Nachtschattengewächse

brain

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Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich selbst der aufgeklärteste Geist nicht auszumalen vermag. Dinge, die gerne ungesehen bleiben und die man nur zu Gesicht bekommt, wenn der Schleier der Wirklichkeit zerreißt und das Leben in Fetzen hängt.
Dinge, die sich durch die Zeit stehlen um Rechnungen zu begleichen.
Das Haus am Ende der Fetherton Ave ist auf einem solchen Riss erbaut worden. Dort kann man die Schwere der Schatten spüren, die sich des Nachts über die Räume legen wie wucherndes Unkraut. Man kann spüren, wie die Zeit sich durch den Staub der Jahrtausende kämpft und mit jeder Sekunde an Boden verliert. Und man spürt die Kälte, die aus sämtlichen Poren des Mauerwerks zu dringen scheint und einem in die Knochen sickert, wie ein kriechender Virus, gegen den es keine Heilung gibt. Doch das sind nur die oberflächlichen Merkmale der negativen Aura dieses Ortes. Das unterschwellig Wahrnehmbare ist es, das dafür sorgt, dass die Hoffnung der dort verweilenden Menschen in Verzweiflung umschlägt und aus Liebe Hass werden lässt. Schimmelartig wuchert es im Fundament des Hauses, durchdringt das Mauerwerk und lässt die wenigen noch unversehrten Fenster erblinden, wie Spiegel, in die niemand hinein sieht. Und so überdauert es Äonen, nistet sich ein im Blut seiner Bewohner und wächst heran zu einem Welten vernichtenden Gefühl der Hilflosigkeit, das selbst den stärksten Mann in die Knie zwingt und alles Leben abtötet.

Der Mann hatte es eilig, keine Frage. Seine wehenden Mantelschöße und das an seinem Ohr klebende Mobiltelefon hätten selbst den stärksten Zweifler davon überzeugt.
Er riss die Tür des Taxis auf, warf sich auf den Sitz und knallte die Tür wieder zu.
Der Fahrer hatte gerade noch Zeit, die makellos gescheitelte Frisur, die im Solarium gebräunten Wangen, den unsagbar teuren Kamelhaarmantel und die sündhaft wichtig aussehende Aktentasche zu registrieren, als ihm das Fahrziel entgegengebellt wurde.
„Fetherton Ave, aber zackig.“
„Allsklar, Sör.“
Standardansage, Standardantwort. Kein nettes Wort, wie „Bitte“ oder „Hallo“, solche Dinge beanspruchten nur unnötig Zeit, und Zeit war bekanntlich knapp und teuer, sondern nur das auf das Nötigste beschränkte Vokabular eines Telegramms.
Der Fahrer war daran gewöhnt.
An manchen Tagen nahm er diese Stimmung mit nach Hause, gab sie weiter an seine Frau, die sie an den Kindern ausließ, die wiederum in ihrer Schule für Aufruhr sorgten und deren Ruf als sozialem Brennpunkt gerecht wurden, doch von solchen Dingen hatte er keine Ahnung. Es hätte ihn auch nicht sonderlich interessiert. Für ihn war das Leben eine pragmatische, berechenbare Sache. Typen wie Mr. Kamelhaarmantel waren die Arschgeigen der Welt, die den Ton angaben, und er war einer der Milliarden Tänzer, die zu diesem Ton tanzten, aber zackig, allsklar, Sör. Doch nichts desto trotz empfand er sich und den Rest der Proletariermasse als das Salz der Erde, als den Treibstoff der globalen Maschinerie.
„Feines Wetterchen“, versuchte er es noch einmal. Ein Knurren vom Rücksitz war die Antwort. Er hörte das Gefiepe einer sich selbst wählenden Kurzwahlnummer und kurz darauf den typischen Wortsalat schwer beschäftigter Geschäftsleute.
„Ja … Nein … bisher noch nicht, aber … Sie kennen Zwickls Ansichten zu diesem … Genau … Ja … Mister Hillis bat explizit darum … Ja … aber nur weil … Ja … seh ich auch so … Ja … Wenn er tatsächlich existiert, dann … Ja … Nein … aber Sie wissen ja, wie ich darüber … Ja … Nein … zumindest deutet Vieles darauf … also dann … ich melde mich, wenn ich vor … genau … vor Ort … Exakt!“
Standardansagen, Standardantworten, vor dem Spiegel auswendig gelernt, zusammen mit dem professionell überkronten Gewinnergrinsen der Oberschicht, darauf konnte der Fahrer wetten. Eine Visage, die hervorragend zu einer goldgeprägten Visitenkarte passte.
Vielleicht ein Börsenheini, oder der Ableger eines Immobilienhais. Diese Art der Konversation konnte nur funktionieren, wenn man entweder eine tief greifende Art einer gemeinsamen Semantik vorweisen konnte, oder ohnehin keine Ahnung hatte, worüber man gerade sprach. Der Fahrer tippte auf Letzteres. Seine Krawatte hatte etwas Eiskaltes, das immer gut kam bei Verhandlungen, in denen es um die Jahrseinkünfte anderer Leute ging.
„Drückense drauf, Mann! Will heut noch ankommen.“
Der Fahrer erhöhte das Tempo ein wenig und blickte kurz in den Rückspiegel.
„Wo wollnsen da hin, inner Fetherton.“
„Was?“
„Welche Nummer?“
Mr. Kamelhaarmantel starrte irritiert nach vorne, so als wäre er sich gerade erst über die Tatsache bewusst geworden, dass er sich in einem Taxi befand. Dann gewann sein Blick seine arrogante Note wieder und er spuckte die Nummer gen Windschutzscheibe.
„Zwölf, aber zackig!“

