Neudeutsch

4,00 Stern(e) 1 Stimme
Das Experiment

Es war schon immer mein Traum, ein Wort in die Welt zu setzen, das Eingang in den deutschen Wortschatz findet. Mein Wort im Duden! Sooft ich aber ein Wort erfand oder auch nur eine neue Schreibweise kreierte – die Redakteure machten mir einen Strich durch die Rechnung. Meine Texte kamen an, die neuen Wörter mussten vorher aussteigen.
Wie beneidete ich denjenigen, dem es gelang, das Handy den Deutschen zu schenken! Und erst denjenigen, der mit dem Airbag die ganze Welt beglückte! Selbst vor dem Erfinder des ostdeutschen Intershop hätte ich mich tief verbeugt.
Woher der Erfolg dieser Wörter? Wie musste der Geist strukturiert sein, der sie erfand? Wie gelangt man schnell und sicher zu einem neuen Wort, das von der Öffentlichkeit sofort aufgegriffen wird? So sehr ich die einschlägigen Wissenschaften abfragte, ich bekam keine Antwort. Also musste ich mal wieder meine intuitive Analytik bemühen, eine kräftezehrende Prozedur. Dazu versetzte ich mich in Trance, um dann zu deduzieren. Nachdem ich aufwachte, wurde das Deduktionsergebnis zu meinem ständigen Tag- und Nachtbegleiter. Und zwar in Form dieser Merksätze:

1. Das Wort darf in noch keinem Wörterbuch stehen.
2. Es darf nicht aus dem Deutschen kommen noch darf es an ein deutsches Wort erinnern.
3. Es muss seine Wurzeln im Englischen haben.
4. Es muss den Eindruck erwecken, aus dem amerikanischen Englisch zu kommen.
5. Es sollte nach freien Rechtschreibregeln geschrieben werden.
6. Es sollte möglichst viele ä-Laute enthalten.
7. Es muss zusammen mit seinem Produkt, für das es steht, in einer Großkampagne in Umlauf gebracht werden.
8. Es darf nicht bis auf die Person oder Personengruppe zurückverfolgt werden, die es erschaffen hat.

Bald schon führte mein täglich Denken und Trachten nach diesen acht Geboten zu einem Ergebnis. Ich hatte das Wort! Es hieß Shortballad.
Mein Wort erfüllte alle Bedingungen. Frappierend seine Assoziation zur amerikanischen Short Story! Wegen des letzten Punktes, der mir ziemlich missfiel, entschloss ich mich zur Anonymität. Ich werde mich o.V. nennen, also „ohne Verfasserangabe“. Hauptsache, mein Wort nimmt seinen Lauf. Nun musste es nur noch kampagnemäßig angeschoben werden.
Ich stellte es einem Sechszeiler aus meiner Sprücheküche voran, für den mir noch kein Titel eingefallen war:


Shortballad vom klasse Arzt

Wenn alle sich für dich erwärmen
und die Patienten von dir schwärmen,
bist du als Arzt ein klasse Mann –
der sich davon nichts kaufen kann.
Denn leider klappt es viel zu selten,
dass alle sich für dich erkälten.

Ich schickte den Sechszeiler an zehn Tageszeitungen, zwei Humorblätter und ein Unterhaltungsmagazin. Schon vier Tage später erschien der Spruch in meiner Heimatzeitung. Zu meiner großen Enttäuschung aber unter „Spruch fürs Wartezimmer“. Außer zweier redaktioneller Absagen hörte und las ich lange Zeit nichts mehr von meiner Kreation. Zwischendurch erhielt ich ein Belegexemplar des Vereinsblattes meiner Tochter, über das ich mich mehr ärgerte als freute. Denn die hatten mein Wort in Anführungszeichen gesetzt. Langsam vergaß ich die ganze Sache.
Dann traf der Brief vom Chefredakteur des überregionalen Boulevardblattes ein: Er gratulierte mir dazu, dass ich den literarisch-humoristischen Wettbewerb um die innovativste Spruchweisheit gewonnen hätte. Besondere Anerkennung zollte mir die Jury dafür, dass ich mich mit der Shortballad einer klassischen amerikanischen Form bedient und sie der deutschen Leserschaft nähergebracht hätte. Nochmals herzlichen Glückwunsch und einen Verrechnungsscheck über dreitausend Euro anbei!
In den darauffolgenden Tagen erhielt ich rund drei Dutzend Belegexemplare von Zeitungen und Zeitschriften, die den Spruch auf ihren Unterhaltungsseiten gebracht hatten. Einige von ihnen hatten solche Shortballads auch schon von ihren Hausautoren abgedruckt. Selbst im Radio trug man sie schon vor. Ich glaube, ich hörte es vom deutschen Kultursender StepandJump in Munich.
So war meine Shortballad bundesmedienweit zu einem Begriff geworden. Ich kann es kaum erwarten, die neue Auflage des Duden in der Hand zu halten.
 
S

suzah

Gast
hallo claus,
das hab ich mit vergnügen gelesen.

liebe grüße suzah
 



 
Oben Unten