Nachdenken empfohlen ...

Lukrezia

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Von der Wurzel, die ein Zweig sein wollte

Es war einmal ein Baum, der auf einer Weide wuchs. Rundherum war nur Gras und das wurde von den Kühen gefressen, die der Bauer dort weiden ließ. Der Baum war also allein dort, aber das machte ihm wenig aus, denn er bekam im Frühling sein Laub, das bis zum Herbst bei ihm blieb und das ganze Jahr hatte er seine Wurzeln im Boden, die Zweige, durch die der Wind strich und die Vögel, Käfer und Schmetterlinge, die ihn besuchten.

War das ein Getuschel und Gemurmel unter der Erde: Die Wurzeln schickten Botschaften durch den Stamm bis hin zu den Ästen und Zweigen und diese berichteten von den Vögeln, vom Sturm, der Sonne, den Kühen und manchmal auch von Menschen, die über die Weide gingen.

Bei all dem Gebrumme und Getratsche waren die Wurzeln sehr brav und bewegten sich nur langsam im Erdboden, denn der Baum mahnte sie immer davor, dass durch das Getobe die Erde gelockert würde und plötzlich der Baumstamm umfallen würde und das wäre das Ende für alle. Alle Wurzeln beherzigten das – bis auf eine. Diese kringelte sich hier und schlängelte sich dort, immer auf der Suche nach Neuigkeiten von der Oberfläche. Sehnsüchtig lauschte die kleine Wurzel den Erzählungen und Abenteuern der Äste, Zweige und Blätter. Besonders die Geschichten aus der Baumkrone machten sie ganz kribbelig und hibbelig.

Sie futterte die Nährstoffe aus dem Boden und trank das Regenwasser, das durch die Erdschichten tröpfelte und wollte so lang und stark werden, dass sie durch die Oberfläche stoßen konnte, aber die anderen Wurzeln hielten sie fest, wo sie konnten und ermahnten sie unermüdlich. Immer wieder schickten sie Beschwerden durch den Stamm und der Baum begann in seinem Herzen, sich für diese renitente kleine Wurzel zu interessieren. Er sandte ihr viele persönliche Nachrichten und erinnerte sie daran, dass sie eine Wurzel sei und an der Oberfläche nichts verloren habe.

Aber je mehr sie ermahnt und gerügt wurde, desto mehr wünschte sie die Wurzel ein Zweig zu sein. Sie quengelte und nörgelte, sie seufzte und stöhnte, sie rollte sich auf und ab und raufte mit den anderen Wurzeln und brachte so viel Unordnung ins Wurzelwerk, dass das Baumherz sehr besorgt wurde. Eine Weile dachte der Laubbaum nach und schließlich entschied er, der Wurzel zu erlauben, am Stamm entlang zu den Zweigen zu reisen und bei ihnen zu leben. Diese besondere Botschaft bekam die wilde Wurzel gegen Ende des Sommers und sie war gleich so aufgeregt, dass sie sofort begann sich dicht am Stamm hoch zu schlängeln. Ungehindert durchbrach sie die Erdkruste und ließ die erschrockenen und erstaunten Wurzeln hinter sich.

Langsam, ganz langsam wuchs die kleine, graue Wurzel am Stamm hoch, der sie von Zeit zu Zeit mit einem Stückchen Rinde überwucherte, damit sie nicht herunter fiel. Sie bekam aus dem Wurzelwerk Nährstoffe und Wasser mit und strengte sich sehr an schnell zu wachsen. Sie wollte die Sonne, die Vögel, den Wind, die Menschen und alles, alles zu sehen. Was war das herrlich im Licht zu sein und den Wind zu spüren, die Vögel singen zu hören und die Kühe über die Weide ziehen zu sehen. Als es zum ersten Mal Nacht wurde, schrie die Wurzel ärgerlich auf, weil sie dachte, sie wäre wieder unter die Erde gezogen worden, aber die Zweige schimpften sie einen Dämlack. Das wäre doch nur die Nacht und auf die folgte ein neuer Tag mit Licht, Regen, Wind und Vogelgeschrei und so weiter und so weiter. Erst glaubte die misstrauische Wurzel kein Wort, aber dann sah sie den nächsten Morgen und gewöhnte sich an den Wechsel von Tag und Nacht.

Schließlich hatte die kleine Wurzel mit letzter Kraft die Zweige in der Kronenmitte erreicht. „Na, bist du jetzt zufrieden?“ fragte das Baumherz. „Oh, es ist so schön!“ sagte die Wurzel atemlos. „Und, wie fühlst du dich?“ fragte das Baumherz. „Ich fühle mich erschöpft, aber es hat sich gelohnt! Wieso fragst du so viel“, antwortete die Wurzel ungehalten, denn sie wollte ihre neue Umgebung in sich aufsaugen und sich bestimmt nicht unterhalten. „Ach, nur so!“ meinte das Baumherz traurig, denn es hatte etwas Dank erwartet für die Erlaubnis, zu den Zweigen ziehen zu dürfen und dafür, dass der Stamm die kleine Wurzel beschützt hatte.

