Nebelwelt

putorius

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Wo steckten die nur? Das wendige Raupenfahrzeug suchte sich selbständig seinen Weg durch ein verwachsenes Unterholz, das der dichte Nebel zu einem weißen Käfig machte. Mit zwei Aluminium-Ohren lauschte die Raupe durch das Dickicht. Die so gesammelten Informationen verwandelte ihr Gehirn in eine grob auflösende Karte, die auf dem zentralen Monitor im Cockpit angezeigt wurde. Xenobiologe Ray McConroy verfolgte jedes neue Aufblitzen mit alarmiertem Interesse, aber noch zeichnete nichts von dem ab, das er seit mehr als einer Woche verzweifelt suchte: Spuren der vor zwei Wochen verschwundenen North-Hill-Expedition. Ein Elektromotor erwachte summend zum Leben, und Ray schaute instinktiv zum runden Bullauge auf, das vorne einen begrenzten Blick auf den Urwald erlaubte. Das Geräusch gehörte zu dem Galanium-Hochenergielaser, der immer dann aktiv wurde, wenn sich Gefahr näherte oder wenn zu dichtes Buschwerk ein Weiterkommen verhinderte. Der hauchdünne Lichtfaden zuckte zwischen zwei Bäumen hin und her, wobei er sich gleichzeitig langsam zum Boden senkte. Zwei drei Aussetzer irritierten Ray zwar, aber das Ergebnis war dennoch befriedigend: Grauer Rauch an der Stelle, wo zuvor noch ein stattlicher Busch gestanden hatte. Dreimaliges Piepsen vom Radar; Zielgebiet erreicht, Geschwindigkeit auf null. „Verflucht! Von hier, aus diesem Gebiet, kam doch der letzte Funkspruch. Wo sind die?"
„Hast du was gesagt, Ray?" Der Vorhang schob sich zur Seite, der den hinteren Bereich der engen Raupe abtrennte. Durch die entstandene Öffnung zwängte sich der Techniker der Mission. Er trug ein altes T-Shirt und sein Name war John oder Frank - Ray wusste ihn nicht mehr und es war ihm auch egal.
„Eigentlich nicht. Wir sind im Zielgebiet, aber noch keine Spur in Sicht."
Der Techniker gähnte ausgiebig, und der Vorhang glitt wieder über die Öffnung und Ray fragte sich, wie ein Mensch bei diesem Geschaukel überhaupt in der Lage war, zu schlafen. Für Ray gab es Arbeit, sodass er diesen Gedanken vertreiben musste. Die Neuprogrammierung des Navigationscomputers stand an. Dazu studierte der Xenobiologe die von der Raupe neu gesammelten Daten, verglich sie mit alten Karten und musste feststellen, dass in dieser Region noch niemand gewesen war. Daher setzte Ray einen 10° Korridor in verlängerter Richtung der bisher zurückgelegten Strecke. Aber bevor er den neuen Kurs durch Knopfdruck bestätigte, warf er noch einen beklemmten Blick aus dem Bullauge. Nebel reduzierte die Sicht auf etwa 15 Meter, nach denen die üppige Vegetation im weißen Nichts blass verging. Hewila-Soror hatte noch den Status „Unbesiedelt". Auf diesem neuen Außenposten der Menschheit gab es nur einige Wissenschaftler, die in einer provisorischen Mischung aus Container-Camp und Landefeld hausten. Ein defekter Erkundungs-Satellit kreiste als teurer Klumpen Metallschrott um den Planet; ein nutzloser Zeuge wissenschaftlich optimierter Rotstiftpolitik. An beweglicher Ausrüstung gab es nur zwei Bagger und zwei Raupen, von denen die größere seit zwei Wochen verschollen war. Hier in diesem Gebiet. Es war hier so still. Ruhig. Bewegungslos. Kaum ein Windhauch bog die faserigen Farne. Seit seiner Ankunft auf diesem Planeten hatte er noch kein Tier gesehen, keinen Vogel singen hören; es bot sich eine Welt, in ewigen Nebel getaucht wie flüssige Watte. Ray schluckte bei dem Gedanken, dass der Wald lauerte wie ein Raubtier, das seine Zähne und Klauen nur noch nicht gezeigt haben könnte.
