Herbstblatt
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Mütterlich
Die Tür fällt ins Schloss mit einem kleinen Knall und ich erschrecke fast, ob der Stille, die mich umfängt. Vorsichtig stelle ich meinen Pappbecher mit Kaffee auf die Anrichte neben dem Eingang. Ich atme behutsam und lausche. Der Regulator scheint stehen geblieben zu sein, denn ich kann ihn nicht hören. Ich gebe der Tür vor mir einen Stoß, sie öffnet sich knarrend und bleibt dann halb offen stehen. Mein Blick fällt auf einen Sessel und eine Stehlampe. Im Licht, das durch die nur ein Stück geöffneten Vorhänge der Fenster fällt, tanzen Stäubchen. Ich betrete das Zimmer, bemüht, kein Geräusch zu machen.
Im Sessel liegt ein aufgeschlagenes Buch, Eva Strittmatter, »Leib und Leben«.
Ich nehme es und lese:
»Liebe
Wie furchtbar auch die Flamme war,
In der man einst zusammenbrannte,
Am Ende bleibt ein wenig Glut.
Auch uns geschieht das Altbekannte.
Dass es nicht Asche ist, die letzte Spur von Feuer,
Zeigt unser Tagwerk. Und wie teuer
Die kleine Wärme ist, hab ich erfahren
In diesem schlimmsten Jahr
Von allen meinen Jahren.
Wenn wieder so ein Winter wird
Und auf mich so ein Schnee fällt,
Rettet nur diese Wärme mich
Vom Tod. Was hält
Mich sonst? Von unserer Liebe bleibt: dass
Wir uns hatten. Kein Gras
Wird auf uns sein, kein Stein,
Solange diese Glut glimmt.
Solange Glut ist,
Kann auch Feuer sein ...«
Unschlüssig schaue ich auf das Buch in meiner Hand, dann lege ich es aufs Regal, einfach oben drauf.
»Solange Glut ist«, murmele ich.
Im Regulator gegenüber stehen die Pendel still, die Uhr zeigt kurz vor neun.
Ich durchquere den Raum und öffne die Vorhänge ganz. Es wird nicht viel heller. Wenn ich die Stirn an die Scheibe presse, sehe ich einen Teil des Innenhofes. Eine Ecke von einem Sandkasten, ein abgestelltes Fahrrad, kein Grün, die Bank, auf der ich die letzte halbe Stunde saß und auf deine Fenster starrte.
Schaudernd wende ich mich ab.
Hier hast du also gelebt, deine letzten Jahre verbracht. Allein die meiste Zeit, nur für dich. Fern von allem, was dir früher wichtig war. Aber vielleicht stimmt das auch nicht, es kann sein, dass dir diese letzten Jahre viel wichtiger waren als wir. Wir und unsere Sorgen, unsere kaputten Familien, unsere Streitereien und Sticheleien, unsere Hast nach mehr. Vielleicht waren wir dir nur eine Last, haben dir den Raum für dich selbst genommen, ein Leben verhindert, das du ganz anders erträumt hattest. Ich weiß es nicht, ich habe dich in den letzten zehn Jahren nur zwei Mal gesprochen, am Telefon.
Ich öffne die nächstgelegene Tür und stehe in der Küche. Anders als vorher ist es hier hell, die Sonne scheint durch ein blitzsauberes Fenster mit einer bunten Halbgardine. Ich gehe näher heran und erblicke junge Tiere, die über den Stoff zu springen scheinen. Ein Elefant mit Schulrucksack, eine Biene mit einem Eimerchen in einer Hand, ein Frosch mit einem Fahrrad. Wo hast du das her? Unschlüssig schaue ich mich um, aber der Rest der Einrichtung wirkt auf mich normal. Langsam gehe ich weiter. Das große Küchenbuffet ist neu gestrichen, auf der unteren Ecke der rechten Tür sitzt eine kleine Katze, sie lacht verschmitzt und ist alles andere als perfekt gemalt. Aber sie ist fröhlich.
Ich öffne die Schranktür und sehe mich einem Sammelsurium an unterschiedlichstem Geschirr gegenüber. Manches kenne ich aus meiner Kindheit, vieles nicht. Ich schließe den Schrank wieder. Die Spüle ist sauber, ein paar Kalkflecken umrahmen den Wasserhahn. Auf dem Tisch liegt eine weiße Tischdecke mit einem braunen Fleck. Deine Teetasse steht noch da, mit Untertasse. Ich starre darauf, ohne etwas zu sehen.
