Narziss

neuni

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Narziss




Wo ist Narziss? Wir haben ihn verloren. Er fehlt. Wir fuhren zusammen in der U6 Richtung Tegel. Ich sah ihn zuletzt am U-Bahnhof Mehringdamm. Die Kontrolleure stiegen vorne in die U-Bahn ein. Ich erkannte sie sofort. Wir waren mit Narziss im Mittleren Wagen. Ich habe Narziss vor der Kontrolle gewarnt. Dann sind wir im letzten Moment am Halleschen Tor raus. Ich habe Narziss noch zugewinkt. Er hat uns nicht beachtet, als wir raus sind. Er hat auf meine Geste nicht reagiert. Er ist einfach sitzen geblieben. Er blickte auf das rückwärtige Fenster der U-Bahn. Wir mussten schnell sein. Wir konnten Ihm nicht helfen. Wir sind der Jagt entgangen. Als die Kontrolleure den Wagen betraten in dem Narziss saß, ist er aufgestanden. Das habe ich nicht gesehen. Doch, im Moment als die Bahn losfuhr. Er war zu langsam. Er war gelassen. Er hat mir gefallen. Er war schön. Er schlenderte in Richtung Zug Ende davon. Die Kontrolleure waren hinter ihm. Ich glaube nicht, dass er ihnen entgangen ist. Sie werden ihn erwischt haben. Er war in sich gekehrt als er in Fahrrichtung ging. Er wendete den Kontrolleure den Rücken zu. Er war ruhig. Wie finden wir ihn jetzt wieder? Jetzt ist er irgendwo im Labyrinth der U-Bahn. Ihn zu suchen macht keinen Sinn. Vielleicht treffen wir ihn zufällig wieder. Es ist unwahrscheinlich. Wir setzen das Spiel fort. Gejagt werden. Gut, wir machen weiter. Natürlich. Und Narziss? Wir sehen ihn morgen. Wird er noch einmal mit uns kommen. Ich hoffe es. Wir hoffen es alle. Jetzt aber los. Die U-Bahn nehmen wir. Dann ab dafür.

