Mutter, Herz, Blut

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Kinski

Mitglied
Mama, let my heart go,
let your son roll,
Mama, let my heart go or
let this heart be still​


Als Mutter trägt wohl jede Frau ein großes Stück an Respekt vor dem eigenen Kind im Herzen auf ewig mit sich. Nicht nur, daß man den Nachwuchs gedeihen erlebt - es sind wohl die Lebenslinien der jungen, zarten Hand, die von Anfang an mit sich geführt wird und dessen Linien Frau von Jahr zu Jahr länger werden sieht. Sie sind wie Jahresringe einer starken Eiche. Wind und Wetter prägen sie, setzen ihr zu. Und als wäre das nicht genug, nagt noch viel Ungeziefer an der Rinde. Aber es bringt sie nicht zum Fallen. Das ist gut so. Die Natur ist hart, aber gerecht vor der eigen ausgebrachten Saat.
Doch - er stand kurz davor. Wie schon oft, eigentlich. Er drohte wieder mit Selbstmord. Wollte nicht mehr weiterleben, sich keine Sekunde mehr quälen. Vielleicht hatte er viele gute Gründe. Vielleicht waren es handfeste Beweise für die Fülle an Kettenreaktionen, die seinem Leben ein jähes Ende bereitet hätten. All die Niederlagen in der Liebe, in den Freundschaften, in der Schule, Beruf. In allen Bereichen gesellschaftlicher Freude schien er gescheitert zu sein.
Tag ein, tag aus sah sie ihn leiden. Wie er zusammengebrochen auf seinem Bett lag, ein Mensch wie eine Leiche. Wenn er keine Reaktion aufwies auf all die Fragen ihrerseits. Das Bitten und Flehen, auf das er sich wiederfangen sollte; daß es Phasen im Leben waren, die jeder erlitt. Sogar sie.
Sie schenkte ihm Kinokarten.
Er sollte sein Mädchen ausführen.
Steckte ihm Geld für ein paar Bier zu.
Sein Freundeskreis war sehr groß.
Sie überraschte ihn mit frischen Blumen auf dem Frühstückstisch.
Er liebte ihren Anblick, ihre Sorglosigkeit über alles. Als Kind wollte er immer eine Blume sein. Ein Fähnchen im Wind, liebkost von Sonne und Regen.
Manchmal bekam sie ein Lächeln zum Dank. Es trieb sie zu Tränen. So selten waren seine zaghaften Gesichtszüge von Glück erleuchtet.
Und immer sendete sie ihm Geduld, festgehalten in ein paar Zeilen, die sie in der Innentasche seiner schweren Lederjacke versteckte. Er schrieb nie zurück.
Ein Problem? Für sie nicht. Ihr war es wichtiger, daß er die Nachricht erhielt. Ein paar nette Worte mit auf dem Weg in sein tägliches Schicksal.
Was hat er doch alles angepackt, um sich seinen Traum zu erfüllen. Jeder Gedanke kreiste um ihn, wie ein Schwarm Bienen um einen Topf Zuckerwasser.
Es war warmes Wohlbefinden, was er an den Tag legte, wenn sie gemeinsam am Tisch saßen, zu Abend aßen und über das Weltgeschehen sprachen.
Seine Augen trugen einen Ausdruck, den sie so leicht nicht vergessen würde. Sie glänzten, waren ungeduldig, endlich das Ziel auszumachen.
Oft wurde die Überheblichkeit stärker. Dann fiel sie plötzlich und er schob den Teller mit Abendessen verbittert und gebrochen von sich. Dann rückte sie als Mutter näher an ihn heran, legte die warme Hand auf seinen Arm und redete ihm wie schon so oft gut zu. Versuchte die Geister und Gespinste der Ungeduld zu vertreiben.
