Mutter und Kind

Raniero

Textablader
Mutter und Kind

Herr Bademeister, kommen Sie schnell“, sprudelte die zwölfjährige Janine vor Aufregung los, „da ist gerade ein Mann reingegangen, ein Mann mit einem grauen Bart.“
„Wo ist der reingegangen, Kind?“
„Da hinten, in eine von den Mutter und Kindduschen.“
„Das gibt’s doch nicht!“

Mit energischen Schritten setzte sich Enrico Husemann, der leitende Schwimmeister des städtischen Hallenbades in Richtung Tatort in Bewegung.
Ihm folgten im Abstand Janine mit ihren Freundinnen Claudia und Sara
Als die kleine Prozession vor dem speziellen Duschbereich Halt machte, kratzte sich Enrico zuerst einmal am Ohr.
Der Mutter- und Kindduschbereich bestand aus fünf größeren Einzelduschkabinen, die unmittelbar an die weiteren Einzelduschen angrenzten. Zur besseren Unterscheidung befand sich über diesem Bereich ein großes Kunststoffschild mit der Aufschrift: Mutter und Kindduschen
Enrico erkannte von außen, dass alle fünf Duschen belegt waren, doch in welcher hielt sich gerade der Unhold, denn um einen solchen handelte es sich zweifelsfrei, auf?
Als Mann konnte Enrico doch unmöglich in die einzelnen Kabinen eindringen, ohne größeres Aufsehen zu erregen.
Was tun?
Die Kollegin herbeirufen, über Handy?
Die hatte ausgerechnet am heutigen Tag frei und wurde von einem jüngeren männlichen Mitarbeiter vertreten.
Enrico entschied sich für’s Abwarten.
Irgendwann musste er ja wieder herauskommen, der Graubärtige, und noch war aus keiner der betroffenen Kabinen etwas Ungewöhnliches zu vernehmen.
Nach und nach leerten sich vier von den fünf Duschkabinen, doch wagte es keine der davor wartenden Mütter, eine von diesen Kabinen mit ihrem Kind zu betreten; ängstlich blickten sie alle zum Bademeister hinüber.
Mittlerweile hatte sich bereits eine kleine Schar von schaulustigen Badegästen eingefunden, denen das Spektakel nicht verborgen geblieben war.
„So unternehmen Sie doch etwas!“ klang es aus der Menge.

Energischen Schrittes näherte sich Enrico der besetzten Kabine, als diese plötzlich von innen geöffnet wurde und ein bärtiger Mann in einem altmodischen Badegewand heraustrat.
Die Überraschung war groß, beim Bademeister wie auch bei den Umstehenden, nicht nur über das besondere Outfit des ‚Unholdes’, sondern vor allem über dessen Alter.
Der Mann befand sich nicht nur auf der Schwelle zum Greisenalter, sondern hatte diese schon erheblich überschritten, es fehlten wohl nur wenige Jahre bis zu seinem hundertsten Erdenjubiläum.
Enrico, der den Mann mit scharfen Worten zur Rede stellen wollte, war völlig perplex und brachte nur heraus: „Entschuldigen Sie bitte, haben Sie sich vielleicht in der Tür geirrt? Das hier sind Mutterundkindduschen.“
Der Alte ließ sich davon nicht beirren.
„Das ist mir nicht verborgen geblieben, junger Mann“ antwortete er mit piepsiger Stimme, jedoch in bestimmtem Tonfall, „das steht ja hier draußen drauf.“
Enrico wusste nicht, was er davon halten sollte.
„Ja, wenn Sie das wissen, warum sind Sie denn in diese Kabine gegangen, Sie sind doch keine Mutter.“
„Das weiß ich ebenfalls, junger Mann, dass ich keine Mutter bin, aber ein Vater.“
„Wie bitte?“
„Ich bin ein Vater! Alleinerziehend!“
„Wie bitte? Ich verstehe nicht recht…“
„Nun, junger Mann, das ist doch nicht schwer zu verstehen, dass ich ein Vater bin. Was allerdings nicht zu verstehen ist; sagen Sie mal, woher nehmen Sie eigentlich das Recht, diese Duschkabinen Mutterundkindduschen zu nennen? Wissen Sie nicht, wie viele allein erziehende Väter es gibt, in diesem Lande? Und was glauben Sie, soll so ein armer Teufel von Vater davon halten, wenn er mit seinem Kind vor so einer Dusche steht?“

Der Bademeister wechselte die Gesichtsfarbe.
Er wusste nicht, wie er reagieren sollte.
Den Mann einfach rausschmeißen, das verbot sich allein bei seinem biblischen Alter, einen Arzt rufen, vielleicht, einen ganz speziellen?
Aus der Menge wurden Stimmen laut, vornehmlich männliche.
„Wo er recht hat, hat er recht.“
„Warum ist denn nicht schon jemand eher da drauf gekommen?“
„Dem Mann gebührt ein Orden.“

Enrico wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Auch er fand nun, dass da etwas dran war, an den Argumenten des Alten, doch bisher hatte sich noch niemand über das Schild Mutterundkindduschen gestört, kein einziger männlicher Besucher.
Fand hier etwa gerade die Emanzipation des Mannes statt, und er, Enrico, mitten drin?
„Nun ja, da haben Sie vielleicht nicht Unrecht“ antwortete er zögernd, „von dieser Warte aus habe ich das noch gar nicht betrachtet. Vielleicht sind wir damit“ zeigte er auf das umstrittene Schild, „nicht mehr ganz zeitgemäß.“
„Nicht mehr ganz zeitgemäß“ höhnte der Alte, während viele der Umstehenden laut loslachten, „vollkommen anachronistisch ist das, was Sie hier machen!“

Nun wurde es dem armen Bademeister aber zu bunt.
Er musste sich schließlich nicht auch noch auf den Arm nehmen lassen, nicht in ‚seinem’ Schwimmbad.
„Na, hören Sie mal“ rief er, „Sie mögen ja vielleicht Recht haben, mit Ihren Einwänden, aber, auf der anderen Seite, sagen Sie mal, was machen Sie denn da in der Kabine, so ganz allein, und dann in Ihrem Alter? Haben Sie denn gar kein kein Schamgefühl“
Im gleichen Moment öffnete sich erneut die Tür zur Kabine; heraustrat eine Frau Mitte sechzig, auch sie nicht gerade nach der neusten Bademode gewandet.
Beherzt nahm sie den Alten beim Arm.
„Können wir, Papa?“

Unter den Augen der staunenden Menge bewegten sich Vater und Tochter auf die neuste Attraktion des Bades, eine Riesenrutsche, zu.

Bereits drei Tage später prangte ein neues Kunststoffschild mit der Bezeichnung Kleinfamilienduschen über dem ehemaligen Mutter- und Kindduschbereich und die lokale Presse witzelte:
Manchmal bedarf es ungewöhnlicher Methoden, um Veränderungen durchzusetzen
 



 
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