Als ich noch ein Kind war erzählte man sich viele Geschichten über dieses Haus. Es sei ein Tor, sagte man sich, ein Durchgang zu einer anderen Welt. Es gab sogar Leute, die behaupteten, der Teufel selbst habe es erbaut, doch je abstruser und unheimlicher die Andeutungen und Gerüchte wurden, desto weniger ließen wir uns von ihnen beeindrucken. Kinder hören nicht gerne auf Erwachsene, das war denke ich schon immer so, doch wenn man wie ich das erste Mal in seinem Leben bemerkt, dass es doch etwas gibt, wovor der unerschütterliche Vater Angst bekommt, dann wird man neugierig. Und sicher wissen Sie auch, was man über den Tod der Katze sagt. Doch das alles sind nur Anekdoten. Der Schatten, der seit nunmehr vier Jahrzehnten auf meiner Seele liegt und nicht aufhören will zu wachsen, seit er in mir Wurzeln schlug, will ans Licht, auch wenn es unser beider Untergang bedeuten sollte. Er ist stärker als ich. Er zwingt mich, mir fremd zu sein und er genießt es.
Die Neugier, die letztlich die Katze um die Ecke brachte, war stärker als unsere Furcht. Gott gebe mir Kraft, es war so, und noch heute verfluche ich meinen Vater dafür, dass er diese Neugier durch seine Angst schürte und nicht imstande war, mich und meine Freunde davon abzuhalten, den größten Fehler unseres Lebens zu begehen.

„Sinn da, Sör“, nölte der Fahrer ungehalten. „Macht Neun Fuffzich, glatt.“
Mr. Kamelhaarmantel klappte ließ sich seinen Wortsalat schmecken, leckte sich die letzten Buchstaben von den Lippen und klappte sein Handy zu.
Dieses Mal war sein Blick mehr als nur irritiert. In diesem Blick spiegelte sich die unverfälschte Verwirrung eines langjährigen Spielers, der gerade sein Pokerface verloren hatte.
„Was in drei Teufels Namen…“, doch weiter kam er nicht, denn nun war es der Fahrer, der es eilig hatte.
„Neun fuffzig, bidde“, wiederholte er seine Forderung und unterstrich diese mit seiner unmissverständlich dargebotenen Handfläche, die er ungeduldig in den Fahrgastraum streckte. Geistesabwesend drückte ihm Mr. Kamelhaarmantel einen Zehner in die Hand und murmelte seine Standardansage für derlei Gelegenheiten, ohne wirklich darauf zu achten, was er eigentlich sagte.
„Behaltensen Rest.“
Dabei ließ er das Haus, das nur aus Winkeln, Schatten und erdrückender Monumentalität zu bestehen schien, keine Sekunde aus den Augen, so als könnte es sich in ein bissiges Etwas verwandeln, wenn er es nur wagte zu blinzeln. Für einen Moment vergaß er sogar zu atmen, doch schlafwandlerisch fand sein Handy den Weg in seine Manteltasche, noch bevor er wieder dazu fähig war seine Lungen mit Sauerstoff zu füllen.
Der Fahrer grinste unverhohlen. Es amüsierte ihn die gelackte, durchgestylte Oberfläche seines Fahrgastes als das zu erkennen, was sie war: eine Maske, unter deren seriösem Anstrich ganz und gar menschliche Verwundbarkeit steckte.
„Allsklar, Sör?“
Dieses Mal meinte er es als Frage.
„Wie? … Oh … Ja … klar, aber … was zum Geier … sinnwer hier richtig?“
„Klaro! Fetherton Ave Nummero Zwölf, wiese gesacht hamm. Wieso? Stimmt was nich?“
Mr. Kamelhaarmantel schüttelte den Kopf, was in diesem Fall jedoch nicht als Verneinung gedacht war, sondern eher seine Ratlosigkeit zum Ausdruck bringen sollte.
„Wenn ich das wüsste!“
Das Gebäude sah aus, als sei es mit knapper Not dem Fegefeuer entkommen. Man konnte die schwelende Glut benahe auf der Zunge schmecken, wenn man es ansah.
„Was wollnsen da überhaupt?“
Mr. Kamelhaarmantel ging nicht weiter auf die Frage ein, sondern raffte seine sündhaft wichtig aussehende Aktentasche an sich, stieß die Tür auf, hechtete mit einem sportlichen Satz ins Freie und knallte die Tür mit einer nebensächlichen und eleganten Bewegung wieder zu, die seinem gigantischen Ego entsprach. Auftritt und Abgang schienen jedenfalls bestens einstudiert worden zu sein.
Achselzuckend setzte der Fahrer sein Vehikel in Bewegung und verließ die Fetherton Ave. Als er sich wieder in den zähfließenden Verkehr einfädelte, schien es ihm so, als wäre die Temperatur um mindestens 3 oder 4 Grad gestiegen, doch da er, wie bereits erwähnt, ein pragmatisch denkender Mensch war, schob er diesen Umstand auf einen Defekt seiner mickrigen Klimaanlage. Dass er soeben den Radius eines Weltenrisses verlassen hatte und er sich erst jetzt wieder in der ihm vertrauten Dimension vorhersehbarer Gesetzmäßigkeiten befand, wäre ihm nicht einmal dann in den Sinn gekommen, wenn man es ihm gesagt hätte.
Und während sich seine Gedanken wieder um Taxameterstände, Benzinpreise und das Salz der Erde drehte, betrat der Mann mit der makellos gescheitelten Frisur und dem unsagbar teuren Kamelhaarmantel das Haus am Ende der Fetherton Ave.

