Mündlich überliefert - Geschichte in Worten

catsoul

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Hi,

im Herbst steht wieder eine Lesung vom Literaturkreis Eulenfeder Bad Kreuznach an. Diesmal lautet das Thema:
Mündlich Überliefert - Geschichte in Worten

Mein Beitag dazu liest sich wie folgt: ;)

Wifo

cat / 05.08.2005

Ich sitze am Bett meines 70-jährigen Vaters und frage ihn:
„Sag mal, wie war das damals, als die Amerikaner hier waren und weggingen, weil die Russen kamen?“
Eigentlich mag ich das Wort Russen nicht, für mich waren das immer die Sowjets. Aber ich bin auch erst 20 Jahre nach dem Krieg geboren, als das Leben mit ihnen zur Normalität geworden war.
„Die Amis, ja, die haben wir fast gar nicht gemerkt. Die zogen hier irgendwann im April ein. Nach dem die Bomben gefallen waren. Irgend so ein Gernegroß der Nazis hatte in der Wifo mit seinem Luftgewehr auf die Aufklärungsflugzeuge geschossen. Das hat die aufmerksam gemacht und sie sind Runden über Runden hier geflogen, haben aber nichts gefunden ...“, er schweigt und schaut mich an.

Die Wifo, ja, die kenne ich. Als ich in der siebenten oder achten Klasse war, waren wir mit unserer Russischlehrerin zu einem Freundschaftsnachmittag dort. Es waren viele junge Soldaten da, fast alle hatten Glatze und waren sehr schüchtern. Alle in Uniform. Wir durften nur zu dem Gebäude gehen, in dem die Veranstaltung stattfand. Etwas erzählen, danach tanzen. Richtig unterhalten konnten wir uns mit denen nicht, dafür reichte das Schulrussisch nicht aus.

„Was bedeutet eigentlich Wifo?“, frage ich.
„Wirtschaftliche Forschungsgesellschaft, die ist im August 1934 auf Veranlassung des Reichswirtschaftsministeriums gegründet worden. Das war ein großes Tanklager hier draußen am Rand von Münchenbernsdorf.“, wieder schweigt er.
Münchenbernsdorf, der Ort in dem aufgewachsen bin, heute in Ostthüringen gelegen. Die Wifo gehörte dazu, ich habe eigentlich nie groß darüber nachgedacht was da früher mal war. Kannte die Wifo ja nur als Domizil für das Straflager der Roten Armee.

„Mein Vater hat dort gearbeitet,“, spricht er weiter. „Außerhalb wurde es als Schokoladenfabrik bezeichnet. Wir stellen für Hitler die Schokolade her, hieß es. Aber jeder wusste es besser. Es gab viele unterirdische Labors und große Tanks. Alles versteckt und so gut getarnt, dass Aufklärungsflugzeuge nichts erkennen konnten. Ein Abzweig von der Eisenbahnstrecke führte direkt in das Gelände. Ich war oft dort, hab mich rumgetrieben und umgesehen. Mit dem Mineralöl von dort wurde fast die ganze Luftwaffe beliefert. Wie gesagt, irgendwann kurz vor Kriegsende hat einer der Offiziere dort mit dem Luftgewehr auf die Aufklärungsflugzeuge geschossen. Das hat die aufmerksam gemacht und immer wieder sind sie geflogen und haben versucht etwas herauszubekommen. Viel können die nicht gesehen haben, denn im April, um den 17. herum, begannen sie zu bombardieren.“, er schweigt kurz und spricht dann weiter:
„Wir haben unser Haus hier 1938 gebaut, das Kirchenland von Hitler bekommen, auf 100 Jahre Erbpacht. Hier auf dem Berg, am äußeren Rand der Stadt. Als die Flugzeuge kamen, habe ich sie gesehen. Sie warfen Bomben, nicht nur einzelne, sondern ganze Teppiche – über der Wifo. Der Himmel war schwarz.“

Ich überlege, die Wifo ist vom Haus meiner Eltern etwa drei Kilometer entfernt. Es muss ziemlich laut und erschreckend gewesen sein.

„Ein paar der großen Tanks haben sie getroffen, die sind zerborsten. Das Öl verursachte eine kleine Überschwemmung, aber zum Glück waren so viele Bombentrichter da, da sammelte sich alles. Es war gutes Öl! Wir haben es in Flaschen abgefüllt und damit Fische, die wir gefangen hatten, gebraten.“, er grinst verschmitzt. „Davon bekamen wir die Scheißerei. Aber geschmeckt haben die Fische trotzdem! Wir haben das Öl auch genommen um Wagenräder zu ölen, oder Türen, eigentlich alles ... es war so viel da, selbst wenn jeder Einwohner sich welches geholt hätte, es wäre kaum weniger geworden. Auch die Drehmaschinen in der Teppichfabrik, in der damals fast alle arbeiteten, wurden damit geölt. Hunderte Drehmaschinen waren das, auf denen Munition hergestellt wurde. Die haben die Russen später abgebaut und nach Russland geschafft. Sicher liegen die dort irgendwo und rosten noch heute vor sich hin. Die konnten ja doch nichts damit anfangen. Hier waren alles Facharbeiter, alles ausgebildete Leute, aber bei denen? Die haben die Wasserhähne abgeschraubt und in andere Wände geschlagen und sich gewundert, warum dann kein Wasser rauskam.“, wieder schmunzelt er und ich lächle auch. Ja, die Geschichte mit den Wasserhähnen, die kenne ich schon.

„Aber wie war das als die Amis kamen?“, frage ich noch einmal.
„Die Amis,“ er winkt ab „ die haben sich jedes Haus angesehen. Unseres war ihnen zu klein, in Spielzeughäusern wollten die Offiziere nicht wohnen, aber am Stadtrand wollten sie bleiben. Sie haben dann drei Straßen weiter das dreistöckige Haus besetzt. Man sah sie kaum auf den Straßen, nur die Landser, die haben in Zelten kampiert. Die Amis haben uns weitgehend in Ruhe gelassen. Sie haben nicht einmal nach Waffen in den Häusern gesucht.
Aber dann mussten sie weg, weil das Abkommen von Jalta es so vorschrieb. Da war Deutschland ja im Februar 1945 aufgeteilt worden. Thüringen sollte den Russen zufallen. Da den Amis und den Engländern aber kaum Gegenwehr beim Einmarsch geboten wurde, kamen die schneller voran als erwartet und somit auch nach Thüringen. Hitler hatte ja alle an die Ostfront geschickt.“, er holt kurz Atem und überlegt.
„Es gab hier einen Turm, in dem waren warme Sachen für die Front gelagert. Wattejacken, wattierte Unterwäsche, dicke Filzstiefel, alles. Wir haben das geklaut. Die Amis hat das nicht gestört, die haben gar nicht danach geschaut. Als die Russen kamen, durchsuchten sie jedes Haus. Jeder musste seine Waffen abgeben und die geklaute Winterkleidung auch ... dann mussten sich einige Tage später alle Männer auf dem Marktplatz einfinden. Mein Vater hat hier alles verrammelt. Überall Bretter davor genagelt und sich auf dem Dachboden versteckt, er hat wohl geahnt was passieren würde ... der Transport ging nach Sibirien und viele kamen nie mehr wieder.“
Schweigend sitzen wir noch eine Weile. Ich hätte noch so viele Fragen, aber für dies Mal ist es genug.
Ich gebe meinem Vater behutsam einen Kuss auf die Wange und gehe leise hinaus.
 



 
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