Er verließ den Tisch getröstet und trottete in sein Zimmer, mit den Worten, er wolle jetzt einmal entspannen.
Nachts, wenn sie den letzten Gang durch die Wohnung machte, blieb sie oft lauschend an seiner Tür stehen. Große Letter zierten sie - "KEEP OUT". Bewahrte Rückstände einer jugendlichen Freude gegen das Erwachsensein.
Sie akzeptierte den pubertären Teil des Sohnes. Hatte es immer getan. Gehörte es doch im Leben eines Mannes dazu, irgendwann einen revoltierenden Freigang zu üben. Die Grenzen der Mitmenschen und Eltern zu ergründen. Schlichtweg - der normale Ausriß eines Jungen war gegeben und in Ordnung.
Was ihr als Mutter jedoch Angst machte und nächtelange Sorgen bereitete, waren ewig wiederkehrende, leise Schreie eines im Halbschlaf wälzenden Menschen, der vor einer Ewigkeit noch das Kind - das Säugling einer jungen Mutter mitten im Leben war. Ein naiver Knirps, der die Herzen seiner Umwelt eroberte; immer angenommen, nie weggestoßen oder gar zum Spielen mit sich selbst entledigt.
Welcher Teufel ritt ihn in den Stunden der Einsamkeit? Wo war er wirklich? Wohin ging er, wenn er alle Erdenschwere verlor?
Sie spürte, wie grausam ein bleibendes Baby aus ihren Armen gerissen wurde. Nichts konnte sie dagegen unternehmen. Stillschweigend verharrte sie und mußte den Lauf der Dinge hinnehmen. Sie wünschte sich, er würde sie endlich aus den Träumen reißen; ihr erklären, sie hätte sich in vielem getäuscht und ihrer Verzweiflung zu viel Vertrauen geschenkt.
Dem war nicht so. Nicht in den Momenten, in denen solche Laute ihre gute Seele langsam und bedächtig erdrückte; ihr den Raum zum Aufatmen nahm.
Schweren Schrittes schleppte sie sich zurück in das Bett. Zwang sich, zu den Schlafenden zu gesellen. Konnte nur langsam den Versuch widerstehen, die Tür aufzudrücken und den Sohn in den Arm zu nehmen. Er wäre wohl verwirrt, sogar verärgert. Er lobte seine Privatsphäre bis auf das Äußerste. Verteidigte seine Welt.
Und sie würde wohl einen weiteren Teil seines Lebens verlieren. Was sie nicht auf´s Spiel setzen wollte. Für keinen Preis des Himmels.
Und so war die Zukunft geschrieben. Viele Monate kamen und gingen wieder. Über Jahre änderte sich das Bild nur schwach und schwerfällig. Eine Zeit lang dachte sie, es hätte sich gar alles gelegt.
Er war reifer geworden und konnte somit dem Dasein - dem goldenen Leben ein Stück Vernunft abgewinnen. Den Abschluß hatte er zufrieden und erfolgreich bestanden. Aufgenommen im Klub der Beliebten, eroberte er so manch feuchtfröhliche Feier. Seine Vorstellung blühte, war auf vollem Kurs und es trog der Anschein, sie könnte für den Rest ihrer Tage von nun an in glücklicher Gelassenheit weilen.
Sie hatte ihn wieder, hatte ihn zurückgewonnen. Alles, was er ihr immer bedeutete, sein übermäßiger Wert, war keiner Sekunde gewichen, doch steigerte er sich mit jedem geschenkten Lächeln der des Sohnes Lippen. Die so voll und rot waren wie die Kirschen, die er noch als kleiner Bub im Garten Eden verputzte.