Alarmton. Fünfach an- und abschwellendes Piepsen. Ray zog die Hand erschreckt zurück, die noch immer über dem Kursknopf verharrt war. Noch bevor Ray die Quelle dieses Radaus ausmachen konnte, war der Techniker in ungewohnt artistischer Manier nach vorne ins Cockpit gekrabbelt, in dem es schon für einen einzigen Menschen eng war. Er bediente blind einige der Kontrollen, und der Alarm erstarb. Der Techniker deutete ausdruckslos auf einen kleinen Monitor, auf dem eine Art flaches Balkendiagramm zu sehen war. Einige der Balken waren jedoch deutlich höher. „Der Spektrometer-Radar. Schwaches Signal von Wolfram, Nysyl, Plastikkomponenten. Daraus besteht eine Grizzly-Raupe". Er sah zu Ray und seine schwarzen Augen funkelten. „Wir haben sie gefunden. Keine hundert Meter voraus."
Ray nickte, zog den Reißverschluss seines leichten Schutzanzuges bis unter den Hals zu und kramte die Atemmaske aus einem Staufach hervor. Er befestigte sie an einer dafür vorgesehenen Schulterschlaufe und entriegelte die Seitenluke, die beim Öffnungsversuch etwas klemmte. Dann sprang sie mit einem metallenen Knallen nach außen auf und vorsichtig streckte er den Kopf ins Freie, um sich umzusehen. Weißes Nichts. Ray kletterte er über die Eisenleiter gut zwei Meter zum Waldboden hinab, der unter den Tritten des Xenobiologen weich federte. Nun erschien der Techniker oben in der Luke und warf zu ihm nacheinander zwei Revolver herab, die Ray sicher fing.
„Willst du nicht besser den Schutzanzug anlegen?"
Der Techniker winkte ab. „Sieh dich um, Ray. Hier ist es weicher und ungefährlicher als in einer Gummizelle."
Ray gestattete sich mit gemischtem Gefühl einen Rundumblick. „Damit magst du zwar recht haben, aber irgend etwas stimmt hier nicht."
„Dann stimmt mit dem ganzen Planeten etwas nicht." Er warf die Arme auseinander. „Der ist überall so."
„ Zumindest soweit wir das bis jetzt wissen. Also los. Suchen wir die Raupe."
Sie gingen langsam und geduckt. Alles war weich. Was nicht vom dünnen blassgrünen Gras bewachsen war, wurde von einem beinahe weißen Moos überwuchert. Steine, Stämme und Wurzeln wirkten so, als ob man sie mit Weihnachtsbaum-Spray überpudert hätte. Mit jedem Schritt legte Ray seine Angst ab und mehr und mehr verwandelte sich das weiße Gefängnis in eine faszinierende Welt, voll mit neuen Eindrücken.
Dann löste sich ein grauer Schatten aus dem Nebel. Die Form war mit ihren vier Mann hohen Reifen und dem zweigliedrigen zigarrenförmigen Rumpf klar als die Grizzly-Raupe zu erkennen. Ray stieß einen Freudenschrei aus. Die Raupe war größer als die „Pfadfinder" und bot Platz für bis zu sechs Personen. Entgegen Rays Erwartung hatte sie sich aber nirgends festgefahren, sondern stand mitten auf einer Art Lichtung. Es erinnerte an ein Fahrzeug, das an einen Roten Ampel hielt, und dieses Gedankenbild gefiel Ray nicht. Der Techniker aber kletterte ohne zu zögern die Leiter hinauf und verschwand im Inneren.
Warum stand die Raupe hier? Sie wirkte intakt und nichts deutete auf einen Kampf hin. Und überhaupt: Wo war die Mannschaft? Hätten sie nicht vor der Raupe ein Lager aufgeschlagen?
„Ray komm rauf! Sieh dir das an?"
Ray erschrak vor der aufgeregten Stimme seines Kollegen. „Ich komme." Der Xenobiologe kletterte die schlüpfrig nasse Leiter hoch und zwängte sich durch die Luke ins Innere. Der Techniker hockte vorne im Pilotensessel und starrte nach vorne durch das große Bullauge. Hier gab es nichts zu sehen außer einer völlig intakten Raupe. „Was ist denn?"
