Nachtzeit

nyleve

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Das Boot schaukelte sanft hin her. Kleine Wellen entfesselten sich blubbernd am weißen Rumpf. Leise knarrten die Ruder im Riemen. Der silberne Mond warf geheimnisvolle Schatten auf ihre Gesichter. Wie schwarzer, schwerer Samt lag die Nacht über dem See. Sie hielt die Augen geschlossen, doch sie schlief nicht. Neben ihr hatte er sich auf den Boden des Bootes gekauert. Eine dünne, zerschlissene Decke schützte seinen Körper vor der kalten, feuchten Nachtluft. Leise vernahm sie seine regelmäßigen Atemzüge. Bald würde die Nacht um sein, und die Welt würde nicht mehr die gleiche sein. Der See war ihr beider Zufluchtsort. Hier hatten sie sich immer getroffen. Nachts. Immer Nachts. Doch diesmal würde es die letzte Nacht sein, die sie hier, gemeinsam auf ihrem kleinen Boot verbringen würden. Morgen musste alles anderes sein. Sie hatte Angst. Vorsichtig tastete sie mit ihrer kalten Hand nach der seinen. Sie fühlte sich warm und tröstend an. Sanft drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange. „Warum versuchtst du nicht auch ein wenig zu schlafen?“ Um seinen Mund spielte ein sanftes Lächeln, als er ihr über das Haar strich. „Mir ist kalt.“ Einladend hob er seine Decke hoch und bot ihr einen warmen, sicheren Ort. „Denkst du es ist richtig, was wir machen?“ Immer wieder kam der beißende Zweifel in ihr hoch. „Hmhm. Das haben wir doch schon alles tausendmal durchgegangen. Entspann dich jetzt, meine Liebe.“ Sein verschlafenes Gemurmel war kaum zu verstehen. Langsam sank auch sie in einen unruhigen Schlaf.