Wir waren zu viert, als wir uns in das verfluchte Haus hineinwagten, um die nörgelnde Stimme unserer Neugier ein für alle Mal zum Schweigen zu bringen. Zitternd wie Espenlaub erklommen wir die Eingangsstufen, aneinander geklammert wie siamesische Geschwister, die keine Schere der Welt jemals hätte trennen können. Erfolglos versuchten wir uns einzureden, dass es nicht Angst war, was wir empfanden, sondern die erwartungsvolle Erregung von Forschern, die kurz davor waren die Pyramide eines unbekannten Pharaos zu betreten.
In das Haus zu gelangen erwies sich als relativ einfach. Irgendwann musste jemand das Schloss der Eingangstür aufgebrochen haben und niemand hatte sich die Mühe gemacht, es wieder zu reparieren. Im Inneren des Hauses war es unnatürlich kalt. Staub bedeckte den Boden, der Staub einsamer Dekaden, durchbrochen von der willkürlich gezackten Spur eines flüchtenden Tieres. Der Spur nach zu urteilen, muss es sich um eine Katze gehandelt haben. Ich kann nicht genau sagen, warum wir den verwischten Tatzenabdrücken folgten, aber ich glaube, es hat etwas damit zu tun, dass sie das einzige Anzeichen von Leben in einem Wust aus Verfall zu sein schienen. Ich weiß nicht mehr genau, wer den Reim anstimmte, den wir alle übernahmen, doch das Singen half uns ein wenig, die Furcht tiefer in uns zu vergraben, um sie später herauszulassen. Mit zittrigen Stimmen sangen wir uns Mut zu, fassten uns bei den Händen und betraten das Herz der Finsternis.

Dunkelheit umfing den Mann mit dem Kamelhaarmantel, eine Dunkelheit die aus Staub und Erinnerungen gemacht zu sein schien und ihn unter ihrer Last zu zerquetschen drohte.
Es dauerte einen Moment, bis seine Augen sich an sie gewöhnten, doch mit jedem Moment wurden die Umrisse der Eingangshalle immer schärfer und gewannen an Substanz, als ob eine innere, finstere Aura sie erhellen würde. Ihm kam der Gedanke, dass etwas Unsägliches in diesen Mauern gewütet haben musste. Soweit er im Zwielicht der blinden Fenster und dem umherwirbelnden Staub erkennen konnte gab es kein Möbelstück, kein Bild und keine Wandverkleidung, die nicht zerstört worden waren. Zerbrochenes Glas bedeckte den Boden und die Überreste der Möbel lagen in der Eingangshalle verteilt, wie die Zahnstocher eines Riesen.
Ein Satz, den er einmal gehört hatte, kam ihm in den Sinn und ließ ihn nicht mehr los.
„Und das Wort wurde Fleisch und lebte unter uns“. Irgendetwas Substantielles, eine physische Kraft, hatte aus diesem Ort der Ruhe und des Friedens, ein Schlachtfeld gemacht, auf dem die niedergemetzelten Jahre wie Leichen herumlagen und dunkle Früchte trugen. Und sollte dieses Etwas noch hier sein, dachte er sich, dann würde er sich hüten, es beim Namen zu nennen.
Unkraut wucherte aus jeder Ecke und jedem Loch, presste sich durch die Wände und den hölzernen Boden, wie Klauen, die blind ins Nichts griffen. Bittersüß hing der Geruch ihrer Blüten in der Luft und sättigte sie, sodass es dem Mann kaum möglich war zu atmen.
Er seufzte tief. So schwer hatte er es sich nicht vorgestellt.
Vorsichtig legte er seinen Aktenkoffer vor sich auf einen unversehrten Teil des Parketts, schloss ihn auf und entnahm ihm einen funkelnden Gegenstand, den er wie einen Kameraständer auseinanderklappte und aufstellte, wobei er darauf achtete, dass der kleine LCD-Bildschirm sich nicht in den Streben des Ständers verhakte. Er drückte einen Knopf an der Oberseite und der funkelnde Gegenstand sprang surrend an. Kleine, in die Spitze eingelassene Leuchtdioden blitzten auf, während der zylindrische Kopf, in dem sie saßen, anfing zu rotieren und gleißend rote Linien durch den Raum sandte. Die Prozedur des Ausmessens war schnell erledigt. Die Analyse der ermittelten Daten dagegen erwies sich als schwierig.
Sobald er die Ergebnisse auf dem LCD-Bildschirm ablesen konnte, griff er abermals kopfschüttelnd in seine Manteltasche und drückte auf Wahlwiederholung. Das Geräusch einer sich selbst wählenden Kurzwahlnummer hallte durch die zerfetzten Flure und Korridore des Hauses und wurde als Echo wieder zurück geworfen.
„Hallo Herr … Ja … bin da, aber … Nein … also … es ist alles so … Ja … Ich denke, wir haben Luca gefunden … ja … die Ergebnisse sind … also … Gut … ich werde sofort“, doch dieser kleine Wortsalat blieb ihm im Halse stecken, als er ein Geräusch hinter dem Echo seiner Stimme hörte, von dem er kaum glaubte, von dem er wusste, dass es seiner Einbildung entsprungen war.
Kinderstimmen. Vor ihm, dort, wo die Treppe begann und ihre morschen, löchrigen Stufen in den ersten Stock hinauf führten, hörte er das näselnde und monotone Geräusch von Kinderstimmen, ein Singsang, wie man ihn beim Seilspringen oder Kästchenhüpfen vernehmen konnte. Er dachte unwillkürlich an Freddy Krüger, dessen Erscheinen in den Filmen ja ebenfalls von einem solchen Gesang angekündigt wurde. Und je verbissener er sich darauf konzentrierte, der Melodie Worte abzugewinnen, stahl sich eine bitterkalte Schwere in seine Knochen, die sich mit dem Geruch des wuchernden Nachtschattens verband und ihn zu ersticken drohte.
„Hallo? Sind Sie noch da?“
Das Handy! Er hatte es ganz vergessen.
„Oh ja … ich …“, doch die Worte in seinem Kopf verloren sich in den Windungen seines Fleisches. Widerstrebend machte er ein paar Schritte auf die große Treppe zu, als der Gesang plötzlich verstummte und die Finsternis im Raum zu einem Schleier wurde, der sich zwischen ihn und die Welt schob und aus den gezackten Löchern ringsumher geifernde Fressmäuler machte, die ihn hungrig verschlangen.

