Montagmorgenverzögerungen

3,90 Stern(e) 8 Bewertungen

petrasmiles

Mitglied
Früh am Morgen geh ich aus dem Haus,
die Augen noch weit offen in der Grundeinstellung der Seele.
Noch nicht verengt zum schmalen Einlass,
der alltagstauglich macht.
Ungehindert dringt die Schönheit ein, der Schmutz.

Die Ohren sind noch aufgeklappt; sie hören Vogelzwitschern,
Schritte, Räderrollen.
Und auch die Nase hat sich noch nicht verengt,
um Staub und Kot und der frühen Übermacht der Eau de Toilettes
den Zugang zu erschweren
Die Füße kennen ihr Programm;
Sie brauchen keine Anweisung von oben.

Die meisten anderen Augen sind genauso offen,
verwundbare Seelen zeigen die gleiche Demut,
das Staunen ohne Frage, keine Erklärungsversuche.
Es gibt auch welche, die sind noch zugeklappt,
schauen nach innen, verraten nichts.
Ganz wenige haben schon die Harpunen umgeschnallt,
Hechte im Karpfenteich.
Mit weiten Schritten holen sie aus; folgen einer unsichtbaren Spur,
die ich traumwandlerisch kreuze. Ein Blick schubst mich aus dem Weg,
kaschiert durch ein angedeutetes Lächeln.
In zehn Minuten würde ich zurücklächeln können,
nicht weniger geheuchelt.
Jetzt noch bin ich in meiner eigenen Umlaufbahn,
gestatte keine Störung von Unerheblichkeit.

Die Treppe fordert Aufmerksamkeit.
Jeden Morgen sehe ich mich sie ’runterstürzen.
Das laute Bild vom Unbewussten bewahrt mich vor dem Schlimmsten.
In der S-Bahn plappert ein Kind ohne Unterlass.
Es ist gefeit davor, sich zu verstecken.
Diese Lektion erfolgt später.
Noch schenkt es die Ausbeute der Eroberungen seiner Welt
Dem sichtlich überforderten Papa.
Mehr als ‚ich liebe Dich’ und ‚Du bist richtig’
Kann er noch nicht signalisieren.
Das scheint zu reichen.

Der Schaffner fordert, meine Fahrkarte zu sehen.
Ich zeig sie ihm, lächele, und sage: „Guten Morgen!“
 
B

bonanza

Gast
na also, geht doch.
aus einem menschen geschöpft für menschen geschrieben.
die allmontagliche verwandlung vom menschen zum zombie.

prima.
bon.
 
B

bonanza

Gast
einen guten teil unseres lebens funktionieren wir nur.
wie tot. oder wie automaten.

hat mir wirklich gefallen, deine montagmorgenverzögerung.

bon.
 

fee_reloaded

Mitglied
Früh am Morgen geh ich aus dem Haus,
die Augen noch weit offen in der Grundeinstellung der Seele.
Noch nicht verengt zum schmalen Einlass,
der alltagstauglich macht.
....



Es gibt auch welche, die sind noch zugeklappt,
schauen nach innen, verraten nichts.

Sehr sehr schön und treffend beschrieben, liebe Petra!

Schon erstaunlich, wie groß der Anteil des (unbedingt nötigen) Ausblendens in unserem Alltag ist, oder? Auch wahrnehmungsphysisch und -psychologisch funktionieren wir ja so: um fokussieren zu können und die Kontrolle über die überlebenswichtigen Wahrnehmungen zu behalten, wird der gigantische "Rest" so perfekt als "Nebeninformation" gedämpft, dass wir uns der lärmenden und reizüberflutenden Umwelt gar nicht bewusst sind (zum Beispiel Menschen mit bestimmten Reizverarbeitungsstörungen oder Hörgerät-Neulinge sind sich dessen auf unangenehmste und vor allem anstrengende Weise bewusst).

"Zugeklappt" - treffender könnte ich mich in meiner "Morgenlangsamkeit" nicht beschrieben fühlen. ;)
Noch nicht ganz angekommen irgendwie. Aber spätestens, wenn ich "ganz da" bin, schenke auch ich gerne ein Lächeln.
Und auch die "aufgeklappten Ohren" an einem frühen Morgen sind so ein treffendes Bild! Der gesamte Text ist eine wundervoll behutsame und zugleich intensive Beobachtung! Gefällt mir sehr!

Lieber Gruß,
Claudia
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Fee,

danke, dass Du diesen alten Text ausgegraben hast :) und danke für Deine positive Rückmeldung.
Es gibt so einige Texte, die die Lupen-Migration nicht 'überebt' haben. Sie sind einfach verschwunden. (Auch dieser thread hier scheint mir 'redigiert'...)

Ich habe ihn selbst auch noch einmal gelesen und festgestellt, dass man nicht 'Dichter' oder 'Autor' mit 'Marktwert' sein muss, um sich auszudrücken und 'Gleichgesinnte' zu finden. Das Schreiben vollendet sich in unseren kleinen Momentaufnahmen des Lebens, fast so intim, als läse man sie Freunden vor, selbst, wenn die Reaktionen nicht immer 'freundlich' sind :)
Ich bin froh, dass ich während meiner Corona-Quarantäne genug Muße hatte, wieder einmal hier vorbei zu spazieren.
Eine Bereicherung!

Liebe Grüße
Petra

P.S. Ich würde Dich gerne weiter Fee nennen. Claudia hieß meine liebste Freundin, die vor einigen Jahren (viel zu früh) verstarb. Ich glaube, wenn eine persönliche Begegnung mit einer Claudia anstünde, wäre das eben eine andere Person, aber im Digitalen verknüpfen sich da die falschen Neuronen :) Danke
 

fee_reloaded

Mitglied
P.S. Ich würde Dich gerne weiter Fee nennen. Claudia hieß meine liebste Freundin, die vor einigen Jahren (viel zu früh) verstarb. Ich glaube, wenn eine persönliche Begegnung mit einer Claudia anstünde, wäre das eben eine andere Person, aber im Digitalen verknüpfen sich da die falschen Neuronen :) Danke
Das ist traurig, liebe Petra! Tut mir aufrichtig leid!
Klar passt fee für mich genauso gut. Ich kann dich gut verstehen.
 



 
Oben Unten