Die Sonne war längst aufgegangen, als sie erwachte. Ihre schmerzenden Glieder und ihr verspannter Nacken waren das erste was sie an diesem Tag wahrnahm. Stöhnend versuchte sie sich aufzurichten. Blinzelnd drehte sie den Kopf zur Seite als sie die grellen Sonnenstrahlen blendeten. „Ich glaube es wird schön langsam Zeit!“. Eine ganze Nacht in einem kleinen Ruderboot war nun wirklich nicht mehr das Ideale für sie beide. Aber das Versteckspiel hatte jetzt nun endlich bald eine Ende. Ächzend setzte sie sich auf die schmale Holzplanke und begann Richtung Ufer zu rudern. Schon bald konnten sie aufgeregte Stimmen durcheinander schreien hören. Die kleinen Gestalten jenseits des Wassers liefen aufgeregt hin und her, und wurden stetig deutlicher zu erkennen. Zitternd legte sie ihre Hand auf die seine. Schweigsam ruderten sie weiter.
„Um Gottes Willen! Mutter! Was machst du da?“ Eine hysterische Frau in den Fünfzigern rang entsetzt die Hände. Junge Pfleger in makellos weißen Kitteln streckten hektisch die Hände nach ihrem Boot aus. Mühsam kletterten sie auf den Steg. „Mutter!“ Die Frau schien einem Nervenzusammenbruch nahe zu sein. „Jetzt kommen sie erst einmal mit hinein. Sie müssen ja ganz durchgefroren sein.“ Der Arzt sprach langsam und streng, wie zu einem Kind, das nach einem Streich gemaßregelt wurde. „Mutter! Kannst du mir das bitte erklären? Wir waren außer uns vor Sorge!“ Jemand legte eine grobe Decke über ihre Schultern.
In der Aufenthaltshalle des Pflegeheimes war es angenehm warm. Neugierige Blicke verfolgten sie. Dann wurde sie sanft auf einen Sessel gedrückt. Der Arzt setzte sich dicht vor sie hin. „Was genau haben sie da draußen gemacht?“
„Wir haben beschlossen, dass das heimliche Treffen ab nun ein Ende hat.“ Sie machte eine kurze Pause und lächelte ihn liebevoll an. „Wir wollen ein gemeinsames Zimmer. Und wir werden uns jetzt auch tagsüber sehen. Nicht immer nur Nachts. Dort im Boot.“ Mit dem Kopf deutete sie Richtung Steg.
„Mutter,... wovon in aller Welt sprichst du da?“ Die Frau war kreidebleich. Der Arzt brachte sie mit einem strengen Blick zum Schweigen. „Können sie mir verraten, wen sie mit „wir“ meinen?“ Verwirrt starrte sie den Mann an. Was für eine komische Frage, aber auch.
Unsicher schaute sie sich um. „Na, wir beide eben. Er und ich!“ Verständnislos starrte ihr der Arzt in die Augen. Ihr Tochter rang hörbar nach Atem. „Sie meinen, sie waren nicht alleine in dem Boot?“
„Aber nein, natürlich nicht. Er war die ganze Zeit bei mir! So wie immer.“ Beruhigend legte der Arzt seine Hand auf die ihre. „Sie sind ja ganz durcheinander. Wir bringen sie erst mal auf ihr Zimmer und geben ihnen ein Beruhigungsmittel und dann sehen wir weiter.“
„Nein. Ich gehe nicht mit. Ich bleibe jetzt bei ihm. Das haben wir so ausgemacht. Ab jetzt lassen wir uns nicht mehr trennen. Ich bleibe bei ihm!“ Sie war inzwischen schon leicht verärgert. Hatte sie sich nicht klar genug ausgedrückt?
Sie wollte sich nicht mehr heimlich aus dem Zimmer schleichen. Bei den Schwestern vorbeihuschen und den gestohlenen Schlüssel in ihren Strümpfen verstecken. Kurz vor Morgengrauen mussten sie sich dann wieder genauso verstohlen zurück schleichen.
Nein, das musste doch jetzt endlich ein Ende haben! Verzweifelt suchte sie seinen Blick, doch er lächelte nur.
„Wer war bei ihnen?“ Die Stimme erschreckte sie plötzlich. „Warum stellen sie mir so seltsame Fragen?“ Sie begann zu zittern.
„Himmel noch mal, Mutter!“ Der Arzt warf einen warnenden Blick zu ihrer Tochter. „Sie behaupten also, dass sie mit jemandem in dem kleine Boot die Nacht verbracht haben. Gut. Jetzt sagen sie mir aber bitte, wer dieser jemand ist, und wo er sich zurzeit befindet.“
„Na hier, neben mir sitzt er doch! Er war die ganze Zeit hier!“ Aufgeregt versuchte sie aufzustehen. Starke Hände hielten sie aber zurück.
„Neben ihnen sitzt aber niemand! Und sie waren ganz alleine in dem Boot!“ Der Arzt sprach ganz leise. Erschrocken drehte sie sich zu ihm. Er lächelte immer noch. Sanft. Liebevoll. Tränen traten in ihre Augen. „Nein, nein. Er ist doch hier! Das Versteckspiel ist zu Ende! Bitte!“ Schluchzend hielt sie die Hände vors Gesicht.
„Von wem sprichst du? Mutter! So antworte doch!“
„Dein Vater! Dein Vater ist bei mir! Ihr habt uns so lange voneinander getrennt! Wegen euch mussten wir uns heimlich treffen! Ihr wolltet mich nicht zu ihm lassen!“ Sie spie die Worte heraus, voller Zorn und Schmerz.
„Aber Mutter ..“ Ihrer Tochter fehlten die Worte, um weiter zu sprechen. Der Arzt runzelte besorgt die Stirn. „Ihr Mann ist tot. Er ist seit 7 Jahren tot.“
„Nein, das ist nicht wahr!“ Weinend fiel sie in sich zusammen. Verschwommen nahm sie Gesichter wahr, weiße Kittel und Stimmen, die sich immer weiter von ihr entfernten.

Dann sah sie die Sonne, wie sie über dem kleinen See aufging. Das Boot schaukelte leicht gegen den schmalen Steg. Eine Gestalt bewegte sich langsam auf sie zu. Einladend streckte sie die Hand nach ihr aus. Erleichtert erkannte sie, dass es er war. „Komm mit! Wir haben es geschafft!“ Sie ergriff seine Hand und fühlte nichts als Glück und Liebe. „Wir beide. Ewig.“
 



 
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