Ich sah Narziss bei seiner Mutter in Berlin Dahlem. Die herrliche Liriope hatte mich zu einer Feier in ihren Garten eingeladen, und ich wollte sehen zu welchem Zweck. So fuhr ich in einer schwülen Sommernacht mit der S-Bahn hinaus nach Dahlem und bemühte mich durch die weite Kastanienallee zu ihrem Haus. Auf der Terrasse hinter der gepflegten Gründerzeit Villa fand ich Liriope, umgeben von anderen gealterten Nymphen, bei Rezina und Kerzenlicht. Liriope war, obwohl im Begriff die Menopause hinter sich zu bringen, eine elegante Erscheinung. Unvermeidlich vielen graue Strähnen in ihr zartes Gesicht. Ihre blauen Augen waren, obwohl von rissiger Haut umgeben, immer noch strahlend. Ich wurde von Liriope und den anderen Damen überschwänglich begrüßt. Nachdem ich Platz genommen hatte, war ich bald in ein Gespräch über die Gebrechen der Damen verwickelt. So gab ich bereitwillig über den Verlauf von Artrose, Arthritis, Gastritis, und dem grauen Star, der selbst an mir nicht vorbeigeht, Auskunft. Mein Ruf als Seher war mir wohl, durch die ununterbrochen Tätigkeit der Lippen Liriopes vorrausgeeilt. Als unser Gespräch abbrach, ging Liriope in das Haus und kehrte mit einer großen silbernen Platte voller griechischer Vorspeisen zurück. Es gab kleine gebratene Fische, in Blätterteig gebackenes Gemüse, Reis in Weinblätter gehüllt, Käsepastetchen, Zaziki, Oliven und Brot. Die leckern Happen wurden von den Zähnen und dem Zahnersatz der alten Nymphen zerkleinert, verköstigt und ausgiebig gelobt. Liriope berichtete uns, dass sie immer bei Pausanias in der Dieffenbachstraße in Kreuzberg, dem besten Griechen Berlins, bestelle. Wir saßen nach der Mahlzeit noch eine Zeit schweigend im Garten, lauschten dem Plätschern des Springbrunnens, rochen den Rosengeruch und spürten die Wärme der Luft, bis Narziss auf die Terrasse trat. Die Augen aller Damen richteten sich auf den schlanken Jungen, in weißer Jeans und blauem Hemd. Liriope sprang auf, lief zu ihrem Sohn und umarmte ihn. Er lies dies unbeteiligt über sich ergehen. Ihre Hände fuhren durch seine dunklen Locken, „Dies ist mein schöner Sohn. Er wird bald volljährig. Dies ist sein Fest“. Narziss blieb an der Terrassentür stehen. Es war als ob seine blauen Augen, die zweifelsohne eine Erbschaft seiner Mutter waren, in eine schwarze Höhle blickten. Seine schöne Gestalt weckte wohl das Begehren der Nymphen um mich. Auch ich als Mann konnte mich seiner Anziehungskraft nicht entziehen, obwohl ich Liebesangelegenheiten schon lange hinter mir gelassen habe. Liriope bat Narziss sich zu uns zu setzen. Narziss nahm das Präsidium des Tisches ein, ohne uns zu Grüßen und zur Kenntnis zu nehmen. Liriope setzte sich seitlich neben ihren Sohn und erzählte uns begeistert, dass er in der Stadt ausnehmend beliebt sei und insbesondere die Mädchen ihn anhimmelten. Liriope sprach von Mutterstolz erfüllt. Die Abwesenheit jeglicher Reaktion des Narziss und sein Schweigen weckte mein Interesse. So wand ich mich direkt zu ihm, erwiderte seinen leeren Blick für einen Moment und fragte ihn womit er beschäftigt sei. Er sagte, das er mit der U-Bahn durch Berlin fahre. Ich wollte nachfragen, was er genau meine, aber seine Mutter sprach unverzücklicht für ihn. Es handele sich um ein Spiel der Kinder ohne Fahrkarte das ganze Netz der U-Bahnen Berlins abzufahren, die Kontrolleure zu erspähen und ohne sich erwischen zu lassen vor ihnen zu fliehen. Ich fragte Narziss ob diese Beschäftigung aufregend sei, ob es sich um ein Abenteuer handele. Er bejahte ohne jegliche Begeisterung. Die Nymphen tuschelten leise. Sein seltsames Verhalten weckte, wie ich sah, in gleichem Maße ihr Missfallen wie ihre Bewunderung für soviel jugendlich Leichtsinn. Liriope entschuldigte Narziss Verhalten als pubertäre Kinderei, die man ihm nachsehen solle. Dies wäre besser, als wenn er trinke oder Drogen nehme, wie andere Jugendliche in seinem alter. Ich hätte Liriope zustimmen können, wenn Narziss nur Interesse am Schwarzfahren an den Tag gelegt hätte. Er blieb jedoch auch bei diesem Thema vollkommen apathisch. Er saß weiterhin abwesend bei uns. Ein wunderbar irisierendes dunkles Leuchten schien von seiner Haut auszugehen und einen Schatten zu bilden der ihn ganz umgab. Er nahm die Liebe seiner Mutter, die Bewunderungen der Damen und mein Interesse entgegen ohne zu reagieren und ohne sich seiner Wirkung auf andere Menschen bewusst zu sein. Ich gebe zu ihn an diesem Abend, wie alle anderen Gäste, bald verstört und bald hingerissen angeblickt zu haben. Einen Austausch mit seiner schwarz strahlenden Abwesenheit herzustellen war nicht möglich. Ich sah nur das sich etwas in ihm vorbereitet, dass keinen Bezug zu uns Menschen haben kann; ein Wunder oder eine Katastrophe. Wir dürften die Schönheit von Narziss nur für kurze Zeit genießen. Bald warteten wir auf seinen Abgang, uns auf den bevorstehenden Verlust seiner Schönheit vorbereitend. Nach einer Stunde verabschiedete sich Narziss jetzt höflich von uns. Er müsse in seine Zimmer studieren, meinte Liriope. Die Damen waren bereit dies zu glauben, obwohl es mit Sicherheit nicht der Wahrheit entsprach. Nachdem er die Veranda verlassen hatte und ins Haus getreten war, verbreitete sich Traurigkeit in unserer Runde. Gesprochen wurde nun nicht mehr viel und ich meine Tränen im Halbdunkel es Kerzenlichts auf den faltigen Wangen der Nymphen erblickt zu haben. Die Damen sahen bald keinen Anlass mehr länger zu bleibe und verabschiedeten sich von Liriope, mit Dank für den schönen Abend. Ich blieb allein mit ihr auf der Terrasse sitzen. Wir blickten beide schweigend zu Narziss erleuchtetem Zimmer unter dem Dach der Villa. Liriope brach das Schweigen, „Mein Sohn ist sehr schön aber seltsam. Ich verstehen ihn nicht. Wie wird er sich entwickeln? Wird er erwachsen? Wird er unser Alter erleben“ Dringlichkeit lag im Ton ihrer Stimme. Ihre Sorge, die sie vorher überspiel hatte, war nun in ihren Augen zu lesen. Ich zögerte mit meiner Antwort, mir selber über das Schicksal des Narziss nicht gewiss. Dann sagte ich, „Wenn er sich nicht selbst erkennt, hat er die besten Chancen“. Liriope schien nicht recht zu verstehen was ich meinte. Auch ich verstand es nicht, aber ich würde wie so oft recht behalten. Sie ließ meine Aussage als den dunklen Spruch eines Seher stehen. Ich habe es mir, in den Kreisen in denen ich verkehre, angewöhnt durch dunkele Orakel zu brillieren. Niemand meiner Bekannten will je etwas eindeutiges hören und ich bin daher allseits gefragt. In Wahrheit weiß ich selber oft nicht was ich sage. Es würde meine Freunde nicht glücklich machen davon zu hören, also sage ich es ihnen nicht. Ich liege so oft mit dem was ich sage richtig, dass mein Ruf als Seher gerechtfertigt ist. Liriope war mit meinem Spruch zufrieden, ja sie wirkte beinahe glücklich. Sie hatte wohl ehr damit gerechnet, dass ich ihr eine Katastrophe prophezeien würde. Sie dankte mir mit großer Geste und langer Rede für meinen Besuch. Dann brachte sie mich mit kokettem Lächeln zu Tür ihrer Villa und umarmte mich zum Abschied sogar. Meinen Gedanken an den schönen Narziss nachhängen schlenderte ich durch die immer noch warme Nacht zur S-Bahn.

Dort ist Narziss, in der U9 Richtung Osloer Straße. Welch ein Glück. Wir habe ihn widergefunden. Welch ein Zufall. Schnell wir können noch in den Zug springen. Wir schaffen es. Wir müssen uns beeilen. Die Türen schleißen sich. Die Warnsignale blinken schon. Wir haben es nicht geschafft. Er ist wieder fort. In den Wedding hinauf. Er macht weiter. Heute treffen wir ihn bestimmt nicht wieder. Habt ihr die Frau neben ihm gesehen? Sie blickte ihn an. Sie saß neben ihm. Kennt ihr sie? Nein, ich habe sie noch nie gesehen. Ich auch nicht. Sie wollte etwas von ihm. Sie war geil auf ihn. Sie saß doch einfach nur neben ihm. Die Schlampe mit ihren blonden Haaren bis zum Hintern. Narziss hat sie gar nicht angeschaut. Er hat sie nicht bemerkt. Er war wie immer in seiner Welt. Er hat bestimmt kein Interesse an so einer. Aber attraktiv war sie schon. Pah,... attraktiv. Mit langen Haaren und zarter durchscheinender Haut. Das wird Narziss nicht gekümmert haben. Narziss interessiert sich in Wahrheit für niemanden. Bestimmt nicht für diese Frau. Aber sie wird ihn ansprechen. Ich konnte es sehen als die U-Bahn losfuhr. Das wird sie nicht. Wer weiß. Wir werde ihn fragen wer sie war. Er wird es nicht wissen. Und wenn er es weiß. Ich glaube wir treffen sie wieder. Sie ist verliebt in ihn. Nein, nur ein zufälliges Zusammentreffen. Es war Schicksal. Ach, was. Wir werden sehen. Nun aber weiter. Ab durch das Labyrinth.

