Nachtfahrt
Ich stehe an der roten Ampel. Der Motor singt seinen schmelzenden Leerlaufbariton. Ich habe vor dem Tunnel noch mal Stoff gegeben, aber für diese Ampel hier hat es nicht mehr gereicht. Hinter mir der Tunnel mit seinen fünf Spuren.
Ich fahre einen BMW, ein altes Sechser Coupé. Ein Sechszylinder, 3.5 Liter Hubraum. Sechs Zylinder. Schwarze Lederausstattung, Sportfahrwerk, Fünfganggetriebe, M-Lederlenkrad und Schiebedach. Nachtblau. Kein H-Kennzeichen. Ich zahle für meine Sünden.
Ich schaue auf die Uhr. Gleich müsste das Signal auf Grün umspringen. Und tatsächlich: im Rückspiegel sehe ich, wie sich eine Flut von Autos in den Tunnel ergießt, über alle fünf Spuren. Durch ihre eingeschalteten Scheinwerfer rollt dort eine Welle von Licht an, der Klang ihrer wetzenden Motoren dringt zu mir. Einige Fahrer lassen ihrem Geschwindigkeitsrausch freie Bahn, und dann bricht die Welle wie an einer Brandung. Meine Ampel zeigt nun ebenfalls Grün. Ich lege den Gang ein und fahre los. Raus hier, weg aus dieser Stadt. Die Autobahn ist mein erstes Ziel. Ich habe den Großteil der Schikanenstrecke aus der City bereits hinter mir. Der Sechser bellt auf, als ich kurzfristig das Gas durchtrete. Ich brauche das; dieses Auto kann nicht zu lange an der Leine gehalten werden. Durch die schlanken Nieren, seine runden Doppelscheinwerfer und der spitz zulaufenden Haube sieht es aus wie ein Hai, ein großer, blauer Hai, und wenn ich ihn nicht gut behandle, dann zerfetzt er mich.
Dieses Auto hat kein ESP und keine Airbags, kein Sperrdifferenzial, keine elektromechanische Parkbremse, und kein Xenonlicht. Ich verabscheue Xenonlicht. Dieses blaue Plastikfunkeln nimmt der nächtlichen Reise jede Nähe, jede Intimität.
Stattdessen hat der Wagen ein Kassettendeck, und während ich ihn über die Standspur auf die Autobahn lenke, lege ich ein Band ein.
Jeder Fahrlehrer sagt dir, du solltest beim Autofahren keine Musik hören. Lenkt ab, hieß es. Doch eigentlich, und zu dieser Ansicht kam ich schon früh, hilft es. Es gibt dir einen Takt vor, an dem du dich orientieren kannst. Stop and Go, Vorfahrt gewähren, Spurwechsel, Bremsen, Abbiegen, Blinken, Parken, Stop and Go, Vorfahrt. Alles zerläuft zu einem konfusen Brei, du wirst gehetzt, rastlos. Ohne Orientierung und Takt bist du aufgeschmissen.
Das einzige Mal, als ich keine Musik hörte, baute ich einen Unfall. Ich hatte meine Kassette verloren, und fuhr ohne Rhythmus. Prompt verlor ich die Orientierung. Dann war ich gehetzt, und dann krachte es. Als ich wieder zu mir kam, schwor ich mir, nie wieder ohne Musik zu fahren. Es brauchte dennoch lange, bis ich wieder fahren konnte.
Autobahn bei Nacht. Die Autobahn ist am Tag ein Gewusel und Gewimmer, ein Orchestergraben von überdrehten Motoren gepeitschter Kleinwägen und hupenden Männern mit Midlifecrisis in ihren SUVs und wie achtzylindrige Schwänze auf der Straße liegenden Sportwägen.
Autobahn bei Nacht hingegen, das folgt einem Rhythmus. Der Himmel ist dunkel, und um dich herum nur Lichtpunkte. Du kannst dich voll auf dich und deinen Wagen konzentrieren.
Mit der richtigen Musik ist es eine zenähnliche Erfahrung.
Ich schalte früh, drehe die Gänge nicht ganz ruhig. Noch passt der Takt nicht. Der nachtblaue Hai schwimmt mit. Er weiß, dass ich ihn jederzeit auf die Jagd schicken kann, und es auch werde, wenn die Zeit reif ist.