Im nächsten Raum steht dein großes Doppelbett. Seit Jahren schläfst du darin allein, aber es zog immer mit dir mit. Während ich überlege, wie viele Jahre seit Vaters Tod vergangen sind, gehe ich weiter. Beneidenswert, diese Treue.
Ich betrete das Bad, versuche auch hier, anhand der Utensilien zu ergründen, wer du jetzt bist. Alles wirkt fremd und doch auch vertraut. Hastig drehe ich mich um, stoße dabei an ein Röhrchen Tabletten und fange es auf, bevor es herunterfällt. Ich stelle es zurück, ohne auf das Etikett zu schauen.
Im Flur trinke ich meinen Kaffee aus. Kalt und bitter ist er inzwischen, und ich schüttele mich.
Als ich gerade dabei bin, ein paar Sachen zusammenzupacken, läutet es an der Tür. Halb über die Tasche gebückt verharre ich. Es läutet noch einmal, in einem wilden Rhythmus diesmal, der fast an ein Lied erinnert. Ich strecke mich und gehe zur Tür.
Vor mir steht ein Junge, sieben oder acht Jahre vielleicht. Seine Haare stehen nach allen Seiten ab, er ist verschwitzt und voller Sommersprossen, und er schaut mich so verwirrt an, dass ich lächeln muss.
»Na, wer bist du denn?«, frage ich ihn.
»Und selber?«, kommt es zurück. Er erwartet keine Antwort.
»Wo ist Vera?«
Während ich noch »Vera?« frage, schiebt er sich an mir vorbei und stürmt in die Küche.
»Ist sie nicht da?«
Er sieht mich an und wird plötzlich misstrauisch:
»Hast du sie vertrieben?«
»Sie vertrieben?«, wiederhole ich fassungslos.
Er ignoriert mich und rennt ins Wohnzimmer. In gefühlten zwei Sekunden hat er die Wohnung durchquert. Ich hole ihn im Schlafzimmer ein, er steht vor der halb gepackten Tasche und schaut mich an.
»Sie ist krank, oder? Im Krankenhaus?«
Ich nicke und mustere ihn schweigend. Er mustert mich mit mindestens genauso viel Interesse, dann setzt er sich aufs Bett. Nach einer Weile blickt er auf.
»Du musst Bücher mitnehmen«, erklärt er mir. »Sie liest viel, das macht ihr Spaß.«
Ich nicke wieder und schweige weiter.
»Außerdem mag sie Tee. Und Kakao.«
»Kakao?«
»Ja, den trinken wir immer zusammen, wenn wir lesen.«
»Hm«, mache ich.
Er schaut in die Tasche. Ich komme mir so überflüssig vor wie schon lange nicht mehr. Dieser Junge ist mir unheimlich.
»Ich glaube, sie kann im Moment nicht lesen«, sage ich dann leise.
»Dann lies ihr vor. Das macht sie bestimmt gesund.«
»Das weiß man nicht«, antworte ich ihm.
»Vera sagt, vorlesen hilft immer. Und gegen alles!«, erklärt er mir mit wichtiger Mine.
Er hüpft vom Bett und ruft im Herausgehen:
»Grüß sie von mir! Ich warte hier auf sie.«
Dann ist er weg. Die Tür fällt ins Schloss mit dem gleichen Geräusch wie vorhin, als ich kam.
Und doch ist auf einmal alles anders.
Ich packe die Tasche fertig und gehe dann zum Bücherregal. Vorsichtig nehme ich den Gedichtband von Eva Strittmatter herunter und lasse ihn bedachtsam in die Tasche gleiten. Dann suche ich nach einem Roman, entdecke ein Kinderbuch und nehme das mit.
Im Krankenhaus finde ich einen Kaffeeautomaten, in dem es auch Kakao gibt, und hole zwei Becher.
»Einer ist für dich«, sage ich, obwohl du mich nicht hörst und ihn auch nicht trinken wirst. In der Stille des Zimmers schlürfe ich meinen Kakao. Die Überwachungsmaschine summt nur leise, im Gang klirrt es einmal. Draußen scheint die Sonne.