Narziss fiel mir sofort auf, als ich am Halleschen Tor in die U6 Richtung Tegel stieg. Ich suchte einen Sitzplatz und er ging an mir vorbei. Ich sah seine lange schlanke Beine, seinen kräftigen Po, seine starken Hüften und seine schmalen, muskulösen Schultern. Dann blickte ich schon sitzend von unten in sein Gesicht. Hitze stieg von meinem Beckenboden durch meine Wirbelsäule auf. Ich wurde Rot. Solch ein schöner Junge, mit solch schönen Gesichtszügen, ich hatte vorher nie dergleichen gesehen. Es war so als zerrisse etwas in mir und entzündete sich. Ich war entbrannt und verloren. Hinter Narziss betraten zwei Kontrolleuren den Wagen und forderten unsere Fahrkarten. Ich wandte den Blick für einen Augenblick von Narziss ab und zeigte ihnen meine Karte. Als die Kontrolleure Narziss ansprachen wirkten sie klein und unterwürfig. Er griff zu seinem Portomine, und gab ihnen das Busgeld. Den Ersatzfahrschein stopfte er achtlos in seine Hosentasche. Der Vorfall schien ihn nicht zu bekümmern. Dann wandte er sich zu Seite, stand einen wunderbaren Moment unmittelbar vor mir und setzte sich neben mich. Die U-Bahn fuhr los und er blickte starr auf das gegenüberliegende Fenster. Ich schaute ihn gebannt an und dachte darüber nach wie alt er sei, woher er kämme, wohin er führe und wie ich ihn ansprechen solle. Ich konnte nicht einschätzen mit wem ich es zu tun hatte. Sein Körper war, wie ich sah, einige Jahre jünger als meiner, im gleichen Zuge schien mir Narziss sehr alt zu sein. Als er dort neben mir saß, ging seine Kraft auf mich über. Wenn ich ihn anblickte umgab ihn eine unbegreiflich starke eisige Aura. Das Wort „Unnahbar“ wiederholte sich wieder und wieder in meinem, verwirrten Geist. Wir fuhren durch die Stadtmitte, dann an Friedrichstraße und Oranienburgerstraße vorbei in den Wedding hinauf. Während der Fahrt vergaß ich alles um mich und sah nur noch Narziss der nur sich selber sah. Er war ein Reflex im Glas der Scheibe der U-Bahn mal deutlich und mal verschwommen. Ich merkte wie ich Millimeter für Millimeter näher an in heranrutschte. Es war nicht meine Entscheidung, es geschah. Unserer Becken berührten sich, und Blitze durchzucken meinen Körper. Obwohl ich mit Männern nicht unerfahren bin, hatte ich dergleichen nie zuvor erlebt. An der Zinnowitzerstraße hielt ich die Spannung nicht länger aus wandte ihm mein Gesicht direkt zu und wollte irgendetwas sagen. Ich konnte nicht. Es geht mir so, nie kann ich jemanden ansprechen. Ich kann immer nur Antworten, wenn ein anderer die Initiative übernimmt. Früher war das einmal anders. Ich redete mit jedermann und tratschte über die Götter und die Welt. Vielleicht war es einmal, wenn auch nur ein einziges mal zu viel, was ich sagte. So saß ich also weiter mit Narziss zusammen schweigend im Untergrund Berlins. Narziss blickte weiterhin starr auf die Scheibe. Er betrachtete wohl seine schönen Augen im Spiegelbild. Am Leopoldplatz stand er dann ruckartig auf, ging schnell zu Tür, und verschwand auf dem Bahnsteig. Ich war mit einer Freundin an der Müllerstraße verabredet, konnte aber nicht anders und musste Narziss folgen. Ich beeilte mich und war bald hinter ihm. Er ging von mir gefolgt zum Übergang der U9. Auf der Rolltreppe holte ich ihn ein und stellte mich neben ihn. Nebeneinanderstehend versperrten wir den Leuten den Durchgang auf der Rolltreppe. Niemand wagte uns anzusprechen oder sich vorbeizudrängen. Narziss Unnahbarkeit war auf mich Übergegangen. Oben angekommen drehte sich Narziss nach rechts und ging zum Bahnsteig Richtung Osloer Straße. Dieses mal ließ ich ihm einen kleinen Vorsprung bevor ich ihm folgte. Wir warteten kurz im dichten Berufverkehr und fuhren dann zusammen zum Nauener Platz. Diesmal setzte ich mich neben Narziss und schaute ihn weiter an. Am Nauener Platz wechselten wir die Richtung und fuhren zurück. Beim Umsteigen bekam ich das Gefühl, dass Narziss mich nun endlich bemerkt hatte. Ich war sehr glücklich, dass ich ihm aufgefallen war. Zurück am Leopoldplatz wirkte Narziss wieder gelassen. Wir stiegen in die U6 und begaben uns auf die lange Fahrt hinaus an den schönen Tegeler See. Als wir an der Müllerstraße vorbeifuhren dachte ich kurz an meine Freundin, die dort auf mich warteten würde. Ich musste bei Narziss bleiben, und blickte nicht einmal auf den Bahnsteig hinaus. Als die U-Bahn am Kurt-Schumacher Platz den Tunnel verließ um als Hochbahn einige Meter über den Straße weiterzufahren erwartet uns das warme Lichte eines Herbstabends in Berlin. Für einen kurze Moment sah ich draußen die Farben der Baumkronen auf deren Höhe wir fuhren und höhrte leise den Refrain „Such perfect day“ aus einem Radio. Es war ein Augenblick vollkommen Glücks, der sofort verging als ich Narziss im Sonnenlicht ansah. Er war ein Schatten, der das Sonnenlicht in sich aufsog, um es dann in der Art einer glimmenden Schwärzlichröhre zurückzuwerfen. Er war tief violett, genauso schön wie schrecklich. Ich wollte fliehen und hätte mit Sicherheit besser daran getan. Aber seit wann entscheiden wir darüber, was wir in der Liebe tun? Wir fuhren weiter in den Norden hinauf, beide in unsere Haltung eingefroren, ich ihn anblickend, er in eine andere Richtung sich selber sehend. Ich wartete nur noch darauf das wir in Alt Tegel ankommen. Etwas musste geschehen und ich hoffte inständigst, dass in Tegel meine Gelegenheit käme. Wenn er anfinge zu sprechen würde ich ihm seine Wort zurückgeben, ihm antworten, mit ihm reden, ihn erkennen und ihm nahe sein.