Ich weiß nicht, wie ich hinausgelangt bin, und auch nicht, warum meine Freunde in den Mauern des verfluchten Hauses blieben oder was sie dort gehalten hat. Ich erinnere mich daran, dass ein Geräusch uns aufgeschreckt hat, ein fiepsendes Geräusch, das ich heute, nach vierzig Jahren, als die sich selbst wählende Kurzwahlnummer eines modernen Handys erkenn, obwohl diese Apparate damals noch gar nicht erfunden waren.
Es tut weh, über das alles nachzudenken. Ich fühle mich schmutzig dabei, als würde ich einen Korb blutiger Wäsche durchwühlen, auf der Suche nach dem Geruch meiner Geliebten. Es fühlt sich so an, als wäre mein Leben damals schon zu Ende gegangen, ohne, dass ich es bemerkt habe, wie man einer Pflanze das Wasser und die Sonne nimmt und sie müde ihre Wurzeln in die Erde schlägt, um irgendwann einzusehen, dass die Evolution schneller war als jeder Libido. So als hätte sich mein Dasein in ein ununterbrochenes Verschanzen verwandelt, unmerklich, sodass es mir erst bewusst wurde, als ich musste.
Wie gesagt: es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich selbst der aufgeklärteste Geist nicht auszumalen vermag. Dinge, die sich vor dem Licht verstecken und einen schon wahnsinnig machen, wenn man nur an sie denkt.
Heute Morgen habe ich eines dieser Dinger gefunden.
Es hängt über meinem Stuhl, träge wie ein toter Fisch und blau wie arktisches Eis. Ich schwöre bei Gott und allem, was mir noch heilig ist, es noch nie zuvor gesehen zu haben, doch ich erkenne es am Geruch. Bittersüß und schwer, klebrig und doch lockend, wie etwas, das nur in Finsternis gedeihen kann, in den Schatten der Nacht und in den dunkelsten Abgründen und Erinnerungen in uns. Es riecht wie das schwelende Feuer der Vorhölle.
Jetzt erst weiß ich, dass ich niemals mehr im Licht der Welt existieren kann, denn ich bin kein Mensch mehr. Was auch immer damals in dem Haus am Ende der Fetherton Ave wirklich geschehen ist, warum auch immer ich der schleichenden Finsternis mit ihren geöffneten Rachen und geifernden Schlünden entkommen konnte, weiß ich doch eines mit Gewissheit: meine Seele ist noch immer in diesem Haus und so wurde zu etwas anderem. Zu einem Schatten für den der Garten Eden keine Zuflucht bietet. Ich bin eine Pflanze in einem dunkleren Garten und es wird Zeit, zu meinem Ursprung zurückzukehren.
Lebt wohl!
Verzeiht mir!

„Wie konnte das passieren?“
„Ich weiß nicht … ich ... in all meinen Jahren als Pfleger ist mir das noch nie …“
„Kommen Sie mir ja nicht mit Ausreden! Sie waren dafür verantwortlich, dass diesem Mann nichts zustößt! Sie waren für sein Leben verantwortlich!“
„Aber glauben Sie mir doch, ich …“
„Interessiert mich nicht! Aber ich habe zwei Fragen und ich hoffe für Sie, dass Sie gute Antworten haben! Erstens: Warum hat er sich erhängt?“
„Ich…“
„Und zweitens: Woher zum Teufel hatte er die Krawatte?“
 