Dann fange ich an zu lesen: »Moritz macht am liebsten alles langsam ...«
Die Tür fällt ins Schloss mit einem kleinen Knall und ich erschrecke fast, ob der Stille, die mich umfängt. Vorsichtig stelle ich meinen Pappbecher mit Kaffee auf die Anrichte neben dem Eingang. Ich atme behutsam und lausche. Der Regulator scheint stehen geblieben zu sein, denn ich kann ihn nicht hören. Ich gebe der Tür vor mir einen Stoß, sie öffnet sich knarrend und bleibt dann halb offen stehen. Mein Blick fällt auf einen Sessel und eine Stehlampe. Im Licht, das durch die nur ein Stück geöffneten Vorhänge der Fenster fällt, tanzen Stäubchen. Ich betrete das Zimmer, bemüht, kein Geräusch zu machen.
Im Sessel liegt ein aufgeschlagenes Buch, Eva Strittmatter, »Leib und Leben«.
Ich nehme es und lese:
»Liebe
Wie furchtbar auch die Flamme war,
In der man einst zusammenbrannte,
Am Ende bleibt ein wenig Glut.
Auch uns geschieht das Altbekannte.
Dass es nicht Asche ist, die letzte Spur von Feuer,
Zeigt unser Tagwerk. Und wie teuer
Die kleine Wärme ist, hab ich erfahren
In diesem schlimmsten Jahr
Von allen meinen Jahren.
Wenn wieder so ein Winter wird
Und auf mich so ein Schnee fällt,
Rettet nur diese Wärme mich
Vom Tod. Was hält
Mich sonst? Von unserer Liebe bleibt: dass
Wir uns hatten. Kein Gras
Wird auf uns sein, kein Stein,
Solange diese Glut glimmt.
Solange Glut ist,
Kann auch Feuer sein ...«
Unschlüssig schaue ich auf das Buch in meiner Hand, dann lege ich es aufs Regal, einfach oben drauf.
»Solange Glut ist«, murmele ich.
Im Regulator gegenüber stehen die Pendel still, die Uhr zeigt kurz vor neun.
Ich durchquere den Raum und öffne die Vorhänge ganz. Es wird nicht viel heller. Wenn ich die Stirn an die Scheibe presse, sehe ich einen Teil des Innenhofes. Eine Ecke von einem Sandkasten, ein abgestelltes Fahrrad, kein Grün, die Bank, auf der ich die letzte halbe Stunde saß und auf deine Fenster starrte.
Schaudernd wende ich mich ab.
Hier hast du also gelebt, deine letzten Jahre verbracht. Allein die meiste Zeit, nur für dich. Fern von allem, was dir früher wichtig war. Aber vielleicht stimmt das auch nicht, es kann sein, dass dir diese letzten Jahre viel wichtiger waren als wir. Wir und unsere Sorgen, unsere kaputten Familien, unsere Streitereien und Sticheleien, unsere Hast nach mehr. Vielleicht waren wir dir nur eine Last, haben dir den Raum für dich selbst genommen, ein Leben verhindert, das du ganz anders erträumt hattest. Ich weiß es nicht, ich habe dich in den letzten zehn Jahren nur zwei Mal gesprochen, am Telefon.
Ich öffne die nächstgelegene Tür und stehe in der Küche. Anders als vorher ist es hier hell, die Sonne scheint durch ein blitzsauberes Fenster mit einer bunten Halbgardine. Ich gehe näher heran und erblicke junge Tiere, die über den Stoff zu springen scheinen. Ein Elefant mit Schulrucksack, eine Biene mit einem Eimerchen in einer Hand, ein Frosch mit einem Fahrrad. Wo hast du das her? Unschlüssig schaue ich mich um, aber der Rest der Einrichtung wirkt auf mich normal. Langsam gehe ich weiter. Das große Küchenbuffet ist neu gestrichen, auf der unteren Ecke der rechten Tür sitzt eine kleine Katze, sie lacht verschmitzt und ist alles andere als perfekt gemalt. Aber sie ist fröhlich.
Ich öffne die Schranktür und sehe mich einem Sammelsurium an unterschiedlichstem Geschirr gegenüber. Manches kenne ich aus meiner Kindheit, vieles nicht. Ich schließe den Schrank wieder. Die Spüle ist sauber, ein paar Kalkflecken umrahmen den Wasserhahn. Auf dem Tisch liegt eine weiße Tischdecke mit einem braunen Fleck. Deine Teetasse steht noch da, mit Untertasse. Ich starre darauf, ohne etwas zu sehen.