Dort ist Narziss. Schön wie immer. Er steht abwesend unter den Steinarkaden. Ich habe ihn schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Er hat geschwänzt. Sicher, das hat er. Das letzte mal haben wir ihn in der U-Bahn getroffen. Mit dieser Frau neben ihm. Ich habe ihn an diesem Tag später noch oben in Tegel gesehen. Das hast du uns noch nicht erzählt. Er stieg aus der U-Bahn und ging Richtung See davon. Was wollte er dort? Er wohnt doch in Dahlem. Vielleicht hat er Freunde in Tegel. Narziss hat bestimmt keine Freunde. Er wird am See spazieren gegangen sein. War die Blonde vom Leopoldplatz bei ihm. Sie folgte ihm in einigem Abstand. Ohh, die Schlampe. Ich wusste es. Die wollte ihn. Du sagst, die beiden gingen getrennt? Ja, aber es war nicht zu übersehen, sie verfolgte ihn. Was war nur mit dieser Frau los. Sie war verliebt, nicht mehr und nicht weniger. Und was war mit ihm. Wir wissen es nicht. Ich muss es erfahren. Niemand wird es erfahren. Er ist verschlossen. Er war schon mal mit uns unterwegs. Er gehört zu uns. Er gehört zu niemandem. Er ist schön. Gehen wir zu ihm und reden mit ihm. Ich muss wissen, was er mit dieser Frau hat. Die Frau interessiert mich nicht. Er interessiert mich. Was ist ihm in diesen Tagen geschehen? Warum ist er einfach nicht mehr gekommen. Da stimmt doch etwas nicht. Ich gehe zu ihm. Dann geh. Wir gehen mit. Wir wollen bei ihm sein. Ich bin sein Freund. Ich werde ihn ansprechen. Gut, geh du vor. Wir folgen dir.

Wir traten aus dem U-Bahnhof Alt-Tegel hinaus in die wärmende Sonne. Narziss, ging voran, die Hüften instinktiv wiegend, wie ich es vorher nur bei afrikanischen Männern gesehen habe. Er ging wie ein heißes schwefeliges Tier in Richtung See. Ich verfolgte ihn erregt. Wir gingen hintereinander durch die Fußgängerzone an den hübschen Tegeler Restaurants vorbei. Ich träumte davon mit ihm später in der Dämmerung bei dem eleganten Portugiesen zu sitzen, mit ihm zu essen und Rotwein zu trinken und ihn dann mit zu mir nach Haus zu nehmen. Er würde mich ausziehen, mich auf mein Bett werfen und mich mit in seine Welt der glühenden Kälte nehmen. Die Fußgängerzone in Tegel endet nach den letzten Häusern direkt am See. Ich kehrte langsam, Narziss hinterherschleichend, in die Wirklichkeit zurück. Die Sonne war fast untergegangen, nur noch eine Rote Haube über der Insel in der großen Malche beleuchtete den See. Das Wasser des Sees glühte in Blau, Orange und Rot. Später würde es braun leuchten und dann tief schwarz werden. Narziss ging über den Steg der Schiffsanlegestelle auf den See hinaus. In diesem Augenblick hatte ich die Erinnerung an ein Dejavu. In diesem Dejavu habe ich die Erinnerung daran, das Narziss über den Steg hinaus in den Tegeler See geht. Durch die Erinnerung wird das Dejavi unendlich gespiegelt, es wiederholt sich immer und immer wieder. Nicht mehr und nicht weniger als eine Schleife in der Zeit, wie ich glaube. Dieses mal wollte ich, wie jedes mal, aus meiner Rolle ausbrechen. Ich wollte warten bis Narziss vom Steg zurückkommt damit er mich dann als seine uralte Freundin begrüßt. Die Zeit selber aber zog mich, wie ein Stahltau, voran, auf den Steg hinaus. Ich trat seitlich hinter Narziss, der an einen Polder gelehnt nach unten in den See blickte. Ich hörte ihn vor sich hinmurmeln, damit war meine Zeit gekommen. Er sagte ganz leise zu seinem Spiegelbild im Tegeler See, „Warum ist nur Niemand da? Niemand ist zur Stelle“. Aus einem Reflex antwortete ich ihm laut, „Zur Stelle!“. Er blickte verwirrt um sich. Dann verschwand für eine Sekunde der Schleier von seiner Iris und er erkannte mich. In diesem Moment sah ich tiefe Furcht vor mir und der Welt in seinen Augen. Er konnte mich nur diesen einen Augenblick sehen. Dann war er bis zur ewigen Wiederkehr des immer gleichen Moments, verschwunden.