Es hat eine Weile gebraucht, bis der Hai und ich uns verstanden. Irgendwas war da, was uns anzog, aber die ersten Monate waren ein Kampf. Wer war stärker? Wer war wilder, brutaler? In den ersten Monaten benutzte ich den Hai als meine Trophäe, und er war wütend auf mich. Das hatte er nicht verdient, und darum versuchte er, mich bei jeder Gelegenheit abzuschütteln, mir die Finger abzureißen. Und ich wurde wütend auf den Hai, und schlug und bestrafte ihn erst recht. Ließ ihn schmerzhaft aufjaulen. Aber dann, eines Nachts, da fanden wir unseren Rhythmus. Plötzlich machte es Klick, und der Hai und ich ergänzten uns. Seitdem schwimmen wir zusammen in eine Richtung. Ich streiche langsam mit meinen Fingerkuppen an dem Volant, und das Auto antwortet mit einem tiefen Dröhnen.
Ich wechsle auf die linke Spur. Vor mir fährt ein Japaner mit einem Ofenrohr als Endtopf, und ich will ihn überholen.
Also wechsele ich auf die linke Spur, aber was macht der Japaner da? Er wechselt ebenfalls auf die linke Spur. Und bremst. Ich lenke wieder auf die mittlere der Spuren, aber wiederum macht das Auto vor mir einen Schlenker.
Der Hai riecht Blut. Gierig schnaubt der Motor. Soll ich oder soll ich nicht?
Ich könnte hupen. Aber das Hupen würde mich noch mehr aus dem Takt bringen als dieser Kerl vor mir. Das behaarte, zähnebleckende Tier vor mir will wohl mein Auto zu seiner Trophäe machen. Sein riesiger Heckspoiler wird mir provokant Kusshände zu. Was für ein widerlicher Spoiler, denke ich.
Der Hai wird unruhig. Tu etwas!, ruft er mich. Ich bin ein Raubtier. Lass mich reißen!
Dieses Auto hat zur Zeit seiner Produktion eines der Porschetopmodelle Staub schlucken lassen. Mir stehen 340 Newtonmeter Drehmoment zu Verfügung, bei 4500 Umdrehungen pro Minute.
Ich lasse also den Hai von der Leine und schalte zurück. Die Zylinder trompeten unter der majestätischen Motorhaube. 286 PS lassen die Reifen sich in die Straße krallen und schießen mich nach vorne, links an der Ratte vorbei. Ehe er die Verfolgung aufnehmen kann, bin ich schon weit, weit entfernt und kann mich wieder auf die Straße konzentrieren, die sich in dem Licht vor mir ausbreitet. Am Horizont zeichnen sich Berge ab, und da wollen wir hin. Nur der Hai, der Rhythmus und ich.
We don't like you
We just wanna try you.
We just wanna try you.
Ich stehe an der roten Ampel. Der Motor singt seinen schmelzenden Leerlaufbariton. Ich habe vor dem Tunnel noch mal Stoff gegeben, aber für diese Ampel hier hat es nicht mehr gereicht. Hinter mir der Tunnel mit seinen fünf Spuren.
Ich fahre einen BMW, ein altes Sechser Coupé. Ein Sechszylinder, 3.5 Liter Hubraum. Sechs Zylinder. Schwarze Lederausstattung, Sportfahrwerk, Fünfganggetriebe, M-Lederlenkrad und Schiebedach. Nachtblau. Kein H-Kennzeichen. Ich zahle für meine Sünden.
Ich schaue auf die Uhr. Gleich müsste das Signal auf Grün umspringen. Und tatsächlich: im Rückspiegel sehe ich, wie sich eine Flut von Autos in den Tunnel ergießt, über alle fünf Spuren. Durch ihre eingeschalteten Scheinwerfer rollt dort eine Welle von Licht an, der Klang ihrer wetzenden Motoren dringt zu mir. Einige Fahrer lassen ihrem Geschwindigkeitsrausch freie Bahn, und dann bricht die Welle wie an einer Brandung. Meine Ampel zeigt nun ebenfalls Grün. Ich lege den Gang ein und fahre los. Raus hier, weg aus dieser Stadt. Die Autobahn ist mein erstes Ziel. Ich habe den Großteil der Schikanenstrecke aus der City bereits hinter mir. Der Sechser bellt auf, als ich kurzfristig das Gas durchtrete. Ich brauche das; dieses Auto kann nicht zu lange an der Leine gehalten werden. Durch die schlanken Nieren, seine runden Doppelscheinwerfer und der spitz zulaufenden Haube sieht es aus wie ein Hai, ein großer, blauer Hai, und wenn ich ihn nicht gut behandle, dann zerfetzt er mich.
Dieses Auto hat kein ESP und keine Airbags, kein Sperrdifferenzial, keine elektromechanische Parkbremse, und kein Xenonlicht. Ich verabscheue Xenonlicht. Dieses blaue Plastikfunkeln nimmt der nächtlichen Reise jede Nähe, jede Intimität.
Stattdessen hat der Wagen ein Kassettendeck, und während ich ihn über die Standspur auf die Autobahn lenke, lege ich ein Band ein.