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Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich selbst der aufgeklärteste Geist nicht auszumalen vermag. Dinge, die gerne ungesehen bleiben und die man nur zu Gesicht bekommt, wenn der Schleier der Wirklichkeit zerreißt und das Leben in Fetzen hängt.
Dinge, die sich durch die Zeit stehlen um Rechnungen zu begleichen.
Das Haus am Ende der Fetherton Ave ist auf einem solchen Riss erbaut worden. Dort kann man die Schwere der Schatten spüren, die sich des Nachts über die Räume legen wie wucherndes Unkraut. Man kann spüren, wie die Zeit sich durch den Staub der Jahrtausende kämpft und mit jeder Sekunde an Boden verliert. Und man spürt die Kälte, die aus sämtlichen Poren des Mauerwerks zu dringen scheint und einem in die Knochen sickert, wie ein kriechender Virus, gegen den es keine Heilung gibt. Doch das sind nur die oberflächlichen Merkmale der negativen Aura dieses Ortes. Das unterschwellig Wahrnehmbare ist es, das dafür sorgt, dass die Hoffnung der dort verweilenden Menschen in Verzweiflung umschlägt und aus Liebe Hass werden lässt. Schimmelartig wuchert es im Fundament des Hauses, durchdringt das Mauerwerk und lässt die wenigen noch unversehrten Fenster erblinden, wie Spiegel, in die niemand hinein sieht. Und so überdauert es Äonen, nistet sich ein im Blut seiner Bewohner und wächst heran zu einem Welten vernichtenden Gefühl der Hilflosigkeit, das selbst den stärksten Mann in die Knie zwingt und alles Leben abtötet.

Der Mann hatte es eilig, keine Frage. Seine wehenden Mantelschöße und das an seinem Ohr klebende Mobiltelefon hätten selbst den stärksten Zweifler davon überzeugt.
Er riss die Tür des Taxis auf, warf sich auf den Sitz und knallte die Tür wieder zu.
Der Fahrer hatte gerade noch Zeit, die makellos gescheitelte Frisur, die im Solarium gebräunten Wangen, den unsagbar teuren Kamelhaarmantel und die sündhaft wichtig aussehende Aktentasche zu registrieren, als ihm das Fahrziel entgegengebellt wurde.
„Fetherton Ave, aber zackig.“
„Allsklar, Sör.“
Standardansage, Standardantwort. Kein nettes Wort, wie „Bitte“ oder „Hallo“, solche Dinge beanspruchten nur unnötig Zeit, und Zeit war bekanntlich knapp und teuer, sondern nur das auf das Nötigste beschränkte Vokabular eines Telegramms.
Der Fahrer war daran gewöhnt.
An manchen Tagen nahm er diese Stimmung mit nach Hause, gab sie weiter an seine Frau, die sie an den Kindern ausließ, die wiederum in ihrer Schule für Aufruhr sorgten und deren Ruf als sozialem Brennpunkt gerecht wurden, doch von solchen Dingen hatte er keine Ahnung. Es hätte ihn auch nicht sonderlich interessiert. Für ihn war das Leben eine pragmatische, berechenbare Sache. Typen wie Mr. Kamelhaarmantel waren die Arschgeigen der Welt, die den Ton angaben, und er war einer der Milliarden Tänzer, die zu diesem Ton tanzten, aber zackig, allsklar, Sör. Doch nichts desto trotz empfand er sich und den Rest der Proletariermasse als das Salz der Erde, als den Treibstoff der globalen Maschinerie.
„Feines Wetterchen“, versuchte er es noch einmal. Ein Knurren vom Rücksitz war die Antwort. Er hörte das Gefiepe einer sich selbst wählenden Kurzwahlnummer und kurz darauf den typischen Wortsalat schwer beschäftigter Geschäftsleute.
„Ja … Nein … bisher noch nicht, aber … Sie kennen Zwickls Ansichten zu diesem … Genau … Ja … Mister Hillis bat explizit darum … Ja … aber nur weil … Ja … seh ich auch so … Ja … Wenn er tatsächlich existiert, dann … Ja … Nein … aber Sie wissen ja, wie ich darüber … Ja … Nein … zumindest deutet Vieles darauf … also dann … ich melde mich, wenn ich vor … genau … vor Ort … Exakt!“
Standardansagen, Standardantworten, vor dem Spiegel auswendig gelernt, zusammen mit dem professionell überkronten Gewinnergrinsen der Oberschicht, darauf konnte der Fahrer wetten. Eine Visage, die hervorragend zu einer goldgeprägten Visitenkarte passte.
Vielleicht ein Börsenheini, oder der Ableger eines Immobilienhais. Diese Art der Konversation konnte nur funktionieren, wenn man entweder eine tief greifende Art einer gemeinsamen Semantik vorweisen konnte, oder ohnehin keine Ahnung hatte, worüber man gerade sprach. Der Fahrer tippte auf Letzteres. Seine Krawatte hatte etwas Eiskaltes, das immer gut kam bei Verhandlungen, in denen es um die Jahrseinkünfte anderer Leute ging.
„Drückense drauf, Mann! Will heut noch ankommen.“
Der Fahrer erhöhte das Tempo ein wenig und blickte kurz in den Rückspiegel.
„Wo wollnsen da hin, inner Fetherton.“
„Was?“
„Welche Nummer?“
Mr. Kamelhaarmantel starrte irritiert nach vorne, so als wäre er sich gerade erst über die Tatsache bewusst geworden, dass er sich in einem Taxi befand. Dann gewann sein Blick seine arrogante Note wieder und er spuckte die Nummer gen Windschutzscheibe.
„Zwölf, aber zackig!“