Hallo Narziss. Wo warst du denn die ganze Zeit. Wir haben dich vermisst. Warum warst du nicht da. Hast du blau gemacht? Dich Krankschreiben lassen? Das braucht man ja auch mal. Erinnerst du dich noch als wir unterwegs waren. In der U-Bahn. Am Halleschen Tor sind wir raus. Die Kontrolleur kamen. Haben sie dich erwischt? Wir haben versucht dich zu warnen. Erinnerst du dich. Sie haben dich gekriegt. Es scheint dich nicht zu interessieren. Wir haben dich noch mal am Leopoldplatz in der U-Bahn gesehen. Wohin bist du gefahren. Durch die ganze Stadt, wie wir. Eine schöne Frau saß neben dir. Hast du sie bemerkt. Sie ist dir bis Tegel gefolgt. Zufällig habe ich euch Beide oben in Tegel gesehen. Ihr habt miteinander gesprochen. Triffst du sie etwa. Nein. Sie war dich dein Fall. Es ist ja gut. Ich habe es den anderen gesagt. Und wie war sie so. Bestimmt älter als du. Wen interessiert das? Niemanden. Wir sind deine Freunde. Du kannst uns erzählen was los ist. Nichts. Gut. Was soll ich sagen. Kommst du ab heute wieder? Es ist ja nicht mehr lange dann geht es los. Es scheint dich nicht zu kümmern. Für dich ist es bestimmt kein Problem. Wann bist du wieder mit uns in der Stadt unterwegs. In den U-Bahnen. Im Labyrinth. Wir werden dich wieder Fragen. Wo lebst du eigentlich. Du interessierst dich für nichts. Höre nicht, was die da sagen. Es hat keine Bedeutung. Du bist bei uns. Jetzt gehst du. Warum? Mach es gut. Ja wir wünschen dir alles gute. Bis dann.

Narziss hat meine Liebe verschmäht. Ich warte auf seinen Anruf, obwohl ich weiß, dass er nicht anrufen wird. Ich werde Narziss nie wieder sehen. Heute lebe ich ganz zurückgezogen in meiner Wohnung im Wedding. Ich bin im obersten Stock im zweiten Hinterhof vor den Menschen verborgen. Es ist November und wird von Tag zu Tag kälter und dunkeler. Durch das undichte Fenster rieche ich Abgase der Kohleöfen, die sich im Hinterhof sammeln. Ich habe mir aus meinem Bett eine Höhle aus Kissen und Decken gebaut. Ich mag die Wohnung nicht mehr verlassen um Kohle für den Offen oder Essen zu hohlen. Der Strom ist abgestellt ich habe den Zahlschein nicht zur Bank gebracht. Ich mag die Dunkelheit um mich in der ich mich gut erinnern kann. Wenn ich nicht friere, schlafe ich in meiner Höhle. Wenn ich nicht schlafe ist die Kälte ein Gruß von Narziss. Wenn ich aufstehe und mein Spiegelbild betrachte sehe, ich ein zitterndes Etwas. Ich esse nicht mehr. Ich bin nur noch Haut und Knochen. Im Spiegel kann ich jede einzelne blaue Vene unter meiner Haut erkennen. Meine langen blonden Haare sind verfilzt, ich habe keinen Grund mehr sie zu waschen und zu kämmen. Ich werde sie bald abschneiden. Manchmal klingelt das Telefon. Ich springe dann vor Hoffnung zitternd auf und melde mich mit: „Hier Echo aus ihrer Höhle“. Eine meiner Freundinnen aus einem anderen Leben ruft mich an und fragte wie es mir geht, ich würde mich seit langem nicht mehr sehen lassen. Nein ich lasse mich nicht mehr sehen, ich löse mich auf, nur Schall wird bleiben. Ich erzähle nichts von mir, nichts von meiner Begegnung mit Narziss, nichts von der Kälte, nichts von meiner Nacht. Ich höre den Frauen aus weiter ferne zu, erfahre von einem Leben da draußen in der Stadt, gebe zurück was mir gesagt wird, behalte nichts von dem bei mir. Ich werde verabschiedet, ich solle mich doch mal wieder blicken lassen. Ich werde mich nicht blicken lassen. Was mir bleibt ist hier. Die Anrufe der fremden Frauen, die meine Freunde waren, werden mit der Zeit seltener. Bald werden die Anrufe in meiner Höhle aufhören. Es macht mir nichts. An einem Abend hörte ich sogar, dass vor der Tür der Wohnung mein Name gerufen wird. Ich horchte auf, hörte sehr genau hin. Für eine lange schöne Sekunde glaubte ich es wäre Narziss. Es war die Stimme einer Frau, nicht die Stimme des Narziss. Es gab keinen Anlass für mich das Bett zu verlassen, ich verkroch mich wieder unter den Decken. Ich wiederholte in dieser Nacht immer wieder meinen Namen, wie Narziss ihn aussprechen würde. „Echo“ „Echo“ ich sagte es in dieser Nacht wohl einige tausendmal zu mir selber bis ich endlich einschlief. Wenn ich es nicht mehr wage mich an die Stunden mit Narziss zu erinnern, möchte ich schlafen. Ich warte auf die Träume, die mich erretten, aber sie kommen oftmals nicht. Wenn ich dann träume, so träume ich von meinem Leben mit Narziss. Er liebt mich in unserer Wohnung hinter den Spiegeln. Wir schlafen jede Nacht zusammen ein, ich kuschele mich an seinen starken Körper. Bevor wir das Licht löschen, sehen wir uns an und erkennen uns. Dann spüren wir uns in der Dunkelheit. Jeden morgen wachen wir gemeinsam auf. Wir reden beim Frühstück über unsere Pläne für den Tag, die Woche das Jahr, und das Leben. Meine Träume sind die Träume einer lächerlichen Frau. Aber diese Träume sind besser, als das kleinste Stück einer Wirklichkeit. Natürlich lieben wir uns hinter den Spiegeln, er braucht mich dringend und begehrt mich wie ein wildes Tier. Ich werde schwanger und trage sein Kind für ihn. Wir liegen im Bett und er legt sein Ohr an meinem Bauch und hört den Herzschlag seines Babys. Er freut sich so darauf Vater zu werden. Dann träume ich immer wieder von der Geburt des Kindes. Für mich ist alles bereitet. Ich fahre zusammen mit Narziss in ein Krankenhaus am Rande der Stadt. Im Taxi hält Narziss meine Hand, dann ganz plötzlich verschwindet er. Er löst sich auf. Ich liege alleine in einem rosa Kreißsaal. Ich träume die Nummer es Kreißsaals, es die Sieben. Dann wache ich mit Krämpfen im Unterleib auf. Ich fühle warmes Blut zwischen meinen Beinen. Ich wische das Blut nicht ab, es verkrustet auf meinen Schenkeln. Wenn ich blutend erwache warte ich. Es geschieht nichts und ich erinnere mich wieder. Ich bin verloren, gefangen in einer Schleife. Die Zeit schleppt sich dahin, sie ist ganz mit Narziss ausgefüllt. In letzter Konsequenz ist alles gut so. Es war nicht anderes möglich. Jetzt bin ich hier in der Leere, in der Dunkelheit, in der Kälte und in der Stille und so mit Narziss vereint.