Heute steht sie vor einer großen angerosteten Gittertür, hinter der sich ein kleiner Park auftut. Zu dieser Jahreszeit voll von Grün, Schmetterlingen und Gezwitscher. Er würde ausreichend Schatten spenden, vor der anstrengenden Sonne schützen. Es ist Sommer.
Seit der letzten Nacht, die sie vor der Tür des Sohnes verbrachte, sind wohl an die 30 Jahre vergangen.
Sie ist offensichtlich älter geworden. Äußerlich wie auch innerlich. Sie hat heute schon mit Schwächen des Alters zu tun. Aber sie wehrt sich nicht. Die Jahre taten ihr Werk, der Lauf der Zeit eben und zogen nicht ohne weiteres an ihr vorbei. Da ist es heute nicht mehr möglich, sich großer Anstrengung hinzugeben. Von Tag zu Tag wird sie müder.
Ihr Blick fällt auf ein großes vom Wetter verwaschenes und von Moos angegrüntes Schild hinter dem Tor. Obwohl sie die Friedhofsordnung bereits sehr gut kennt, mag sie diese ein weiteres Mal lesen. Nie kann man sich genug mit seiner letzten Ruhestätte bekannt machen. Es wird wohl immer etwas Neues zu entdecken geben. Wobei hier doch ein reges Treiben herrscht.
Schwacher Wind zerrt an ihrem schwarzen Gewand. Der Schleier zeichnet das gefaltete, angerauhte Gesicht. Lose, graue Haare fahren umher. Lästern von Zeit zu Zeit über das laue Lüftchen. Intensiver Duft von Fichten ziehen von der Friedhofseite herüber und unterstützen den Wunsch nach inneren Frieden.
Aus der Ferne durchdringt das Schaben von Sohlen auf Schotter ihre Gedanken. Sie weiß, daß diese auf sie zugehen und näher kommen.
In Wirklichkeit ist sie unheimlich aufgeregt und nervös. Spielt mit dem Lederriemen der Handtasche; zieht die Scharniere hoch und runter. Sich zur Gelassenheit zu zwingen, will ihr nicht so recht gelingen. Immer wieder kreisen die Vorstellungen um das bevorstehende Treffen.
Es ist wohl sehr bedeutungsvoll für sie. Die positiven Strapazen necken ihren Herzschlag. Er springt. Zuckersüß.
Doch beschwört es auch alte Erinnerungen und Gefühle - lange hat sie gebraucht, mit Hilfe von Verdrängung den Müll in ihrem Herzen zu beseitigen. Die harte Arbeit, über Abschnitte des Bewußtseins hinweg zu gelangen, war mühsam, aussichtsloser als der Sonnenaufgang und sehr bewegend. Aber eröffnete er neue Lebensräume und mobilisierte neue Lebensenergie.
Sie will sich nicht noch einmal beirren lassen.
"Ich geh´, wenn es mir nicht gefällt."
Sie sprach noch in der Planung mit ihrer besten Freundin am Stammtisch über das Ereignis. Wem sonst sollte sie persönliche Dinge anvertrauen; wer sonst sollte ab und an ihren Schmerz tilgen.
Gut, vielleicht hatte sie ihr nicht alles erklärt - warum oder weshalb es zu den Umständen kam, aber sie hatte ihr trotzdem geraten:
"Ja, Maria. Mach das, wonach Du Dich fühlst. Denk an Dein Herz!"
Ja, in vielerlei Hinsicht stand das Herz an erster Stelle. An keinem Ort der Erde wurden neue Herzen ausgegeben. Es ist wohl der seltenste Schatz, den ein Mensch ein zweites Mal ohne Problem findet. Da heißt es `Acht geben´.
Und deshalb blickt sie auch nicht auf das näherkommende Pärchen, was Arm in Arm der Frau vor dem Stadtfriedhof entgegen schlendert.
Es vergehen Sekunden. Vielleicht irgendwo in ihrem Willen, eine Ewigkeit. Ein Zeitabschnitt, den sie ein letztes Mal einsam verweilen möchte.
Den Blick gesengt, folgen ihre Augen einem vorüberkrabbelnden Käfer.
"Hallo, Mutter."
Das Pärchen steht neben ihr. Es sind noch ein paar Meter Luft zwischen ihnen, aber sie kann ihre Herzschlag spüren. Denkt sie.
Sie dreht sich zu ihnen. Ihre lederne Handtasche schrapt dabei unmerklich am Gitter entlang.
"Hallo, Sohn. Guten Tag, junge Frau."
Sie streift beide Gesichter nur ganz kurz. Nagelt ihren Blick sofort an den Kirchturmspitzen im Hintergrund, bevor sie fragt:
"Ist sie die neue Frau an Deiner Seite?"
Die Frau setzt ein hoffnungsvolles Lächeln auf ihre roten Lippen. Die Augen des Sohnes weiten sich. Sie hätte seinen Stolz, sein Interesse und seine Hoffnung auf einmal erkennen können, blickte sie in direkt an. Doch hat sie es nur wahrgenommen. Genug, um zu wissen, daß es ihm wohl gut geht.
Er nickt eifrig:
"Ja, ja, richtig. Mutter, darf ich Dir vorstellen: Das ist Carmen. Wir haben uns in der Bibliothek kennengelernt, kurz nach Weihnachten."
Zum ersten Mal schaut sie dem Mädchen direkt in sein Gesicht. Fährt die Markierungen ab wie mit einem Finger auf der Landkarte - Stirn, Augen, Nase, Ohren, Wangen, Kinn und zurück.
Es gibt keinen Zweifel: sie sieht gut aus. Wirklich akzeptabel.
Das Geständnis erhellt ihre Mimik. Sie will dem jungen Ding keinen Schrecken einjagen. Als Anerkennung streckt sie ihre zittrige Hand entgegen.
"Hallo, Carmen. Schön Sie kennenzulernen. Ich bin Mark´s Mutter. Wie geht es Ihnen?"
Die Gestik wird erwidert und mit einer Antwort unterstrichen, deren sanfte Betonung nicht sanfter hätte sein können, als die eigene in den Jahren früherer Schönheit und Jugend.
"Danke, gut. Ich hoffe Ihnen ebenso. Möchten Sie uns begleiten? Wir wollen noch etwas durch den Park schlendern."
Sie blickt erwartungsvoll und doch etwas zurückhaltend in die Augen des Sohnes. Dieser löst sich vom Arm der neuen Freundin, rückt ein Stück von ihr ab und zeigt an, sie solle sich doch in der Mitte platzieren - "Wir sind eine Familie."
Zaghaft setzt sie einen Schritt nach dem anderen und bewegt sich auf die jungen Leute zu.
Als sie zwischen ihnen steht, wird ihr zum ersten Mal bewußt, daß beide sie überragen. Doch sie hakt sich ein - links und rechts.
Und sie verschwinden im Dickicht eines Waldes mit kühlen Schatten, einnehmenden Düften nach Moos, verdorrten Gräsern, Kiefern und Pinien.
Bevor sie ganz eintauchen, reißt ihr Sohn schon das Gesprächsruder hoch:
"Mutter. Bald wirst Du Großmutter."
Sie laufen weiter. Der Zukunft entgegen.
 



 
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