Als ich noch ein Kind war erzählte man sich viele Geschichten über dieses Haus. Es sei ein Tor, sagte man sich, ein Durchgang zu einer anderen Welt. Es gab sogar Leute, die behaupteten, der Teufel selbst habe es erbaut, doch je abstruser und unheimlicher die Andeutungen und Gerüchte wurden, desto weniger ließen wir uns von ihnen beeindrucken. Kinder hören nicht gerne auf Erwachsene, das war denke ich schon immer so, doch wenn man wie ich das erste Mal in seinem Leben bemerkt, dass es doch etwas gibt, wovor der unerschütterliche Vater Angst bekommt, dann wird man neugierig. Und sicher wissen Sie auch, was man über den Tod der Katze sagt. Doch das alles sind nur Anekdoten. Der Schatten, der seit nunmehr vier Jahrzehnten auf meiner Seele liegt und nicht aufhören will zu wachsen, seit er in mir Wurzeln schlug, will ans Licht, auch wenn es unser beider Untergang bedeuten sollte. Er ist stärker als ich. Er zwingt mich, mir fremd zu sein und er genießt es.
Die Neugier, die letztlich die Katze um die Ecke brachte, war stärker als unsere Furcht. Gott gebe mir Kraft, es war so, und noch heute verfluche ich meinen Vater dafür, dass er diese Neugier durch seine Angst schürte und nicht imstande war, mich und meine Freunde davon abzuhalten, den größten Fehler unseres Lebens zu begehen.

„Sinn da, Sör“, nölte der Fahrer ungehalten. „Macht Neun Fuffzich, glatt.“
Mr. Kamelhaarmantel ließ sich seinen Wortsalat schmecken, leckte sich die letzten Buchstaben von den Lippen und klappte sein Handy zu.
Dieses Mal war sein Blick mehr als nur irritiert. In diesem Blick spiegelte sich die unverfälschte Verwirrung eines langjährigen Spielers, der gerade sein Pokerface verloren hatte.
„Was in drei Teufels Namen…“, doch weiter kam er nicht, denn nun war es der Fahrer, der es eilig hatte.
„Neun fuffzig, bidde“, wiederholte er seine Forderung und unterstrich diese mit seiner unmissverständlich dargebotenen Handfläche, die er ungeduldig in den Fahrgastraum streckte. Geistesabwesend drückte ihm Mr. Kamelhaarmantel einen Zehner in die Hand und murmelte seine Standardansage für derlei Gelegenheiten, ohne wirklich darauf zu achten, was er eigentlich sagte.
„Behaltensen Rest.“
Dabei ließ er das Haus, das nur aus Winkeln, Schatten und erdrückender Monumentalität zu bestehen schien, keine Sekunde aus den Augen, so als könnte es sich in ein bissiges Etwas verwandeln, wenn er es nur wagte zu blinzeln. Für einen Moment vergaß er sogar zu atmen, doch schlafwandlerisch fand sein Handy den Weg in seine Manteltasche, noch bevor er wieder dazu fähig war seine Lungen mit Sauerstoff zu füllen.
Der Fahrer grinste unverhohlen. Es amüsierte ihn die gelackte, durchgestylte Oberfläche seines Fahrgastes als das zu erkennen, was sie war: eine Maske, unter derem seriösen Anstrich ganz und gar menschliche Verwundbarkeit steckte.
„Allsklar, Sör?“
Dieses Mal meinte er es als Frage.
„Wie? … Oh … Ja … klar, aber … was zum Geier … sinnwer hier richtig?“
„Klaro! Fetherton Ave Nummero Zwölf, wiese gesacht hamm. Wieso? Stimmt was nich?“
Mr. Kamelhaarmantel schüttelte den Kopf, was in diesem Fall jedoch nicht als Verneinung gedacht war, sondern eher seine Ratlosigkeit zum Ausdruck bringen sollte.
„Wenn ich das wüsste!“
Das Gebäude sah aus, als sei es mit knapper Not dem Fegefeuer entkommen. Man konnte die schwelende Glut benahe auf der Zunge schmecken, wenn man es ansah.
„Was wollnsen da überhaupt?“
Mr. Kamelhaarmantel ging nicht weiter auf die Frage ein, sondern raffte seine sündhaft wichtig aussehende Aktentasche an sich, stieß die Tür auf, hechtete mit einem sportlichen Satz ins Freie und knallte die Tür mit einer nebensächlichen und eleganten Bewegung wieder zu, die seinem gigantischen Ego entsprach. Auftritt und Abgang schienen jedenfalls bestens einstudiert worden zu sein.
Achselzuckend setzte der Fahrer sein Vehikel in Bewegung und verließ die Fetherton Ave. Als er sich wieder in den zähfließenden Verkehr einfädelte, schien es ihm so, als wäre die Temperatur um mindestens 3 oder 4 Grad gestiegen, doch da er, wie bereits erwähnt, ein pragmatisch denkender Mensch war, schob er diesen Umstand auf einen Defekt seiner mickrigen Klimaanlage. Dass er soeben den Radius eines Weltenrisses verlassen hatte und er sich erst jetzt wieder in der ihm vertrauten Dimension vorhersehbarer Gesetzmäßigkeiten befand, wäre ihm nicht einmal dann in den Sinn gekommen, wenn man es ihm gesagt hätte.
Und während sich seine Gedanken wieder um Taxameterstände, Benzinpreise und das Salz der Erde drehte, betrat der Mann mit der makellos gescheitelten Frisur und dem unsagbar teuren Kamelhaarmantel das Haus am Ende der Fetherton Ave.