Der Techniker deutete nach vorne. „Siehst du das Bullauge?"
„Klar!"
„Toll. Ich nämlich nicht."
Ray legte den Kopf schief. „ ... Was ? ..." er beugte sich vor und streckte langsam die Hand aus. Sie griff ins Leere, die Glasscheibe war nicht da. „Und? Man hat sie nach außen getreten. Das ist der Notausstieg."
„Dann wirf einen Blick auf die Armaturen."
Ray besah sich die Anzeigen. Die Monitore waren vom Kondenswasser eingetrübt und mit einem dünnen schwarzen Schmierfilm überzogen.
Der Techniker seufzte. „Bevor du fragst, Ray: Dieses Modell hat Glasabdeckungen über den Instrumenten."
John (oder Frank) hatte recht. Ray fuhr mit dem Fingern den Rahmen des Bullauges ab und sein Finger färbte sich schwarz. Er griff unter die Armaturen und zog mit einem kräftigen Ruck einen Kabelstrang vor. Aus den Enden tropfte dieselbe zähe Flüssigkeit. „Glasfaser-Kabel. Alles Glas an Bord hat sich zersetzt." Ray warf den Kabelstrang achtlos weg. „Was ist hier los?"
„Kann ich nicht sagen, Chef. Aber ich schlage vor, wir sehen zu, dass wir zurück zu unserer Raupe kommen. Wir checken zuerst die Glasteile bevor wir weiter nach der verschollenen Besatzung suchen." Ray nickte und sie schlüpften rasch aus der Raupe, um sich auf den Rückweg zu machen. Sie legten die Strecke im Laufschritt zurück, aber schon nach etwa der Hälfte gab es einen Zwischenfall: der Techniker schrie laut auf, sein Schrei war schneidend und wurde von einem hart knallenden Schuss begleitet, der mit schwachem Echo verhallte. Der Xenobiologe zuckte zusammen und sah sich nach seinem Begleiter um. Die Waffe lag dampfend im Moos, und Frank (oder John) hielt sich fluchend die linke Schulter. „Mist! Mich hat was gebissen!"
Mit ein paar Sätzen war Ray bei dem Techniker. „Zeig mal. Womöglich bist du verwundet."
Der gebissene zog die Hand zurück und tatsächlich konnte man zunächst nichts auf seinem blanken Oberarm erkennen, dann aber keuchten beide Männer laut auf. Zwischen Handwurzel und Oberarm sickerten langsam kleine hellrote Tröpfchen durch die Haut. Aber diese waren nicht willkürlich verteilt sondern bildeten ein regelrechtes Punktgitter mit einem Rasterabstand von einem Zentimeter. „Was zum Teufel ist das?" Der Techniker wischte mit der Hand darüber, als könne er dadurch das Problem lösen. Das Ergebnis war, dass nun sein ganzer Arm verschmiert war.
„Wie sah das Vieh denn aus?"
„Ich weiß es nicht. Sah aus wie eine Wassersäule, aber viel durchsichtiger. Kann auch Einbildung gewesen sein."
„So wie die Wunde? Los. Auf zum Pfadfinder. Wenn wir irgendwo Schutz finden, dann noch am ehesten dort."
Der Techniker nickte zustimmend und sie liefen los, so schnell sie konnten. Sie erreichten die Raupe problemlos. Die Wunde war angeblich nicht sehr schmerzhaft, aber sie juckte stark. Trotzdem war der Techniker der erste, der die Leiter hinauf kletterte. Die Luke klemmte nach wie vor. Ein winziger schwarzer Tropfen fiel zur Erde und Rays Magen zog sich zu einem Murmel großen Klumpen zusammen. Die Stimme des Technikers drang blechern aus dem Bauch der Raupe. „Mist! Verdammt. Alles löst sich auf und die Dreckskiste springt nicht an!"
Rays Blick wanderte bleiern vor zum Galaniumlaser. Auch aus ihm tropfte die schwarze Flüssigkeit. Die Erregungsröhre hatte sich auch zersetzt. Es blieben ihnen also nur noch 11 Schuß aus dem Revolver. Eine flücjtige Bewegung in Rays Augenwinkel ließ ihn herumwirbeln. Seine Augen weiteten sich beim Anblick, der sich ihm bot. Er wusste nun, was seinen Techniker verwundet hatte. Die lauernde Bestie hatte sich offenbart.