Er hat uns im Grunde nichts erzählt. Wir haben es immerhin versucht etwas aus ihm rauszukriegen. Es war noch schwieriger mit ihm als sonst. Er wollte eben nicht mit uns sprechen. Vielleicht konnte er es nicht. Er blickte auf den Boden, als er uns sah. Hat er uns überhaupt gesehen? Er schaute die ganze Zeit in die Lache vor seinen Füssen. Zu der Begegnung mit der Frau in der U9 hatte er nichts zu sagen. Er wollte nichts sagen. Es ging ihm nicht gut. Er zitterte. Er war so bleich. Ich habe es gesehen. Hoffentlich geht es ihm bald besser. Ich habe keine Hoffnung für ihn. Wie kann ich Ihm helfen? Ihm ist nicht zu helfen. Keiner von uns kann es. Ich habe Angst um ihn. Seine Mutter wird sich um ihn kümmern. Viehleicht weiß sie was mit ihn nicht stimmt. Niemand kann an ihn heran. Warum nicht? Weil er nur sich selber sieht. Wenn es keine Spiegel gäbe hätte er eine Chance. Er sollte einen Spiegel zerschlagen. Das wird er tun. Wird er tun. Wird er überleben? Er hat keine Chance.

Es ist ein einziger Rausch aus Spiegel, nichts weiter. Die Stadt, das Land, der Planet, das Sonnensystem, die Galaxie und das Universum sind Spiegel eines selbst. Niemand ist da, man sieht nur sich, kein Ich und kein Du, keine Menschen nur die Schatten unendlicher Spiegelungen. In den Fotofix Maschinen auf den U-Bahnhöfen, in den Linsen der Kameras, in den Fenstern der U-Bahnen, der Züge, der Autos, der Flugzeuge, in den Schaufenstern der Geschäfte, in den Fensterscheiben der Häuser, in den Wohnungen, in den Büros, in der Aluminium Folie mit dem Essen, im Wasser der Badewanne, im neuen Teich im Tiergarten, im Tegeler See, in der Havel in der Nordsee und im Atlantik, sind überall Spiegel. Diese Spiegel sind offen. Sie spiegeln was sich in einem Spiegel spiegelt der sich in einem Spiegel spiegelt. Dann sind da versteckt und nicht leicht zu erkennen die blinden Spiegel. Alle soliden Gegenstände die gesehen werden sind dieser Art. Sie spiegeln selber nicht, bestehen aber nur aus ihrem Abbild im Auge. Auch die Augen selber, als Instrumente des Sehens, sind blinde Spiegel. Sie sehen nichts außer den Spiegelung des Sehens. Da ist kein Seher und kein Gesehenes in der Welt nur die Reflexionen des Sehens blinder Spiegel. Auch die Ausdrücke, die Haltungen und die Bewegungen sind Spiegelungen. Sobald diese Abbilder sich einander nähern beginnen sie zu tanzen, zu springen, vor und zurück zu gleiten und sich im Spiegel Spiel zu verformen. Wenn die Begegnungen der Spiegelung einen gewissen Grad an Nähe überschreiten so biegen sie die Spiegel und brechen am Ende. In der Liebe kommt das Spiegelspiel zu seiner Vollendung. Der Begriff hierfür ist Pathie oder Kasimier Effekt. Die Spiegel ziehen sich an berühren sich und sind in diesem Moment in der Sprache selbst. Ein Echo der Wörter wirft das Echo anderer Wörter zurück. Nun sieht man sich nicht nur, man hört sich. Und manchmal wird sogar gefühlt. In dieser Spiegelung lebt Mann/Frau, Es eingeschlossen. Was ist hinter den Spiegeln? Ist da überhaupt etwas unter der Spiegelglocke das es wissen wollen kann? In Texten, der fest gewordenen Form der Spiegelung, könnte möglicherweise etwas entspiegelt werden. Was geschieht, in der Erörterung der Dinge, sollte einer der vielen Spiegel zerschlagen werden. Es erscheint nicht möglich zu sein diese Frage im theoretischen Diskurs zu beantworten. Es bleibt nur es geschehen zu lassen. Eine Hand streichelt mit empfindlichen Fingerspitzen sanft ihr Abbild. Ein Handballen wird zart gegen das Spiegelbild eines Handballens gedrückt. Der Druck wird bald suchend, bald verzweifelt erhöht. Ein Körper wölbt sich seiner Projektion entgegen, schmiegt sich an diese, drückt sie, suchend, nicht findend. Geschlecht wird am Spiegel gerieben, ohne Befriedigung zu erfahren. Desto näher ein Körper dem Spiegel kommt, desto weniger wird er gesehen. Dann tritt etwas, das nun nur noch Abgrund spiegelt, zurück. Eine Hand wird gehoben, Muskeln werden mit aller Kraft angespannt, eine Faust wird aus Fingern gebildet. Die Hand nähert sich mit wachsender Beschleunigung einem Spiegel. Die Oberfläche des Spiegels wird von den Knochen der Hand zersplittert. Die Splitter des Spiegels bohren sich in das Gewebe der Hand und zerschneiden es. Die Hand durchdringt kaum gebremst den Spiegel. Die Kanten und Ecken des zerschlagenen Spiegels reißen einen Unterarm auf. Sie dringen tiefer und tiefer unter die Haut und ins Fleisch hinein. Blut fließt in Strömen aus durchtrennten Arterien und färbt die Spiegelsplitter hell rot. Durch die Kraft des Schlages drückt sich eine Spiegelspitze nachhaltig in die Haupt- Arterie des Arms und schneidet sie, mit der Bewegung des Arms durch den Spiegel, längsseits auf. Blut sprudelt mit jedem Schlag eines Herzens aus einem Arm. Ein Körper und seine Spiegelung werden mit verspritztem Blut getränkt. Die Bewegung des Armes kommt zu erliegen, ein Körper wankt vor und zurück, Augen starren weiter in ihr blutiges Spiegelbild. Dann brechen auch sie, der Körper schwankt, fällt rücklings weg von einem zerschlagenen Spiegel auf den Boden. Etwas blutet auf dem Boden des Spiegelkabinetts, von Splittern übersäht, aus. Was bleibt ist ein Loch im Spiegel. Hinter dem Loch in der Leere, in der Dunkelheit, in der Kälte und in der Stille blüht sehr einsam ein einzelner weißer Krokus.