Wir waren zu viert, als wir uns in das verfluchte Haus hineinwagten, um die nörgelnde Stimme unserer Neugier ein für alle Mal zum Schweigen zu bringen. Zitternd wie Espenlaub erklommen wir die Eingangsstufen, aneinander geklammert wie siamesische Geschwister, die keine Schere der Welt jemals hätte trennen können. Erfolglos versuchten wir uns einzureden, dass es nicht Angst war, was wir empfanden, sondern die erwartungsvolle Erregung von Forschern, die kurz davor waren die Pyramide eines unbekannten Pharaos zu betreten.
In das Haus zu gelangen erwies sich als relativ einfach. Irgendwann musste jemand das Schloss der Eingangstür aufgebrochen haben und niemand hatte sich die Mühe gemacht, es wieder zu reparieren. Im Inneren des Hauses war es unnatürlich kalt. Staub bedeckte den Boden, der Staub einsamer Dekaden, durchbrochen von der willkürlich gezackten Spur eines flüchtenden Tieres. Der Spur nach zu urteilen, muss es sich um eine Katze gehandelt haben. Ich kann nicht genau sagen, warum wir den verwischten Tatzenabdrücken folgten, aber ich glaube, es hat etwas damit zu tun, dass sie das einzige Anzeichen von Leben in einem Wust aus Verfall zu sein schienen. Ich weiß nicht mehr genau, wer den Reim anstimmte, den wir alle übernahmen, doch das Singen half uns ein wenig, die Furcht tiefer in uns zu vergraben, um sie später herauszulassen. Mit zittrigen Stimmen sangen wir uns Mut zu, fassten uns bei den Händen und betraten das Herz der Finsternis.

Dunkelheit umfing den Mann mit dem Kamelhaarmantel, eine Dunkelheit die aus Staub und Erinnerungen gemacht zu sein schien und ihn unter ihrer Last zu zerquetschen drohte.
Es dauerte einen Moment, bis seine Augen sich an sie gewöhnten, doch mit jedem Moment wurden die Umrisse der Eingangshalle immer schärfer und gewannen an Substanz, als ob eine innere, finstere Aura sie erhellen würde. Ihm kam der Gedanke, dass etwas Unsägliches in diesen Mauern gewütet haben musste. Soweit er im Zwielicht der blinden Fenster und dem umherwirbelnden Staub erkennen konnte gab es kein Möbelstück, kein Bild und keine Wandverkleidung, die nicht zerstört worden waren. Zerbrochenes Glas bedeckte den Boden und die Überreste der Möbel lagen in der Eingangshalle verteilt, wie die Zahnstocher eines Riesen.
Ein Satz, den er einmal gehört hatte, kam ihm in den Sinn und ließ ihn nicht mehr los.
„Und das Wort wurde Fleisch und lebte unter uns“. Irgendetwas Substantielles, eine physische Kraft, hatte aus diesem Ort der Ruhe und des Friedens, ein Schlachtfeld gemacht, auf dem die niedergemetzelten Jahre wie Leichen herumlagen und dunkle Früchte trugen. Und sollte dieses Etwas noch hier sein, dachte er sich, dann würde er sich hüten, es beim Namen zu nennen.
Unkraut wucherte aus jeder Ecke und jedem Loch, presste sich durch die Wände und den hölzernen Boden, wie Klauen, die blind ins Nichts griffen. Bittersüß hing der Geruch ihrer Blüten in der Luft und sättigte sie, sodass es dem Mann kaum möglich war zu atmen.
Er seufzte tief. So schwer hatte er es sich nicht vorgestellt.
Vorsichtig legte er seinen Aktenkoffer vor sich auf einen unversehrten Teil des Parketts, schloss ihn auf und entnahm ihm einen funkelnden Gegenstand, den er wie einen Kameraständer auseinanderklappte und aufstellte, wobei er darauf achtete, dass der kleine LCD-Bildschirm sich nicht in den Streben des Ständers verhakte. Er drückte einen Knopf an der Oberseite und der funkelnde Gegenstand sprang surrend an. Kleine, in die Spitze eingelassene Leuchtdioden blitzten auf, während der zylindrische Kopf, in dem sie saßen, anfing zu rotieren und gleißend rote Linien durch den Raum sandte. Die Prozedur des Ausmessens war schnell erledigt. Die Analyse der ermittelten Daten dagegen erwies sich als schwierig.
Sobald er die Ergebnisse auf dem LCD-Bildschirm ablesen konnte, griff er abermals kopfschüttelnd in seine Manteltasche und drückte auf Wahlwiederholung. Das Geräusch einer sich selbst wählenden Kurzwahlnummer hallte durch die zerfetzten Flure und Korridore des Hauses und wurde als Echo wieder zurück geworfen.
„Hallo Herr … Ja … bin da, aber … Nein … also … es ist alles so … Ja … Ich denke, wir haben Luca gefunden … ja … die Ergebnisse sind … also … Gut … ich werde sofort“, doch dieser kleine Wortsalat blieb ihm im Halse stecken, als er ein Geräusch hinter dem Echo seiner Stimme hörte, von dem er kaum glaubte, von dem er wusste, dass es seiner Einbildung entsprungen war.
Kinderstimmen. Vor ihm, dort, wo die Treppe begann und ihre morschen, löchrigen Stufen in den ersten Stock hinauf führten, hörte er das näselnde und monotone Geräusch von Kinderstimmen, ein Singsang, wie man ihn beim Seilspringen oder Kästchenhüpfen vernehmen konnte. Er dachte unwillkürlich an Freddy Krüger, dessen Erscheinen in den Filmen ja ebenfalls von einem solchen Gesang angekündigt wurde. Und je verbissener er sich darauf konzentrierte, der Melodie Worte abzugewinnen, stahl sich eine bitterkalte Schwere in seine Knochen, die sich mit dem Geruch des wuchernden Nachtschattens verband und ihn zu ersticken drohte.
„Hallo? Sind Sie noch da?“
Das Handy! Er hatte es ganz vergessen.
„Oh ja … ich …“, doch die Worte in seinem Kopf verloren sich in den Windungen seines Fleisches. Widerstrebend machte er ein paar Schritte auf die große Treppe zu, als der Gesang plötzlich verstummte und die Finsternis im Raum zu einem Schleier wurde, der sich zwischen ihn und die Welt schob und aus den gezackten Löchern ringsumher geifernde Fressmäuler machte, die ihn hungrig verschlangen.