Aber die Wurzel fühlte sich im Recht und dachte keine Sekunde daran sich zu bedanken.

„Ich möchte dich noch warnen,“ sagte der Baum. „Du kennst die Vögel noch nicht. Sie krallen sich mit ihren Füßen in deine Haut, wenn sie sich auf dich setzen. Ganz schlimm sind aber die Menschen, die plötzlich Zweige abreißen.“ – „Jaja,“ sagte die Wurzel, „ ich weiß schon.“ Und sie hörte nicht mehr zu.

Es wurde Frühling und die Zweige an den Ästen bekamen grüne Punkte, die langsam größer und knospig wurden und schließlich Blätter herausspringen ließen. Das Blätterwerk wurde immer dichter und grüner und für die Wurzel wurde die Sicht immer schlechter. „Heh,“ rief sie unwillig, „ könnt ihr mit eurem Grünzeug nicht mal weggehen?! Ich seh‘ nichts mehr!“ Die Blätter waren empört und raunten: „ Wir sind nur so kurz da und werden gleich von so einem kahlen, faden Fremdling beschimpft!“ Und die Zweige mokierten sich und höhnten: „Was willst du eigentlich? Du hast ja gar kein Laub. Du taugst nicht als Zweig und Wurzel wolltest du auch nicht sein. Wer bist du eigentlich, dass du hier so herum posaunst?!“

Die Wurzel ignorierte die Worte zunächst so gut sie konnte, aber irgendwann begann sie darüber nach zu denken. Es stimmte: Sie lag mit dem Körper zwar dicht und sicher am Stamm, festgehalten von der Baumrinde und ihre Spitze bewegte sich leicht im Wind, aber kein einziges Blatt wollte an ihrem grauen, dünnen Körper sprießen. „Ach“, jammerte sie, „ich will auch Blätter haben.“ Sie jammerte und klagte, aber das Baumherz konnte ihr diesmal nicht helfen und erst recht keinen Trost geben: Sie war eine Wurzel, die unter Zweigen lebte, aber sie blieb eine Wurzel.

Mit der Zeit wurde die Wurzel immer grauer und fader. Die anderen Wurzeln im Erdboden waren es nämlich Leid, ihr Nährstoffe und Wasser zu besorgen und die kleine Wurzel wurde immer hungriger und durstiger. „Gebt mir zu essen und zu trinken“, rief sie. Sie konnte sich an der Schönheit der Welt über der Erde gar nicht mehr freuen. Sie knurrte und knarrte im Wind. Ihre Biegsamkeit ging verloren und sie wurde starr und schrumpelig.

„Schau mal, was für ein merkwürdiger Zweig!“ sagte ein Mädchen zu einem Jungen. Sie lagen unter dem Baum in der Spätsommersonne und picknickten. „Alle Zweige haben grüne oder gelbe Blätter und der dort ist schon ganz kahl“. „Du hast recht,“ antwortete der Junge, „ er schlängelt sich hier am Stamm runter und verschwindet im Boden!“

„Das stimmt nicht!“ rief die Wurzel empört, „ es ist genau anders herum. Ich wachse zum Licht, sonst nichts.“ Aber die beiden Menschen hörten sie nicht, vielleicht weil die Stimme der Wurzel schon ganz dünn geworden war.
„Vielleicht sollte ich ihn abbrechen und mitnehmen, als Kuriosität!“ meinte der Junge. „Oh nein,“ sagte das Mädchen schnell, „ mach lieber ein Foto, das erinnert uns dann immer an diesen Nachmittag hier unter dem Baum!“ „Na gut“, sagte der Junge, „machen wir ein Bild. Lehn‘ dich mal an den Stamm – neben den komischen Zweig!“ Und die Wurzel war wahnsinnig stolz, als der Junge mit einem deutlichen KLICK ein Foto machte.

Später packten die beiden Menschen ihre Sachen und gingen fort. Das Mädchen lief voraus. „Vielleicht komm ich bald wieder, Baum“, sagte der Junge leise, „ und hol‘ mir den merkwürdigen Zweig doch.“ „Oh je“, dachte die Wurzel besorgt. Das Baumherz seufzte und sagte nichts.

