben?

DÜSSELDORF UM 1975: Ich bin zum ersten Mal da und habe mir das Stadtzentrum angesehen. Jetzt stehe ich vor dem Hauptbahnhof und will zurück nach Köln. In diesem Moment lösen sich aus einer dichten Menschentraube zwei junge Männer, schreiend und gestikulierend. Der eine hat eine stark blutende, großflächige Gesichtsverletzung. Offenbar ist er eben attackiert worden. Was werden die beiden tun? Sie gehen aufgeregt in den Bahnhof hinein. Ich folge ihnen. Der Verletzte blutet so sehr, dass er dringend einen Arzt benötigt, so meine Einschätzung. Und warum ruft keiner die Polizei? Die beiden bleiben vor der Übersichtstafel der abfahrenden Züge stehen und suchen sich einen heraus. Dann verschwinden sie wie andere auch in der Menge, die zu den Gleisen strömt. So verstörend das Bild, so unverständlich auch der Ablauf des Geschehens – für mich.

Im Rückblick sehen wir so viele Splitter von Geschehnissen, die wir nicht ganzen Geschichten zuordnen können. Wir müssten allwissend oder Gott sein, um sie von Anfang bis Ende erzählen zu können. Ehrlich gesagt, ich kann mir keine Geschichte vorstellen, mit der uns das im Leben je gelingen könnte.
 



 
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