Nachtstück

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Hieronymus

Mitglied
Eines nachts phantasierte ich leis am Klavier,
griff behutsam und sanft in die Tasten,
da drang eine menschliche Stimme zu mir
aus dem tiefschwarzen hölzernen Kasten.
Im ersten Moment war mein Schreck riesengroß,
dann verstand ich aus wisperndem Schalle:
„Sei nicht furchtsam, mein Meister, verrate mir bloß,
ob ich dir rein akustisch gefalle.“

Und ich sprach zum empfindsamen Instrument:
„Wenn ich nur deinen Stimmenklang höre,
dann ist er betörend und schier exzellent
und erhebend wie Engelschöre.“
Zufrieden umfloss mich das Saitengetön
in melodiösem Legato.
„Und findest du, Meister, mein Äußeres schön?“
Ich spürte ein leichtes Vibrato.

„Ich liebe dein sorgsam geschliffenes Holz
und möchte es immer polieren.
Deine hohe Gestalt ist mächtig und stolz,
und nichts könnte mir mehr imponieren.“
„Ich bin ein seit Jugend verwunschener Prinz“,
so erkärte sforzando das Wesen,
„und ich nehme dich zu mir in meine Provinz,
würdest du mich im Kusse erlösen.“

Bestürzung ergriff mich. „Es tut mir Leid.
Vergiss, wenn du kannst, diese Pläne.
Deine klaffenden Kiefer sind um vieles zu breit,
und zu schwarz deine oberen Zähne.“
Ein furchtbares Stöhnen entrang sich dem Schrein,
der Deckel fiel krachend nieder.
Ich klemmte mir böse die Finger ein
und hörte die Stimme nie wieder.
 

Justina

Mitglied
Hallo Hieronymus,

eine nette Variation über das Thema "der verwunschene Prinz". Und hier sogar mit deutlich homoerotischer Prägung; das hat mich doch sehr erheitert.

Formal/stilistisch wirkt das Gedicht sehr ausgereift, insbesondere die lautmalerischen Elemente gefallen mir. Nur die Wortwahl in der letzten Strophe erscheint etwas unglücklich und mißverständlich. Wenn von "Bestürzung" und "klaffenden Kiefern" die Rede ist, fragt man sich, was denn aus der zuvor bekundeten Bewunderung geworden ist. Das lyrische Ich müßte sich doch eigentlich ob des Angebots geschmeichelt fühlen. Stattdessen diese heftige Abwehr - da drängt sich die Interpretation auf, hier könnten homophobe Anwandlungen im Spiel sein.

Viele Grüße
Justina
 
D

Denschie

Gast
Hallo Hieronymus,
die Zwiesprache mit dem Klavier kann ich
als schlechte Spielerin sehr gut nachvollziehen.
Bei mir ist es kein Liebesgeflüster, aber dennoch.
Homophobe Tendenzen kann ich nicht erkennen.
Ehrlich gesagt auch keine homoerotischen. Ich habe
anfangs glatt nicht bemerkt, dass es sich um einen
Prinzen handelt. Außerdem ist es nicht unbedingt
homophob, wenn jemand keine homosexuellen Kontakte
haben möchte, finde ich.
Ich interpretiere den Schluß eher so, dass das lyrische
Ich nicht will, dass sich das Klavier verwandelt. Und in
eine Provinz will es auch nicht mitgenommen werden.
Möchtest du verraten, wie du es gemeint hast?
Gruß,
Denschie
 

Vera-Lena

Mitglied
Hallo Hieronymus,

ich kann mir gut vorstellen, dass man sich in ein Instrument verliebt, das einem behilflich ist,die eigene Seele klingen zu hören.
Wenn man das aber dann weiter kosequent durchdenkt, dann endet es eben so, wie Du es beschrieben hast. Denn eigentlich liebt man ja auch die Seele des Insruments, die sich einem durch den Klang, das Timbre offenbart, und wenn dann die Dinge ins Physische hinübergleiten sollen, nimmt man wohl besser den eingklemmten Finger in Kauf.

Mich hat Dein Text auch sehr amüsiert, aber als Phantasie eines Musikanten auch sehr berührt. (Man könnte ein Märchen daraus machen, wie zum Beispiel der arme Musikus in einem Königsschloß endlich einmal auf einem Flügel spielen darf, der seiner Kunst gerecht wird. Auf dem Heimweg dann kommt tapptapptapp der Flügel hinter ihm her... usw)

Liebe Grüße von Vera-Lena
 

Hieronymus

Mitglied
Hallo Justina, Denschie und Vera-Lena,

vielen Dank für Eure positiven Kritiken.
Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ein literarischer Text meiner Meinung nach so beschaffen sein sollte, dass er verschiedene Deutungen ermöglicht. Deshalb kann ich auch nicht eine "richtig" und die andere "falsch" nennen.

Vielleicht ist es im Zusammenhang mit der Frage "homophob oder nicht" interessant, dass ich beim Schreiben des Gedichts zunächst an eine Prinzessin gedacht habe. Die Antwort des männlichen lyrischen Ichs sollte auch in diesem Fall negativ sein. Dann fiel mir ein, dass das Gedicht wegen der "mächtigen Gestalt" und des "breiten Kiefers" dann als reines Spottgedicht auf eine Frau angesehen werden könnte, was ich aber nicht wollte. Es musste also ein Prinz sein, zu dem die Attribute problemloser passen. Nun hätte ich das lyrische Ich weiblich machen können, um die Frage der Homophilie zu umgehen.
Dann fiel mir aber ein, dass die Homophilie, da sie gesellschaftlich (noch) nicht so anerkannt ist wie Heterophilie, als Metapher für die Kunst stehen kann.
Ich sehe nämlich das Künstlertum auch als im Stillen von der Gesellschaft verachtet an (siehe Thomas Manns "Tonio Kröger"). Indem das lyrische Ich also das Angebot des Prinzen ablehnt, entscheidet es sich dagegen, sich ganz der Kunst zu verschreiben. Es steht an der Schwelle vom guten Klavierspieler zum Künstler. Es hat durch sein Spiel das Klavier zum ersten Mal zum Sprechen gebracht (d. h. eine "stimmige" Interpretation geschaffen), nun eröffnet sich plötzlich die Möglichkeit, sein ganzes Leben der Musik zu widmen. Davor schreckt das l. I. zurück. Es wird die Stimme nie wiederhören, d.h. kein Künstler werden.

Zu meiner Person kann ich sagen, dass ich ein Klavier besitze und gern, aber miserabel, spiele.

Viele Grüße
H.
 



 
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