Jeder Fahrlehrer sagt dir, du solltest beim Autofahren keine Musik hören. Lenkt ab, hieß es. Doch eigentlich, und zu dieser Ansicht kam ich schon früh, hilft es. Es gibt dir einen Takt vor, an dem du dich orientieren kannst. Stop and Go, Vorfahrt gewähren, Spurwechsel, Bremsen, Abbiegen, Blinken, Parken, Stop and Go, Vorfahrt. Alles zerläuft zu einem konfusen Brei, du wirst gehetzt, rastlos. Ohne Orientierung und Takt bist du aufgeschmissen.
Das einzige Mal, als ich keine Musik hörte, baute ich einen Unfall. Ich hatte meine Kassette verloren, und fuhr ohne Rhythmus. Prompt verlor ich die Orientierung. Dann war ich gehetzt, und dann krachte es. Als ich wieder zu mir kam, schwor ich mir, nie wieder ohne Musik zu fahren. Es brauchte dennoch lange, bis ich wieder fahren konnte.
Autobahn bei Nacht. Die Autobahn ist am Tag ein Gewusel und Gewimmer, ein Orchestergraben von überdrehten Motoren gepeitschter Kleinwägen und hupenden Männern mit Midlifecrisis in ihren SUVs und wie achtzylindrige Schwänze auf der Straße liegenden Sportwägen.
Autobahn bei Nacht hingegen, das folgt einem Rhythmus. Der Himmel ist dunkel, und um dich herum nur Lichtpunkte. Du kannst dich voll auf dich und deinen Wagen konzentrieren.
Mit der richtigen Musik ist es eine zenähnliche Erfahrung.
Ich schalte früh, drehe die Gänge nicht ganz ruhig. Noch passt der Takt nicht. Der nachtblaue Hai schwimmt mit. Er weiß, dass ich ihn jederzeit auf die Jagd schicken kann, und es auch werde, wenn die Zeit reif ist.
Es hat eine Weile gebraucht, bis der Hai und ich uns verstanden. Irgendwas war da, was uns anzog, aber die ersten Monate waren ein Kampf. Wer war stärker? Wer war wilder, brutaler? In den ersten Monaten benutzte ich den Hai als meine Trophäe, und er war wütend auf mich. Das hatte er nicht verdient, und darum versuchte er, mich bei jeder Gelegenheit abzuschütteln, mir die Finger abzureißen. Und ich wurde wütend auf den Hai, und schlug und bestrafte ihn erst recht. Ließ ihn schmerzhaft aufjaulen. Aber dann, eines Nachts, da fanden wir unseren Rhythmus. Plötzlich machte es Klick, und der Hai und ich ergänzten uns. Seitdem schwimmen wir zusammen in eine Richtung. Ich streiche langsam mit meinen Fingerkuppen an dem Volant, und das Auto antwortet mit einem tiefen Dröhnen.
Ich wechsle auf die linke Spur. Vor mir fährt ein Japaner mit einem Ofenrohr als Endtopf, und ich will ihn überholen.
Also wechsele ich auf die linke Spur, aber was macht der Japaner da? Er wechselt ebenfalls auf die linke Spur. Und bremst. Ich lenke wieder auf die mittlere der Spuren, aber wiederum macht das Auto vor mir einen Schlenker.
Der Hai riecht Blut. Gierig schnaubt der Motor. Soll ich oder soll ich nicht?
Ich könnte hupen. Aber das Hupen würde mich noch mehr aus dem Takt bringen als dieser Kerl vor mir. Das behaarte, zähnebleckende Tier vor mir will wohl mein Auto zu seiner Trophäe machen. Sein riesiger Heckspoiler wird mir provokant Kusshände zu. Was für ein widerlicher Spoiler, denke ich.
Der Hai wird unruhig. Tu etwas!, ruft er mich. Ich bin ein Raubtier. Lass mich reißen!
Dieses Auto hat zur Zeit seiner Produktion eines der Porschetopmodelle Staub schlucken lassen. Mir stehen 340 Newtonmeter Drehmoment zu Verfügung, bei 4500 Umdrehungen pro Minute.
Ich lasse also den Hai von der Leine und schalte zurück. Die Zylinder trompeten unter der majestätischen Motorhaube. 286 PS lassen die Reifen sich in die Straße krallen und schießen mich nach vorne, links an der Ratte vorbei. Ehe er die Verfolgung aufnehmen kann, bin ich schon weit, weit entfernt und kann mich wieder auf die Straße konzentrieren, die sich in dem Licht vor mir ausbreitet. Am Horizont zeichnen sich Berge ab, und da wollen wir hin. Nur der Hai, der Rhythmus und ich.