Die Wochen vergingen und der Wurzel ging es immer schlechter. Sie hatte aufgehört zu jammern und dafür begonnen, heftig die Wurzeln und Zweige zu beschimpfen. Dann hatte sie sich auf das Flehen und Betteln verlegt, aber nichts half. Das Baumherz hatte zwar angeboten, dass der Stamm seine Klammern lösen sollte und die Wurzel in die Erde zurück kehren könnte, aber die Wurzel wollte nicht.

„Ich kann auf das Licht, die Luft und was ich sehe, rieche und fühle nicht verzichten. Lieber sterbe ich!“

„Ich kann die Wurzeln nicht zwingen, dich zu versorgen, sie haben genug zu tun, für mich, für die Zweige und Äste in der Krone, für den Stamm und die Früchte zu sorgen. Wenn du wieder unter die Erde ziehst, kannst du dir wieder selbst zu Essen und Trinken suchen!“

Aber die kleine Wurzel klagte nur: Ich will! und war für keine Rat zugänglich.
Da sagte das Baumherz schließlich: „Wurzel, du hast dich entschieden, zwischen den Zweigen zu leben, ohne jemals die Aufgaben eines Zweiges zu erfüllen. Du kannst keine Blätter, die mir Schatten und Kraft geben, tragen und auch keine Früchte, die, wenn sie herunter fallen, im Boden meine neuen Kinder hervorbringen. Deine Aufgabe ist es, Wasser und Nährstoffe aus der Erde aufzunehmen und wie die anderen Wurzeln für uns alle zu sorgen. Deine Haut ist nicht geschaffen für Licht, Luft und Hitze und die Berührung durch Tiere und Menschen.“
Die Wurzel hörte zwar zu, aber sie hörte nicht auf zu stöhnen und zu seufzen.

Da fuhr das Baumherz fort: „Alle anderen und ich haben dir geholfen, wo sie nur konnten, deinen Herzenswunsch zu erfüllen und das zu sehen und zu erleben, was sonst nur Stamm, Äste, Zweige und Blätter sehen. Wir haben uns alle sehr bemüht, aber uns sind Grenzen gesetzt. Und was uns alle zutiefst betrübt ist, dass du keine Dank dafür empfindest und alles für dich selbstverständlich ist.“
Da verstummte die Wurzel und wurde noch ein wenig schrumpeliger und grauer als zuvor. „Es tut mir leid“, flüsterte die Wurzel, „ich handele sehr eigensüchtig. Ich wollte alles hier oben sehen, aber ich wurde blind für alles andere. Ich habe meinen Willen gegen jede Vernunft durchsetzen wollen. Es tut mir leid!“

Da sagte das Baumherz milde: „Es ist schon gut. Wir alle nehmen deine Entschuldigung an und würden uns freuen, wenn du zurück kehren würdest an deinen Platz. Dort, wo du das tun kannst, wozu du geschaffen bist!“

Da wisperte die Wurzel mit letzter Kraft: „Ich danke euch vielmals, aber ich kann nicht. Ich muss hier oben bleiben, ich brauche den Wind, die Wärme, den Wechsel von Tag und Nacht. Und sollte ein Mensch kommen um mich abzureißen, dann soll es eben so sein. Ja, ich bleibe hier, selbst wenn ich dafür sterben müsste.“ Das Baumherz schwieg, die Wurzeln und die Äste wurden stumm und selbst der Wind, der ungestüm in den Zweigen gerüttelt und die Blätter geschüttelt hatte, so dass sie abfielen, legte sich und dachte über die Wurzel und ihre Qual nach.

Da sagte das Baumherz: „Wurzel, was wünschst du dir jetzt?“ Und die Wurzel flüsterte: „Dass der Mensch kommt, der neulich hier war, mich abreißt, mitnimmt und mit mir macht, was er will. Ich erwarte nicht anderes mehr vom Leben!“
„Und wenn er dich schließlich zerbricht und ins Feuer wirft?“ fragte das Baumherz erschaudernd.
„Dann habe ich mehr gesehen und erlebt, als ich jemals zu träumen gewagt hätte,“ hauchte die Wurzel matt. Und die Wurzeln rüttelten sich und die Zweige in der Baumkrone schüttelten sich und warfen die letzten Blätter ab, und das Baumherz zog sich zusammen und bereitete sich auf den Winter vor.

Bald – in den letzten Nachmittagsstrahlen der späten Herbstsonne kam der Junge wieder. Er schlenderte pfeifend heran, in der Hand ein scharfes Messer. Prüfend schaute er den Baum hinauf, verfolgte den Lauf der kleinen Wurzel aus dem Boden und begann, sie mit der Rinde herauszuschneiden. Das Baumherz zuckte vor Schmerz zusammen. „Endlich!“ hauchte die kleine Wurzel matt.
 



 
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