„Hier Echo aus ihrer Höhle.“ „Hier ist Liriope, die Mutter von Narziss.“ „Narziss!!!“ „Er ist Tod.“ „Tod.“ „Sie haben ihn gekannt?“ „Gekannt, nein ich habe ihn nicht gekannt.“ „Aber ich habe ihre Nummer gefunden, in der Tasche seiner Hose.“ „Seine Hose, ich habe ihn getroffen, er war verschwunden, damals schon“ „Sie haben ihn geliebt?“ „Geliebt, ja das habe ich.“ „Was war mit ihm.“ „Er konnte mich nicht sehen, er wollte es, aber er konnte es nicht. Er konnte immer nur sich sehen.“ „In den Spiegeln?“ „In den Spiegel und überall sonst“ „Hätte er sich nie erkannt“ „Erkannt....“ „Ihnen geht es schlecht. Sie hören sich sehr schwach und ganz leise an“ „Sie sind seine Mutter, aber ich kann nicht ohne ihn leben.“ „Leben, glauben sie ich kann es?“ „Nein.“ „Darf ich zu ihnen kommen“ „Zu mir kommen.“ „Geben sie mir ihre Adresse, ich komme vorbei.“ „Soldienerstraße 71, zweiter Hinterhof, ganz oben“ „Sie warten auf mich, versprochen“ „Versprochen.“

Ich habe Narziss nach dem Fest bei Liriope nicht lebend wieder gesehen. Ein halbes Jahr nach unserem Zusammentreffen rief Liriope mich an. Sie war am Telefon vollkommen aufgelöst, und wiederholte immer wieder unter Tränen: „Er hat sich selbst erkannt.“ Ich versuchte sie, so gut es ging, zu beruhigen und zu erfahren was geschehen war. Ich musste lange warten, bis sie über die Vorfälle berichten konnte. Narziss hatte sich von Liriope und allen anderen Menschen zurückgezogen. Er verließ nicht einmal mehr sein Zimmer in der Villa seiner Mutter. Zumeist schloss er sich ein und wenn Liriope vor seiner Tür laut rufend fragte was mit ihm sei, erhielt sie keine Antwort. Nur in der Nacht verließ er manchmal sein Zimmer und ging in die Küche um sich etwas zu trinken und zu essen zu nehmen. Er verschwand dann sofort wieder. Liriope sagte mir, Narziss sei nicht mehr als ein Geist in ihrem Haus gewesen. Wenn sie Narziss in der Nacht im Flur oder in der Küche abpasste, war er in keiner Art zugänglich. Er glitt an ihr vorbei, antwortete auf ihre Fragen nicht und war so schnell verschwunden, wie ein Schatten auf den Licht fällt. Vor zwei Tagen fand Liriope Narziss Zimmer offen, er hatte wohl vergessen sich einzuschließen. Liriope nutzte die Gelegenheit und trat für kurze Zeit in seine Welt. Narziss hatte das Zimmer vollkommen umgeräumt. Das Bett, der Schrank, der Schreibtisch und alle anderen Einrichtungsgegenstände standen übereinander gestapelt, mit Bettzeug verhängt, in einer Ecke des Zimmers. Nur der mannshohe, breite Spiegel stand an eine Wand gelehnt. Vor dem Spiegel fand Liriope, Narziss ohne eine Unterlage auf dem Boden sitzend. Er wandte seinen Blick nicht zu ihr, als sie den Raum betrat. Er betrachtete weiterhin starr sein Spiegelbild. Liriope trat hinter Narziss und streichelte über seine ungewaschenen Haare. Er zuckte zusammen, sah seine Mutter aber immer noch nicht. Was nun geschah, sei nur ihr Fehler gewesen meinte Liriope von Schulgefühlen heimgesucht zu mir. Sie ergriff den Kopf ihres Sohnes und versuchte ihn mit Gewalt in ihre Richtung zu drehen. Sie schrie ihn an, „Schau mich an. Schau mich an. Schau mich an.“ Narziss begann sich schweigend zu wehren. Er hatte seine Mutter bald im Griff und drängte sie zeihend und schiebend zu Tür hinaus. Nachdem er sie auf den Boden des Flurs gestoßen hatte, schlug er die Tür des Raumes behände zu und schloss hinter sich ab. Das war das letzte mal das Liriope den Narziss lebend sah. Er kam nicht mehr aus dem Zimmer heraus und Liriope wusste nicht was mit ihrem Sohn zu tun sei. Sie wartet darauf das er irgendwann von Hunger und Durst getrieben das Zimmer verlassen würde. Am Abend des Tages nach ihrer Handgreiflichkeit hörte Liriope ein lautes Klirren aus Narziss Zimmer. Als sie das Geräusch des zerbrechenden Spiegels vernahm, sprang sie auf und lief hinauf. Sie versuchte die Tür des Zimmers einzutreten, aber es gelang ihr nicht. Ihr fehlte hierzu die Kraft, wie sie mir sagte. Dann lief sie in Panik hinunter in den Garten, durchwühlte den Geräteschuppen, fand eine Axt und rannte wieder hinauf. Mit vielen Schlägen der Axt konnte sie die Tür des Zimmers öffnen. Sie brauchte nur viel zu lange, wie sie bemerken sollte. Als sie in den Raum trat war es bereits zu spät. Narziss lag in seinem Blut auf dem Boden, sein Herz hatte schon geraume Zeit den Dienst versagt. Liriope sah, das Narziss mit seinem linken Arm den Spiegel zerschlagen hatte. Ein großer Splitter des Spiegels hatte die Hauptschlagader des Armes durchtrennt. Narziss war verblutet, ihm war nicht mehr zu helfen. An dieser Stelle brach Liriopes Rede ab, sie legte den Hörer des Telefons auf. Ich ließ der Mutter in ihrem Schmerz um den Sohn eine halbe Stunde Zeit. Dann rief ich sie an. Als sie sich meldete hörte ich deutlich, dass sie ausgiebig geweint hatte. Stück für Stück kehrte ihre Beherrschung in unserem Gespräch zurück. Wir sprachen lange darüber ob Narziss Tod ein Unglücksfall oder Selbstmord sei. Wir fragten uns nach den Motiven für sein Verhalten. Warum hatte er den Spiegel zerschlagen müssen, was ging in seiner armen gequälte Seele vor sich? Ich kann heute nicht anders als alle meine verständnisvollen und klugen Worte im Gespräch mit Liriope zurückzunehmen. Ich verstehe nicht, warum geschah, was geschah. Auch nach seinem Tod bleibt mir Narziss, trotz meiner Liebe zu seiner Schönheit, fremd. Vielleicht war es einer Frau vergönnt Narziss, einige Monate vor seinem Tod, wirklich nah zu kommen und ihn zu verstehen. Liriope scheint dies zu glauben, ich glaube es nicht. Liriope berichtet mir, dass sie seit Narziss Tod mit einer jungen Frau namens Echo zusammenlebe. Echo hatte sich, wie Liriope mir sagte, unsterblich in Narziss verliebt. Selbstredend musste ihre Liebe zu Narziis unerfüllt bleiben. Wie ich von Liriope erfuhr hat er sie nur ein einziges mal erkannt, bevor er aus der Welt schied. Dies gibt mir keinen Trost, auch wenn es die Mutter trösten mag. Mir bleibt nur Liriope mein aufrichtiges Beileid aussprechen und sie zur Beerdigung ihre Sohnes zu begleiten.