Im nächsten Raum steht dein großes Doppelbett. Seit Jahren schläfst du darin allein, aber es zog immer mit dir mit. Während ich überlege, wie viele Jahre seit Vaters Tod vergangen sind, gehe ich weiter. Beneidenswert, diese Treue.
Ich betrete das Bad, versuche auch hier, anhand der Utensilien zu ergründen, wer du jetzt bist. Alles wirkt fremd und doch auch vertraut. Hastig drehe ich mich um, stoße dabei an ein Röhrchen Tabletten und fange es auf, bevor es herunterfällt. Ich stelle es zurück, ohne auf das Etikett zu schauen.
Im Flur trinke ich meinen Kaffee aus. Kalt und bitter ist er inzwischen, und ich schüttele mich.
Als ich gerade dabei bin, ein paar Sachen zusammenzupacken, läutet es an der Tür. Halb über die Tasche gebückt verharre ich. Es läutet noch einmal, in einem wilden Rhythmus diesmal, der fast an ein Lied erinnert. Ich strecke mich und gehe zur Tür.
Vor mir steht ein Junge, sieben oder acht Jahre vielleicht. Seine Haare stehen nach allen Seiten ab, er ist verschwitzt und voller Sommersprossen, und er schaut mich so verwirrt an, dass ich lächeln muss.
»Na, wer bist du denn?«, frage ich ihn.
»Und selber?«, kommt es zurück. Er erwartet keine Antwort.
»Wo ist Vera?«
Während ich noch »Vera?« frage, schiebt er sich an mir vorbei und stürmt in die Küche.
»Ist sie nicht da?«
Er sieht mich an und wird plötzlich misstrauisch:
»Hast du sie vertrieben?«
»Sie vertrieben?«, wiederhole ich fassungslos.
Er ignoriert mich und rennt ins Wohnzimmer. In gefühlten zwei Sekunden hat er die Wohnung durchquert. Ich hole ihn im Schlafzimmer ein, er steht vor der halb gepackten Tasche und schaut mich an.
»Sie ist krank, oder? Im Krankenhaus?«
Ich nicke und mustere ihn schweigend. Er mustert mich mit mindestens genauso viel Interesse, dann setzt er sich aufs Bett. Nach einer Weile blickt er auf.
»Du musst Bücher mitnehmen«, erklärt er mir. »Sie liest viel, das macht ihr Spaß.«
Ich nicke wieder und schweige weiter.
»Außerdem mag sie Tee. Und Kakao.«
»Kakao?«
»Ja, den trinken wir immer zusammen, wenn wir lesen.«
»Hm«, mache ich.
Er schaut in die Tasche. Ich komme mir so überflüssig vor wie schon lange nicht mehr. Dieser Junge ist mir unheimlich.
»Ich glaube, sie kann im Moment nicht lesen«, sage ich dann leise.
»Dann lies ihr vor. Das macht sie bestimmt gesund.«
»Das weiß man nicht«, antworte ich ihm.
»Vera sagt, vorlesen hilft immer. Und gegen alles!«, erklärt er mir mit wichtiger Mine.
Er hüpft vom Bett und ruft im Herausgehen:
»Grüß sie von mir! Ich warte hier auf sie.«
Dann ist er weg. Die Tür fällt ins Schloss mit dem gleichen Geräusch wie vorhin, als ich kam.
Und doch ist auf einmal alles anders.
Ich packe die Tasche fertig und gehe dann zum Bücherregal. Vorsichtig nehme ich den Gedichtband von Eva Strittmatter herunter und lasse ihn bedachtsam in die Tasche gleiten. Dann suche ich nach einem Roman, entdecke ein Kinderbuch und nehme das mit.
Im Krankenhaus finde ich einen Kaffeeautomaten, in dem es auch Kakao gibt, und hole zwei Becher.
»Einer ist für dich«, sage ich, obwohl du mich nicht hörst und ihn auch nicht trinken wirst. In der Stille des Zimmers schlürfe ich meinen Kakao. Die Überwachungsmaschine summt nur leise, im Gang klirrt es einmal. Draußen scheint die Sonne.
Dann fange ich an zu lesen: »Moritz macht am liebsten alles langsam ...«