Ich weiß nicht, wie ich hinausgelangt bin, und auch nicht, warum meine Freunde in den Mauern des verfluchten Hauses blieben oder was sie dort gehalten hat. Ich erinnere mich daran, dass ein Geräusch uns aufgeschreckt hat, ein fiepsendes Geräusch, das ich heute, nach vierzig Jahren, als die sich selbst wählende Kurzwahlnummer eines modernen Handys erkenn, obwohl diese Apparate damals noch gar nicht erfunden waren.
Es tut weh, über das alles nachzudenken. Ich fühle mich schmutzig dabei, als würde ich einen Korb blutiger Wäsche durchwühlen, auf der Suche nach dem Geruch meiner Geliebten. Es fühlt sich so an, als wäre mein Leben damals schon zu Ende gegangen, ohne, dass ich es bemerkt habe, wie man einer Pflanze das Wasser und die Sonne nimmt und sie müde ihre Wurzeln in die Erde schlägt, um irgendwann einzusehen, dass die Evolution schneller war als jeder Libido. So als hätte sich mein Dasein in ein ununterbrochenes Verschanzen verwandelt, unmerklich, sodass es mir erst bewusst wurde, als ich musste.
Wie gesagt: es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich selbst der aufgeklärteste Geist nicht auszumalen vermag. Dinge, die sich vor dem Licht verstecken und einen schon wahnsinnig machen, wenn man nur an sie denkt.
Heute Morgen habe ich eines dieser Dinger gefunden.
Es hängt über meinem Stuhl, träge wie ein toter Fisch und blau wie arktisches Eis. Ich schwöre bei Gott und allem, was mir noch heilig ist, es noch nie zuvor gesehen zu haben, doch ich erkenne es am Geruch. Bittersüß und schwer, klebrig und doch lockend, wie etwas, das nur in Finsternis gedeihen kann, in den Schatten der Nacht und in den dunkelsten Abgründen und Erinnerungen in uns. Es riecht wie das schwelende Feuer der Vorhölle.
Jetzt erst weiß ich, dass ich niemals mehr im Licht der Welt existieren kann, denn ich bin kein Mensch mehr. Was auch immer damals in dem Haus am Ende der Fetherton Ave wirklich geschehen ist, warum auch immer ich der schleichenden Finsternis mit ihren geöffneten Rachen und geifernden Schlünden entkommen konnte, weiß ich doch eines mit Gewissheit: meine Seele ist noch immer in diesem Haus und so wurde zu etwas anderem. Zu einem Schatten für den der Garten Eden keine Zuflucht bietet. Ich bin eine Pflanze in einem dunkleren Garten und es wird Zeit, zu meinem Ursprung zurückzukehren.
Lebt wohl!
Verzeiht mir!

„Wie konnte das passieren?“
„Ich weiß nicht … ich ... in all meinen Jahren als Pfleger ist mir das noch nie …“
„Kommen Sie mir ja nicht mit Ausreden! Sie waren dafür verantwortlich, dass diesem Mann nichts zustößt! Sie waren für sein Leben verantwortlich!“
„Aber glauben Sie mir doch, ich …“
„Interessiert mich nicht! Aber ich habe zwei Fragen und ich hoffe für Sie, dass Sie gute Antworten haben! Erstens: Warum hat er sich erhängt?“
„Ich…“
„Und zweitens: Woher zum Teufel hatte er die Krawatte?“
 

dissidentin

Mitglied
Die Geschichte hat sich gut gesteigert bis zum Ende hin, das allerdings dann echt lahm kommt... Wo zur Fetherton Ave bleibt denn der Punkt der Geschichte? Ist es das Irrenhaus? Wie kam er da rein? Wegen ein paar Kinderstimmen, undefinierbaren Gefühlen? Den Fressmäulern aus den Wänden? Wenn er in den Fressmäulern hängenblieb, wie konnte er später den Strick finden? Und wer ist Luca?
 

brain

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LUCA

LUCA ist der "last universal common ancestor", also die Lebensform, von der wir alle abstammen, ob Eichhörnchen oder Mensch, eben das, was aus der Ursuppe kroch um Fleisch zu werden. Kam absolut nich raus bei der Geschichte, aber ich schwanke immer zwischen den beiden Extremen die Auflösung anzudeuten, dabei jedoch dem Leser nicht das Denken abzunehmen.
 



 
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