OSID-Bericht 94/4-309, Kolonisierungsprogramm Hewila-Soror (Nebelwelt), 23.08.309, standardisierter iridianischer Zeitrechnung (SIZ). Laborbericht der durch die United-Universe angeratenen Untersuchung der noch nicht spezifizierten Lebensform „Schwarze Amöbe" unter der Leitung von Prof. Dr. Ingler:
„Nach den uns vorliegenden Erkenntnissen handelt es sich um eine mit den auf der Erde lebenden Sarcodinen vergleichbare Art, die jedoch völlig undurchsichtig und schwarz ist. Ein exaktes Studium des inneren Aufbaus war bislang noch nicht möglich. Durch Spektralanalysen konnte ein enorm hoher Anteil an Silikatverbindungen nachgewiesen werden, Giftstoffe fehlen. Daher wird diese Art als „unbedenklich" unter dem Namen „Amoeba nigra ingleriens HEW" im Artenbuch Hewila Soror eingetragen. Gez.: Prof. Dr. Ingler, 23.08.309 SIZ"
 

jon

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Schade. Alles in allem liest sich der Text recht spannend und bedarf nur weniger kosmetischer Eingriffe – nur der Schluss ist irgendwie "falsch"…

„Seine Augen weiteten sich beim Anblick, der sich ihm bot. Er wusste nun, was seinen Techniker verwundet hatte. Die lauernde Bestie hatte sich offenbart.“
…hier angekommen, erwartet man, dass nun der Roman losgeht. Was sieht der Mann, dass sich seine Augen (Schreckerfüllt?) weiten? Was sieht er, dass er plötzlich weiß, wer den Kollegen verletzte? Was ist an dem, was immer er da sieht, bestialisch? – in dem erwarteten Roman müsste erzählt werden, wie Ray der Bestie (welcher?) zum ersten Mal begegnet, wie er sie unfreiwillig genau kennen lernt. Nur so ist zu erklären, dass er mit einem Blick sofort alles weiß – was es ist und dass es eine "Bestie" ist.

Völlig daneben ist die angehängte Erklärung:
Wenn die "Schwarze Amöbe" eine den irdischen soundso ähnelnde Art ist, IST sie als Art (=Spezies) spezifiziert. Was immer Sarcodinen sind (entschuldige: Nichts am Text macht mich so neugierig, dass ich deshalb Biobücher wälzen würde.) – woher wissen die Leute, dass die "Schwarze Amöbe" ihnen ähnelt, wenn sie nichts als die äußere Form und EINE Komponente von ihr haben? Und: Das bloße Fehlen von Giftstoffen (so dieses überhaupt möglich ist) macht eine Lebensform nicht automatisch "unbedenklich" – ein Löwe ist auch nicht wegen eventueller Giftstoffe gefährlich und ein Viech, das Technik zersetzt, kannn auch nicht wirklich "unbedenklich" sein.
Am unpassendensten aber ist, dass DIES (ein wenn auch schwarzes Amöblein) die Bestie sein soll, vor der es Ray so ensetzlich graust…
 

putorius

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hallo und danke für die kritische Stellungnahme.

Vorneweg: Dieser seltsame Lexikonauszug ist ein Relikt aus der Ur(alt)fassung der Geschichte und stand damals sogar ganz am Anfang. Sie hieß auch nicht "Nebelwelt" sondern "Die Schwarze Amöbe", aber genug davon.

Natürlich hat kein Mensch Angst vor kleinen Einzellern - zumindest nicht direkt. Diese kleinen Biester in "Nebelwelt" fressen ja nur Silikate, und von denen gibt es im menschlichen Körper zum Glück nicht ganz so viel. Ausrüstung können sie aber recht effektiv lahmlegen.

Zur "Bestie":
Hiermit ist natürlich das seltsame Ding gemeint, das den Techniker gegen Ende so übel zugerichtet hat.

("... der Techniker schrie laut auf, sein Schrei war schneidend und wurde von einem hart knallenden Schuss begleitet, der mit schwachem Echo verhallte. Der Xenobiologe zuckte zusammen und sah sich nach seinem Begleiter um. Die Waffe lag dampfend im Moos, und Frank (oder John) hielt sich fluchend die linke Schulter. „Mist! Mich hat was gebissen! ...")

Worum es sich dabei im Detail handelt, will ich an dieser Stelle noch nicht verraten, weil ich momentan an einer Art Fortsetzung von "Nebelwelt" deren Handlung einige Monate später angesiedelt ist, aber keinen direkten Bezug auf "Nebewelt" nimmt.
 

jon

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Teammitglied
…mir ist schon klar, dass er die Amöbe sieht. Nur: Was ist an deren Anblick so grausig, dass ihm der Begriff „Bestie“ in den Kopf kommt?
 

putorius

Mitglied
das genaue Aussehen des "Dings" wollte ich in dieser Geschichte gar nicht schildern und somit der Phantasie des Lesers überlassen.

Aber ich könnte einen "alternativen" Schluß entwickeln, damit man vergleichen kann, was besser rüberkommt.
 



 
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