Wir sind zur Beerding des Narziss eingeladen. Überraschen kann uns dies nicht. Von Narziss war nicht viel zu wollen. Mache ahnten was mit ihm Geschen musste. Wir trauern. Uns wird vom Narziss Nichts bleiben. Nur eine Erinnerung. Erringrungen vergehen. Wir gehen zur Beerdigung. Das ist es gut. Es ist gut so.

Weit unter mir hängen dunkele dichte Wolken über der Stadt und über dem Land. Noch bin ich anwesend, bevor meine Abwesenheit legende und eines Tages vergessen wird. Ich nähere mich den aufgetürmten Wolkenbergen, tauche in sie ein und durchquere sie, nun ganz bei mir. Der regen der fällt wird kalt sein. Ich sehe die Menschen in der Stadt frieren. Ich spüre, Gott sei dank nichts mehr, mir ist weder warm noch kalt weder wohl noch übel und ich habe keine Angst, nein keine Angst. Ich suche nur noch dass Eine, das Letzte, mein Grab. Ich fliege durch die Häuserfluchten über Strassen und Plätze, immer ein Stück über den Menschen. Dann finde ich mich in den Baumkronen eines Friedhofs im Zentrum der Stadt wieder. Unter mir liegt mein Grab im Nieselregen. Das Loch im Boden ist bereitet der Stein bereits angefertigt. „Hier ruht unser geliebter Narziss“ wurde in den Stein gehauen. Nur der Sarg, der die Überreste meiner zerschlagenen Leibhaftigkeit enthält, fehlt an diesem Ort noch. Ich komme wohl grade im rechten Moment zu meiner Beerdingung. Dort naht der Leichenzug. Meine Übereste sind, wie ich sehe, in einem massiven gut gerüsteten Eichensarg aufbewahrt. Die Träger wirken stark genug um dass Gebein nicht vor der Zeit dem Boden zu überantworten. Hinter dem Sarg geht die Frau die mein Gebein in die Welt geworfen hat. Neben ihre geht eine jüngere Frau. Mein Gebein mit seiner schönen Hülle hat diesen Beiden Gefühle gemacht. Die beiden Frauen berühren sich heute ganz leicht mit den Fingerkuppen ihre Hände. Hinter den beiden Frauen torkelt der alte halb-blinde Seher. Dahinter findet sich die Schar der Freundinnen der hinter dem Sarg Gehenden. Den Abschluss bildet eine Gruppe jüngere Menschen die meinten mit mir bekannt, vielleicht gar noch befreundet, gewesen zu sein. Nun kann ich die Menschen sehen, die ich lange Zeit nicht sehen konnte und nie wieder sehen werde. In mir bleibt nichts, kein Gefühl zu den Menschen will sich einstellen. Keiner dieser Mensch sah mich. Geben wir uns keinen Illusionen hin, sie sahen nur eine Oberfläche, alles weitere war ihr eigener Wahn. Meine Wahrheit ist hier in diesen Zeilen. Der Sarg mit meinem Gebein hat sein Ziel erreicht, er wird in die feuchte Grube gelassen. Ein Priester taucht aus dem Regenschleier auf, spricht offensichtlich äußerst unwillig einige Worte und verschwindet wieder. Er weiß dass ich der Menschheit, in dem ich den Spiegel zerschlug, die Illusion raube dass ein Leben wert hat. Er wird wohl froh sein wieder in das Haus seine Gottes zurückzukehren. Liriope, Echo, Kalchas und die Nymphe weinen an meinem Grab um mein Leben. Mich betrifft dies nicht. So wie der Chor betrachtet ich die Szene abschließend interessiert. Asche, Staub und ein einzelner weißer Krokus werden auf meinen feuchten Sarg ins Grab geworfen. Der Regen fällt weiter. Erde über all dies. Damit darf ich gehen.

Das war es also. Narziss ist nicht mehr. Nein nicht mehr. Er wird uns nicht mehr begleiten. Er geht dahin. Er ist da. Wir nicht. Lasst uns sehen wohin wir kommen. Jeder Zug ist besser als dieser kalte Regen. Wir setzten das Spiel fort. Zurück in das trocken Labyrinth. Bis Sie uns haben. Bis zum Ende
 



 
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